freiVERS | Mark Monetha

Streifzug durch Athína

 

Das Ferne sieht er mit inniger Vertrautheit an

je ferner das Schiff am Hafen der Horizont

 

und auf steinerner Mauer

Jahrtausende Marmor

gestreifte Katze im Schatten bald

Füße im Staub, bald Nase

 

Hinten im Hof der Bleiwurz

gewachsen durch Fensterläden

Parterre ein alter Hellas

zugewachsen die Stirn

die Lippen am Krug

sitzt er da

 

Grün ist es, grau und pastell

entlang der Straßen

Orangenbäume in Frucht

dass sie fallen und platzen:

brechen in süßem Saft

 

Das Pflaster poliert

von Sohlen Dekaden

Gedanken Jahrhunderte

achtsamen Fußes

drei Stockwerke hoch

die Wandmalerei:

ein Mädchen mit Vorschlaghammer

 

Die Wäsche frisch

auf dem Balkon

vor grauen Läden: hier wird gelebt!

mit allen Gliedern

 

Fremde Füße im Park

darin Olivenbäume

in silbergrünem Glanz

und Rascheln im Strauch

 

Von den Hügeln das Meer

weißer Teppich, Mosaik,

die Häuser gelegt auf das Land

und das Meer voller Blau

voller Meer

 

so nah das Fremde das Ferne

dass es wandert schon

in den Glanz zweier Augen

 

dahinter

 

Mark Monetha

 

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freiTEXT | Tabea Baumann

Fünfzehn mal drei

Ich liebe dich

sage ich, und die Abwesenheit einer Antwort sagt mir alles. Ich nehme einen Schluck Tee, und verbrenne mir die Zunge, obwohl er schon seit Stunden in der Tasse ist.

Ich liebe dich

sagt sie, und küsst mich und für einen Moment bin ich König der unendlichen Weiten innerhalb einer Nussschale. Dann geht sie und die Nussschale schließt sich, wird wieder klein, bis ich mich nicht mehr bewegen kann und mir wünsche, eine Krähe würfe mich auf die Straße unter die Reifen eines silbernen Mercedes.

Ich liebe dich

brüllt er, und schlägt noch einmal zu, jede Silbe eingehämmert in die rötlichbräunlichgraue Masse, die einmal ein Gesicht war. Er weint dabei.

Ich liebe dich

tippt sie, und wartet darauf, dass die Ampel wieder grün wird. Sie schickt ein Herz-Emoji und fragt sich dabei, ob es ihrer Freundin auch aufgefallen ist, dass der Whatsapp-Feed nur aus Emojis und der Frage nach dem Abendessen besteht.

Ich liebe dich

flüstere ich, und denke dabei an eine andere.

Ich liebe dich

schneidet sie dem Baum in die Rinde, und verbringt dann den Rest des Tages damit, das Harz vom Messer zu kratzen. In zwei Jahren wird der Baum gefällt sein und ihre Freundin wird den Schlagzeuger geheiratet haben, über den sie sich gemeinsam lustig gemacht haben.

Ich liebe dich

denkst du, sagst es aber nicht, weil in jedem Paralleluniversum eine Version von dir existiert, die mutig ist, aber hier und jetzt gibt es nur dich.

Ich liebe dich

lacht er, und streichelt den Bauch seines Freundes, genau unter dem Nabel, wo seit einigen Wochen die ersten grauen Haare wachsen. Der Bauch ist weich und die Sonne lässt das Silber glitzern, als wäre es kostbar.

Ich liebe dich

keuchst du, und ich schaue an die Decke, die der Vormieter schlecht gestrichen hat und frage mich, warum es heute im Supermarkt keinen Fenchel gab.

Ich liebe dich

sagt der Mann am Nachbartisch zu seiner Tochter, vielleicht ist es aber auch seine Freundin. Sie lächelt ihn abwesend an und schraubt den Salzstreuer auf und zu, auf und zu, auf und zu.

Ich liebe dich

murmelt er, schon fast eingeschlafen, und wirft seinen Arm über dich, und du fühlst dich wie eine Eiche, die langsam vom Efeu erstickt wird. Dem Efeu vor dem Fenster ist das egal, der wächst weiter.

Ich liebe dich

sagt das Mädchen zu ihrer Freundin, die lacht und ihr ein Gänseblümchen in den Mund steckt, den bitteren grünen Stängel voran.

Ich liebe dich

gesteht der junge Mann der Barista, die ihn mitleidig ansieht und ihm seinen Kaffee in die Hand drückt. Er geht, und wirft den Becher vor der Tür in den Müll.

Ich liebe dich

sagt der Engel, und die alte Frau lächelt. Der Engel sieht aus wie ihr Mann, mit Flügeln aus Neonlicht.

Ich liebe dich

sage ich. „Ich dich auch“, sagst du.

 

Tabea Baumann

 

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freiVERS | Moritz Reiffers

Gletschermusik

Die aneinander vorbeistreichenden
Ineinander sich verschiebenden
Gegeneinanderschlagenden noch
Vom ewigen Schnee halb bedeckten
Schrillflächen des Gletschers schillern
Erstarrt im schnellen Licht. Kein Geräusch
Noch. Später
Zirpt wohl alles immer schon knirscht schnarrt
Schurrt und plätschert unsichtbar
Hinter uns her hoffnungslos
Langsam durch die ungeatmete Luft.

 

Moritz Reiffers

 

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freiTEXT | Simon Probst

Der Mensch verabschiedet sich aus dem Holozän

Ich forsche an einem Institut für Abschiede von einem alten Planeten. Um einen Eindruck von meiner Arbeit zu geben, erzähle ich am besten eine der Geschichten, die ich sammle: Am Dienstag, dem fünften September 2023, wird ein Sarg aus Eis von Trägern in schwarzer Kleidung, mit Bergschuhen und verspiegelten Brillen gegen die Höhensonne im schönen Sommerhimmel, am österreichischen Großglockner beigesetzt. Symbol für die Pasterze, Österreichs größten Gletscher, der hier zu Grabe getragen wird. Ein katholischer Bischofsvikar und eine evangelische Pfarrerin halten gemeinsam die Zeremonie auf der Franz-Josefs-Höhe ab. Begleitet werden sie von vier Blasmusikern. Die traurige Melodie legt sich wie traumhafte Blumengebilde um das Eis. Im Hintergrund steht schweigend eine Bergkette, schmutziges weißes Haar auf den alten Häuptern. Fast könnte man meinen, sie halten Hüte in den gefalteten Händen.

Da es sich hier um einen Bericht und kein Märchen handelt, liegt in dem fast gläsernen Sarg nicht Schneewittchen. Niemand schlummert darin und wird durch ein Stolpern wieder zum Leben erweckt. Dabei ist hier gutes Stolpergelände. Die Auferstehungschancen, im Märchen stünden sie gut. Doch der Sarg ist leer. Und leer heißt, dass dort im Eis, anders als im Gletscher, überhaupt kein Raum ist, in dem jemand liegen und die Zeit überdauern könnte. Folgerichtig gibt es auch kein Scharnier, keinen Deckel, nur die maschinell geformte Eismasse.

Tatsächlich ist noch niemand gestorben, zumindest nicht hier. Diese Beerdigung besiegelt den Todesfall nicht, eher kündigt sie ihn an. Die stolze Pasterze – man sieht sie hier von der Franz-Josefs-Höhe aus – ist geschrumpft, viele Meter jedes Jahr. Und Gletscher sind nicht für immer Gletscher. Wenn sie eine bestimmte Größe unterschreiten, wenn sie sich nicht mehr bewegen, wenn ihr Eis nicht mehr mit dem Rhythmus der Jahre pulsiert, sich ausdehnt und zusammenzieht, dann sind sie keine Gletscher mehr. So die wissenschaftliche Definition. Sie bestimmt, ob Eis lebt. Die Pasterze ist noch ein Gletscher. Die Beerdigung ist eine vorgezogene. Das Ritual soll aufrütteln, warnen, prophezeien.

Die Vorwegnahme des Abschieds begegnet mir überall. Oft auch unter anderen Vorzeichen. Für meine Mutter ist es das erste Jahr, in dem sie nicht mehr um die alte Erde trauert. Nach einer nicht enden wollenden Periode des Unglaubens, des Aufbegehrens, der Wut und Verzweiflung über die Wandlungen und Verluste in der Natur ist sie jetzt ruhiger. Sie sagt, sie hat getrauert und ihren Abschied genommen. Sie gesteht ein, dass ihr die Idee des Abschieds in diesem regenreichen Jahr leichter fällt. Seine Vorwegnahme ist keine Mahnung, sondern ein Abschließen. Möglicherweise eine Vorbereitung auf die kommende Erde.

Bis vor kurzem lagen die Folgen des menschengemachten Klimawandels scheinbar noch in einer fernen, fantastischen Zukunft. Jetzt liegen manche ihrer Verhängnisse schon in der Vergangenheit. Denken wir, es wäre möglich, mit den fortwährenden Verlusten fertigzuwerden, wenn wir sie in aller Form betrauern? Aber sind wir nicht in einen andauernden Abschied verwickelt und schwanken entsprechend zwischen überwältigenden Gefühlen, unangenehmer Berührung, Überdruss und dem Wunsch, mit dieser Peinlichkeit endlich abzuschließen?

Meine Forschung besteht in der konstanten Beobachtung des Abschiedszustands. Dafür muss ich ihm meine ganze Aufmerksamkeit schenken und gleichzeitig die ihn begleitenden Gefühle auf Abstand halten. Ich bin ein Archivar der Trauer, angestellt, um die Verluste zu dokumentieren und Berichte über den menschlichen Umgang mit diesen Verlusten zu verfassen. Diese Aufgabe verlangt Ausdauer und verbietet die Verausgabung in einem ekstatischen Moment. Katharsis wäre kontraproduktiv.

Betrachtet man über einen längeren Zeitraum die neuartigen Formeln und Rituale kollektiven Trauerns, stellt man fest: In unserer Kultur gibt es einen überaus ansehnlichen Abschiedskarneval. Kein Zweifel, dass wir uns von den Gletschern und dem polaren Eis verabschieden. Wir halten ihre letzten Reste auf Fotos fest, in Erzählungen, in Archiven. Seit mehr als zehn Jahren wird am 30. November ein internationaler Gedenktag für ausgestorbene Arten und Lebensräume begangen. Im Überfluss Denkmäler, Rituale, Trauergedichte, Verlustverzeichnisse, eine Erinnerungskultur mit dem dazugehörigen Ernst, Pathos und Theater. Während wir mit fast schon obszöner Gefühlsseligkeit der alten Erdordnung Lebewohl winken, wartet die alte und neue Gesellschaftsordnung, ewiger als das Eis, in der guten Stube, wo sie uns zum Leichenschmaus empfängt. Es ist das Wechselspiel, die spezifische Komposition und Mixtur von vollzogenen und nicht vollzogenen Abschieden, das bestimmt, wer wir sind.

Das symbolische Ritual am Großglockner war nicht das erste für einen Gletscher abgehaltene Trauerzeremoniell. Bereits 2019 trauerte Island um den Verlust des mächtigen Okjokull-Gletscher. Hier war es ein tatsächlicher Abschied und kein vorweggenommener. Der Ok-Gletscher hatte seinen Status als Gletscher verloren, hatte im Sterben große Flächen lange bedeckten Steins freigelegt und war zu einer unzusammenhängenden, fleckigen Eisschicht geworden, die manche als den Leichnam des Ok betrachteten – geschrumpfte, leblose Überreste, vom Zerfall entstellt. Aber sie erinnern noch an den Lebenden.

Als Mahnung wurde auf einem ehemals von ewigem Eis bedeckten Felsen eine Bronze-Tafel angebracht, die auf Isländisch und Englisch die folgenden warnenden Worte trägt:

Ein Brief an die Zukunft

Ok ist der erste Gletscher Islands, der seinen Status als Gletscher verliert. In den nächsten 200 Jahren werden ihm all unsere Gletscher folgen. Dieses Mahnmal bezeugt, dass wir wissen, was passiert und was getan werden muss. Nur Du, zukünftiger Leser, weißt, ob wir es auch getan haben.

August 2019

415 ppm

Dem Trauerzug und der Enthüllung der Tafel wohnten über hundert Menschen bei, darunter die damalige isländische Premierministerin Katrín Jakobsdóttir und die ehemalige UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson. Das ganze hatte den Anschein eines Staatsbegräbnisses. Trotzdem entstanden in der Berichterstattung immer wieder Unsicherheiten, um was für ein Zusammenkommen es sich hier handelte. War das eine künstlerische Performance? Eine symbolpolitische Handlung? Eine neue Form von zugleich wissenschaftlichem und animistischem Totenkult? Eine Erinnerung an zukünftige Tote?

In einem Buch mit dem Titel In den Gletschern der Erinnerung aus dem Jahr 2020 sammeln zwei Autoren literarische Zeugnisse von Gletschern aus den letzten drei Jahrhunderten, darunter Aufzeichnungen von so illustren Persönlichkeiten wie Lord Byron, Mary Shelley, Hans Christian Andersen, Mark Twain, Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin, Max Frisch und Paul Celan. Sie alle waren Gletschern begegnet und hatten über sie geschrieben. Das Buch ist ein poetisches Gletscheralbum und eine merkwürdige Schwelle: Außerhalb des Buchs existiert die eisige Welt noch. Aber nur gerade so. Zukünftige Leser*innen werden In den Gletschern der Erinnerung den Moment markiert finden, da im Verschwinden begriffen war, was sie nicht mehr kennen.

Ich mache meine Arbeit, wie ich jede andere Tätigkeit ausüben würde: akribisch, gewissenhaft und mit Freude an der Entdeckung von kuriosen Begebenheiten. Die Verluste und meine Aufzeichnungen von ihnen sind gefragt. Aber in einem regelmäßigen Rhythmus, alle anderthalb Wochen etwa, werde ich traurig. Dann kann ich mich nur noch langsam bewegen und nicht mehr denken. Ich gehe spazieren und in diesem Jahr lasse ich mich vom Regen trösten. Obwohl das Wetter verrücktspielt. Manchmal schlägt es drei Mal am Tag um. Von Wetterumschwüngen kann nicht die Rede sein, eher von einem Luftdruck-Karussell, einer unberechenbaren atmosphärischen Launenhaftigkeit. Trotzdem: Es beruhigt mich, im Wetter zu sein, seine Bewegungen genau zu verfolgen. Ich kann es kaum aus den Augen lassen.

Wenn ich mich schließlich erschöpft in meine Wohnung zurückziehe, verkrieche ich mich ins Bett und höre Holocene von Bon Iver. Der Song ist nach einer Bar in Portland benannt. Und nach der geologischen Epoche, die wir beenden. Das Lied entstand in einer Winternacht, an Heiligabend, um genau zu sein, auf einem späten Spaziergang. Menschenleere Straßen, meilenweit keine Autos, das Kommen eines Schneesturms in der Luft, Inseln aus Eis auf den Straßen. Plötzlich passt alles zusammen, der Ort, die Zeit des Jahres, existentielle Erleichterung, Demut, das Gefühl, dass die Landschaft, die Stadt, die Luft den Song geschrieben hat. In meinem müden Kopf wiederholt sich immer die eine Stelle: You fucked it friend, it’s on its head, it struck the street. Das bringt es auf den Punkt, fühle ich, obwohl ich gar nicht weiß, was ‚it‘ ist. Bleibt noch etwas zu sagen? Lebewohl Holozän. Es waren gute 11.700 Jahre. Verzeih.

Mit zwei Freunden tausche ich mich in einer Chat-Gruppe über den Tod aus. Sie heißt Don’t bury the Dead. Darin Bücher zum Tod, Ausstellungen zum Tod, Podcasts zum Tod. Einer der Freunde ist überzeugt, dass es falsch ist, seinen Frieden mit dem Tod zu machen. Ich schicke ihm zwei Verse von Dylan Thomas: Do not go gentle into that good night. / Rage, rage against the dying of the light. Der Freund reagiert mit einem brennenden Herz. Auf Wanderungen schreiben wir die Verse in Gipfelbücher.

 

Simon Probst

 

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freiVERS | Fynn Bastein

Kuppelkirche

Wenn ich ganz genau hingucke,
läuft die Welt ein bisschen langsamer und Menschen steigen von ihren Fahrrädern,
als würden sie eine Kirche betreten.
Wenn ich ganz genau hinhöre,
ist es auch leiser.
In der Bibliothek wurden wir einmal ermahnt,
seitdem flüstern wir nur noch miteinander.
Manchmal flüstern wir so laut,
dass ich dich über einen ganzen Raum hinweg verstehen kann.
Du sagst du möchtest auch lernen wie man die Welt leise und langsam macht,
wie sie weich und sanft wird.
Es hilft
sich an Orte zu setzen, die sich nicht verändern,
die Augen zu schließen und die Vergangenheit vorbeilaufen zu lassen,
jeder einzelnen zu winken.
Es hilft
genau hinzuschauen,
so genau, dass die Grashalme vor deinen Augen verschwimmen
und du eigentlich gar nicht mehr genau guckst.
Es hilft
deine eigene Hand zu halten, als wäre sie eine andere.
Es hilft
Kirchen zu betreten, als würde man vom Fahrrad absteigen
und dort nicht zu flüstern
sondern nur in sehr lauten Räumen,
wenn man Schwierigkeiten hat sich zu finden.
Vielleicht hilft es auch die Zukunft vorbeilaufen zu lassen
und zu winken
aber nicht Hallo zu sagen.

 

Fynn Bastein

 

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freiTEXT | Jane Stone

Kontakte

Charlotte rauft sich die Haare. Ihr Kinn juckt, wo sich heiße Tränen treffen. Unter ihrer Straßenlaterne beginnt sie, die Schlaglöcher vorm Restaurant zu zählen. American Bar & Grill, est. 1990. Hat drinnen überhaupt jemand gemerkt, dass sie abwesend ist? Schon verzählt. Nochmal von vorne. Der Shot Whiskey gegen die Nervosität und die Zurückweisung brennen gemeinsam. Jeder Augenschlag verdoppelt das Dröhnen in ihrem Schädel. Warum kommt Viktoria nicht nochmal heraus? Mehr wehtun kann sie Charlotte nicht. Wieder verzählt. Es hört nicht auf, Dezember zu sein. In der Hocke zittern ihre Beine. Heute Morgen frisch rasiert für ein schreckliches Kleid. Die Verkäuferin hat es ihr für zu viel Geld aufgedrängt, weil sie ihre unsicherste Kundin hasst und –
Charlotte stößt einen Schrei aus. Etwas schlängelt sich ihre Wirbelsäule hoch, bohrt sich mit einem Stich in ihrem Hinterkopf. Schlagartig steht ihr Körper und läuft mit wackeligen Schritten nach Hause.

Komplette Überforderung. In den ersten Minuten des Menschseins spüre ich jedes Gramm Körpergewicht. Massen an Bewegungen erschlagen mich fast. Allein die Augen umgeben das Prickeln tausender Muskelfasern. Blinzeln nicht vergessen. Wie kann die Nacht hier so grell sein? Man sieht nicht mal die Sterne! Grade prasseln all die körperlichen Instinkte auf mich ein, die ein Mensch zu ignorieren lernt. Das Bedürfnis, fremde Dinge in den Mund stecken. Zu kreischen, bis einem die Luft ausgeht. Zu starren. Zu sabbern. Ich hätte mir die Nase aus dem Gesicht gerieben, wenn ich sie eben nicht ausgeblendet hätte. Ganz tief im Gehirn habe ich mich eingenistet. Dieser wabblige Klumpen triumphiert über die körperliche Hülle.

Am Tag danach wird mir die Schwere meiner so spaßigen Spontanentscheidung bewusst. Unter der Schwerkraft ist alles anstrengender. Die Müdigkeit verschwindet nicht. Der erste Muskelkater schmerzt unaufhörlich. Alles lässt mich daran zweifeln, das für einen Menschen Freude drin ist. Zumindest ein Glück: Es ist Samstag. Dieser träge Körper muss nirgendwo hin. Auf dem Wohnzimmerteppich liegt es sich kratzig. Seit gestern ist das hier meine winzige Wohnung. Eine Ruine aus Staubfäden und dunklen Fusseln finde ich unter der Kommode. Darin lebt eine tote Fliege, die mich bemitleidet. Ohne mein Zutun schlägt das Muskelgedächtnis zu. Handy in meiner Hand. Instagram öffnen. Scrollen bis zum ersten Foto dieser einen blonden Frau. Double tap. Viktoria da. Rotes Herzchen. Viktoria dort. Familienfoto mit Geschwistern, Weihnachten mit hässlichen Pullovern. Grübchen. Warte, was mache ich hier? Die Finger wehren sich, aber mit etwas Nachdruck ist die App gelöscht. Kurz ringe ich mit den Überresten eines Verlangens, dann erkläre ich mich zum Gewinner.

Letzten Juni führte der Chef eine blonde Frau in den Pausenraum, ein höfliches Lächeln in ihrem glühenden Gesicht. Grübchen.
„Ich bin die neue Kollegin, Viktoria. Schön euch alle kennenzulernen. Ich freue mich schon auf gute Zusammenarbeit.“
Charlottes Gedanken rannten ihr davon: Wenn diese Frau hetero ist, werde ich zum schönsten Mann der Welt. Wenn sie nicht an Liebe glaubt, will ich ihre engste Freundin werden. Du bist perfekt. Ich liebe dich.
Fast ließ Charlottes Zunge diesen Eifer in die Welt hinaus. Schnell versteckte sie ihren Mund hinter ihrer Kaffeetasse. Ihr Blick blieb so lange auf Viktoria, wie ihr Schamgefühl es zuließ. Jede Millisekunde genoss sie, kam aus dem Schmunzeln nicht heraus.

Ein Montagmorgen, 7 Uhr. Bequemes Bett. Kein Herzinfarkt oder epileptischer Anfall im Schlaf. Vielleicht sogar ein guter Traum, den ich längst vergessen habe. Jeder Tag überlebt ist ein Erfolg. Ich sollte diesem Körper applaudieren, stattdessen strecke ich meine Hand in Richtung des offenen Fensters. Eine kalte Brise umspielt meine Fingerspitzen. Der frische Geruch der Atmosphäre umarmt mich. Dieser Fetzen Himmel ist blauer als alles, was ich je wahrnehmen durfte. Krähen hallt durch die Straße. Frage und Antwort, hin und her. Letztes Wort in drei tiefen Tönen. Argument beendet. Nur noch ein sporadisches Rauschen von Autos. So fühlt sich wohl der Frühling an. Genau dafür bin ich ein Mensch geworden.

Sonnenstrahlen brauchen acht Minuten, bis sie auf die Erde treffen. Nur eine Kleinigkeit müsste dabei schiefgehen und ich könnte nicht das tiefrote Gewand der Frau wertschätzen, die neben mir sitzt. So viele Gesichter. So viele Orientierungspunkte, an denen wir vorbeifahren. Wie schön Busfahren zur Arbeit sein kann. Die Strecke hat die perfekte Länge, um entspannend zu sein. Der Bus schnurrt unter meinen Füßen. Ich schließe kurz die Augen, sauge das Geräusch ein, bis es verstummt. Nächster Halt. Eine blonde Frau steigt ein. Seit wann fährt Viktoria diese Strecke? Sie hat die Fähigkeit meinem Körper Gedanken zu entwenden und um sich herum kreisen zu lassen. So unangenehm. Den Platz in diesem Kopf brauche ich für mich allein. Ihre Augen blicken in meine. Jede Alarmglocke klingelt. Schnell wende ich mich ab.

Stille im Pausenraum. Nachdem ich die nachlässigen Krümel der Kollegen weggewischt habe, lehne ich an der Theke. Langsam gewöhne ich mich an den Kaffee. Die Tasse wärmt angenehm meine Hand. Der Koffeinkick ist nur ein Bonus. Etwas bringt meine Nase zum Rümpfen.
„Du rauchst wohl immer noch in der Mittagspause.“
Viktoria zieht das Pflaster ab: „Charlotte, gehst du mir mit Absicht aus dem Weg?“
Meine Gegenfrage: „Ist das ein Problem?“
„In letzter Zeit bist du irgendwie… anders.“
Viktoria steht am anderen Ende des Raums, Rücken zum Kühlschrank, in dem immer jemand was vergisst. Ein Schritt Abstand zwischen uns und ihr Blick bohrt dennoch.
„Ich bin eine neue Charlotte. War noch nie glücklicher.“
„Es tut mir leid… wegen dem Korb bei der Weihnachtsfeier“, sprechen Viktorias Schuldgefühle.
So gut es geht verhandle ich für eine Charlotte, die ich nur aus Impulsen kenne:
„Nicht deine Schuld. Um ehrlich zu sein: Als ich dich zum ersten Mal draußen rauchen gesehen habe, war ich schon etwas weniger verliebt.“
Ein Schatten fällt über Viktoria.
„Irgendwie tut es weh, das zu hören. Also war es keine richtige…“
„War nur in die Idee von dir verliebt.“
Eine Idee, die längst zum Wohle der Menschheit begraben wurde. Eine Lücke, in die ich schlüpfen konnte. Viktoria gebührt all mein Dank.
Ihre knappe Antwort: „Dann ist es wohl so.“
Warum klingt sie nicht erleichtert?

 

Jane Stone

 

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freiVERS | Sigune Schnabel

Winterkind

Über eine Wiese
mit Frostblumen laufe ich, weiß,
dass nur der Wohnzimmerboden blüht.
Im dumpfen Licht wachsen mir Gräser
über den Kopf.
Bäume versinken im Nebel.
Auf ihrer Haut keimt Moos.

Ich bin ein Tier
und nähre mich vom Winter,
grase ihn ab und klinge
nach Landschaften und Eis.

Ich singe leise.
Mutters Stimme hält den Schnee zusammen.

 

Sigune Schnabel

 

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freiTEXT | Lina Leonore Morawetz

Ein angelsächsisches Konzept

 

Einsamkeit ist ein angelsächsisches Konzept. Wenn du in Mexiko City die einzige
im Bus bist und jemand einsteigt, dann wird er sich nicht nur neben dich setzen,
er wird sich an dich anlehnen.
— Lucia Berlin, Albern, wer da weint

Der Fahrer blickt aus der Dunkelheit heraus — es gibt keine Haltestellen. Es gibt nur Handzeichen, die Türen stehen immer offen. Seine Sinne täuschen ihn manchmal, er beugt sich zum Lenkrad, sein schwerer Körper vor dem Fenster. Seine Augen glänzen. Sein Bus steht an der roten Ampel. Diese kleinen Busse sind winzig und riesig, im Rasen wanken sie. Behäbige Dampfer. Und die Fahrer sind immer in Eile, sie müssen fünf Millionen durch die Stadt bringen. Unten Asphalt. Oben die Bäume. Gummibäume, und Stromkabel wie langwieriges Haar. Ein Lenkrad wie ein Lastwagen. Richtung Osten. Richtung Westen. Fünf Millionen Handzeichen. Aber heute ist sein Bus noch leer. Mit glänzenden Augen sucht er den Straßenrand ab.

*

Der Bus steht vor ihm an der roten Ampel. Die Luft war noch frisch. Es wurde eben hell. Vier Pesos, ertastet in der Jackentasche. Er sieht sich um. Direkt vor ihm. Die Luft frisch. Er sieht sich nochmal um. Nur einen Schritt. Warum nicht. Hineinspringen in diese Tür, die sich, immer offen niemals schließen wird, die niemals hält. Es gibt keine Haltestellen, nur Handzeichen. Vier Pesos in der Tasche, ertastet.
In der Jackentasche hält seine Faust an den Münzen fest. Die Luft ist frisch, er atmet tief, füllt seine Lungen mit Vergewisserungen. Es ist nicht mehr Nacht, sagt er sich, die Nacht ist vorbei. Helle Musik von der Tanke. Er klimpert die vier Pesos. Er sieht sich um. Die Tanke ist leer. Das Victoria schon voll. Es duften die Donas nach süßer Erlösung. Schnell. Nur einen Schritt, denkt er. Auf und davon. Für vier Pesos den Boden unter den Füßen verlieren. Für vier Pesos alles hinter mir lassen. Der Motor jault auf. Seine Hand bewegt sich auf den bittersüßen Espresso zu, der vor ihm auf der wackeligen Holzbox hin und her kippt, als würden seine Finger blinzeln und neugierig die Welt erkunden, die Luft noch frisch, es ist bald hell, er richtet sich auf, eine reckende Bewegung als wäre er in einem kleinen Rausch und Wirbel, als wären Leben und Tod eins. Jetzt nicht so lange nachdenken, sagt er sich, die Nacht ist vorbei, ein Schritt aufs Trittbrett, den schmutzigen Wind im Haar, dem Fahrer gewunken, der wusste, vier Pesos in der Jacke. Für vier Pesos auf und davon, ein guter Deal, der Fahrer nickt. Er wird Gas geben, einen Gang hochschalten und die Musik aufdrehen, Cantina und los, nach Osten, nach Westen, den Fahrtwind um die Ohren. Die Türen stehen immer offen und weil die Türen immer offenstehen und fünf Millionen einsteigen und fünf Millionen aussteigen klappert immer irgendwo etwas. Eine Tür, ein Fenster oder sonstwas. Der Fahrer dreht sich in der Kurve zurück in den schlingernden Bus und schaut, weil etwas klappert oder sonstwas und sieht ganz hinten zusammengekauert eine Gestalt sitzen, nach Osten, nach Westen, im Dunkel seiner Gedanken sieht er eine Gestalt verschluckt von Osten, von Westen, der Fahrer nickt nach rechts, nach links, er tritt aufs Gaspedal nach Westen, nach Osten. Es donnern Taxis, Trucks und Pickups nach Westen, nach Osten.

*

Im ersten Sonnenstrahl rasen die Taxis, Trucks und Pickups von Osten nach Westen, Westen nach Osten. Sie dreht den Kopf nach links, nach rechts und in alle Richtungen. In der Ferne stehen am Straßencafé Victoria Frühaufsteher an der Theke. Mühelos bewegen sie sich nacheinander, nebeneinander, aneinander. Sie hat bald ihren Platz zwischen ihnen gefunden. Sie lassen sich auf hölzernen Bänken nieder. Sie stellen mit geübter Handbewegung riesige Becher mit Cappuccino und heißer Schokolade auf wackelige Holzboxen. Bittersüßer Espresso. Unter einem Flachbildfernseher, unter Nachrichtenbildern sitzen sie nacheinander, nebeneinander, aneinander. Straßenstaub. Zucker. Stimmen. Rufe. Schaum. Sonne. Zimt bestreute Donas, Fleisch gefüllte Tortas. Müsste ich nicht—

Hätte ich nicht längst —? denkt sie. Aber links. Die Art, wie er den Becher hielt. Ihr sind die Hände des Mannes links von ihr ins Auge gefallen. Sie findet nicht seine Hände schön, sein Haar. Es war die Art, wie er sein Leben hielt. Sechs Spuren Sonne trugen sich zu Wänden aus Licht, Verblendung, Erleuchtung zusammen. Es war ein Morgen Ende Oktober in Mexiko City. Als hätte sie den Anfang versäumt und trotzdem gewusst, worum es ging.

Es waren nicht seine Hände, nicht der Wind in seinem Haar. Es war die Art wie er sein Leben hielt. Wie sie ihr Leben sah. Es war die Art, wie er sein Leben hielt, als sie ihr Leben sah. Jetzt den Kopf zur Seite neigen, denkt sie. Meine Schulter, eine Schulter. Zwei Augen auf sechs Fahrspuren. Meine Schulter, seine Schulter. Ein einziges Gleichgewicht. Balance. Etwas Weiches. Von Osten, die Sonne. Ein Herzschlag wie die rasenden Autos. Drei Spuren nach Westen. Still! Als wäre es das letzte Bild. Drei nach Osten. Windhauch. Herzschlag. Stromkabel wie silbriges Haar. Der erste Sonnenstrahl. Gesenkte Lieder. Ihre plötzliche Balance bringt sie ein wenig aus dem Gleichgewicht. Aber es gab gar kein Gewicht. Alles schien ohne Hindernis und ohne Zeit.

Zum ersten Mal im Leben wollte sie nichts riskieren. Sie hatte sich niedergesetzt und die Tür weit offen gelassen. Die Tür, durch die sie diese Szene betreten hat. Er blickt auf. Sechs Spuren Sonne, seine Hand hebt sich gegen das Blenden, vielleicht auch seine Stimmung. Etwas hat sich vage verdeutlicht, eine Veränderung in der Bewegung, in der Luft.

Die Regenzeit hat früher als gewöhnlich ausgesetzt. Wo sich normalerweise abends Regenmassen in braunen Bächen über die Straße ausschütten, wirbeln heute morgen Automassen trockenen Staub auf.
Zwischen dem Dämmern ihrer gesenkten Augenlieder und dem Sonnengleißen hat sie für einen Moment das Gleichgewicht verloren, aber beinahe gleichzeitig auch wieder vergessen, dass sie aus der Balance geraten war. Sie hat etwas anderes gesehen.
Einen Windhauch, der haften blieb. Als wäre er ein einfacher Passant gewesen und als wäre ein Teil von ihr aufgestanden, um aus irgendeinem Grund mit versteinertem Lächeln auf den Lippen die Tür zu schließen.
Er hatte den Kopf etwas zur Seite gewandt, als wäre sie zu spät gekommen. Und als auch sie sich zu ihm umschaute, als hätten sie beide den Anfang versäumt, war er verschwunden, gerade als wäre er – wie ein einfacher Passant –
Er muss in die offene Türe eines vorbeifahrenden Busses gesprungen sein. Der Bus wird wie das Leben ganz plötzlich auf ihn zugekommen sein. En passant.
Überreste eines Fiebers, eine innere Regung die bis aufs Äußerste prickelnd erfüllt. Ein verwaister Espressobecher, ein letztes Bild, das niemals hält. Es war früh am Morgen Ende Oktober in Mexiko City. Die Stromkabel glänzen wie silbriges Haar.

*

Stromkabel wie langwieriges Haar. Mit glänzenden Augen tastet er den Straßenrand ab. Seine Augen gleiten über die Fahrbahn, den Rückspiegel. Fast dreihundertsechzig Grad behält er im Blick, nach links, nach rechts. Alle Richtungen bewegen sich rund um ihn wie ein wogender Ozean, ein ganzes Leben, das vor ihm liegt und das er rasend hinter sich lässt. Seine Augen tasten flink und geübt die bewegten Konturen in seinem Sichtfeld ab, wie sie hasten, zu zweit schlendern, laufende Kinder mit Schulrucksäcken und weil sein Überleben davon abhängt, sie zwischen den Autos und Häusern und Bäumen herauszufiltern, vergisst er alle einzelnen Formen sofort wieder. Er sieht Millionen und wenn keiner die Hand hebt, keiner aufspringt, keiner mit den unverkennbar zielgerichteten Schritten auf ihn zuläuft, allein oder in Zweier- oder Dreiergruppen auf ihn zuläuft mit Gepäck und Gesicht, dann vergisst er sie sofort wieder. Ein laufender Schritt, ein Anlauf eher, der sich mit deutlich abzeichnender Erleichterung im Gesicht verlangsamt, sobald die Laufenden eine der winzigen Gesten von ihm wahrgenommen haben: sein minimalistisches Repertoire, das er sich über die Jahre aufgebaut, und dann auf ein Mindestmaß abgeschliffen hat, das Nicken hat er auf einen Bruchteil reduziert, das Winken heruntergefahren auf ein deutliches Luftholen mit seinem ganzen runden Körper, ein Nachvornelehnen, wenn er den Gang schaltet und mit einem mittlerem Donnern herunterbremst. Und jetzt steht er mit laufendem Motor an der roten Ampel und lehnt sich zurück. Manchmal täuschen ihn seine Sinne, das weiß er. Deshalb beugt er sich also doch wieder zum Lenkrad vor, eine kleine Bewegung. Sein Blick streift kurz den Rückspiegel und zieht dann langsam nach rechts hinüber zum Straßenrand und fällt dabei auch auf das Café Victoria.

 

Lina Leonore Morawetz

 

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freiVERS | Michael Spyra

Der Mond im Fernsehapparat

Wie ein Ballon, ein Lampion, so schwebt er
mal mehr mal weniger und widerstrebt der
Tendenz zu fallen, Erdanziehungskraft
und trotzdem immer da, in Geiselhaft.

Der Fremde also, Fremdling und Begleiter,
mit Staub bedeckt, meteoritbeschneiter,
derselbe immer, Einzelgängermond,
wie eben schon und gleich noch mal betont.

Der Pockennarbige, im All ergraute,
der immer von derselben Welt beschaute,
das Accessoire aus einer andern Welt,
bewundert, abgemalt und angebellt,

gesichtet und besichtigt, überwunden,
die immer gleiche Bahn auf seinen Runden.
Die scharfe Sichel und das volle Rund,
von Swinemünde bis nach Swapokmund.

 

Michael Spyra

 

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freiTEXT | Martina Berscheid

Nach dreißig Jahren

Margret legt die Hand auf die sonnenwarme Fensterbank. Einen Moment lässt sie sie ruhen, wie auf dem Rücken einer Katze. Sie hat nie ein Haustier besessen, der Vermieter erlaubte keine, sie hat das immer bedauert. Heute ist sie erleichtert darüber.
Früher stand Margret oft hier am Fenster des Wohnzimmers. Blickte nach unten auf den Spielplatz. Halb von der Gardine verborgen sah sie den Kindern der anderen Hausbewohner zu, wie sie schaukelten und rutschten. Nur kurz, damit sie Margret nicht bemerkten und sie ihre Unbefangenheit beim Spiel behielten.
Früher glaubte sie, keine eigenen Kinder zu haben, wäre das größte Unglück in ihrem Leben. Da hatte Kurt sie noch nicht verlassen. Sie ihren Job gehabt. Glaubte noch an das Gute im Menschen und dass sich im Leben alles fügen würde.
Sie blinzelt gegen die Sonne, die durch die blanke Scheibe fällt. Schweiß tritt ihr aus. Die Wintersonne bündelt ihre Kraft. Die täuscht. Die Temperatur draußen beträgt vier Grad unter Null.
Unter dem Wintermantel trägt Margret drei Pullover übereinander. Zwei weitere hat sie eingepackt, den Rest verschenkt. Viel kann sie ohnehin nicht mitnehmen.
Dreißig Jahre hat sie in dieser Wohnung gelebt. Erst mit Kurt, später allein. Sie befolgte immer sämtliche Hausregeln, sogar die unsinnigen, putzte den Flur, wenn sie an der Reihe war. Entsorgte den Müll ordentlich, und mit der Miete war sie auch nie in Rückstand.
Sie hat niemandem erzählt, dass das heute ihr letzter Tag hier ist. Nicht mal den besten Freunden. Vor allem denen nicht.
Erst kam die Mieterhöhung. Dann die Kündigung, wegen Verkaufs. Der Vermieter sagte, jeder müsse schauen, wo er bleibt. Er wird eine Menge Geld bekommen für die Wohnung, Altbau, in einer neuerdings beliebten Gegend.
Wenigstens lässt ihr der Vermieter diese halbe Stunde. Zum Abschiednehmen. Sie solle einfach zuziehen und ihm die Schlüssel bringen, er habe sowieso noch nebenan zu tun und schließe dann später ab.
Ihr Nachbar ist vor ein paar Monaten gestorben, dessen Wohnung gehört auch dem Vermieter.
Noch ein letzter Blick. Auf den Spielplatz, die Sträucher dahinter, die im Sommer blühten, die Bänke, wo die Mütter und manchmal auch Väter saßen und erzählten. Die beiden Kastanien, den Rosenbusch, von dem sie manchmal heimlich eine Blüte abschnitt, in eine Vase stellte und jeden Tag mehrmals daran roch, bis die Blätter welk auf den Küchentisch fielen.
Margret kehrt dem Fenster den Rücken. Zieht den Rucksack auf und greift nach der Tasche neben sich. Die macht sich schwer, als wolle sie auch bleiben.
Geht nicht, flüstert Margret in die Stille. In die Leere. Der Wohnung und in ihr drin.
Ihre Schritte hallen auf dem Parkett, das sie regelmäßig pflegte. Sie mochte es, wenn es glänzte und nach Politur roch. Die Abnutzung sieht man dem Boden dennoch an. Die Jahre, die vergangen sind. Er ist wie ein Spiegel ihrer selbst.
Margret schließt die Tür und hat für einen Moment das Gefühl zu fallen. Sie atmet in den Bauch. Bis der Schwindel nachlässt.
Sie klopft an die Nachbartür, wie vereinbart. Bevor der Vermieter öffnen kann, legt sie die Schlüssel auf den Boden, steigt die Treppe nach unten. Schweiß läuft ihr über die Stirn.
Zum letzten Mal öffnet sie die Haustür. Schließt sie leise hinter sich.

Draußen schwappt ihr ein Schwall kalte Luft ins Gesicht. Sie tastet in die Innentasche ihres Mantels. Dort stecken ihr Pass und das Geld, das sie für die Möbel bekam. Viel weniger, als sie wert waren.
Hastig setzt Margret sich in Bewegung. Der Wind schneidet durch die Straßenschluchten, über ihr Gesicht. Sie geht bis zur Kreuzung, überquert sie. Passiert den Dönerladen, wo ihr der nette Angestellte zuwinkt. Sie denkt an die Wohnung, leer und doch so voll von Erinnerungen und Gefühlen, die sie besser auch zurücklässt.
Der Schmerz nährt sich nur davon.
Die Sonne steht tief. Margret wird sich bald einen Schlafplatz suchen müssen.
Sie kann sich nicht vorstellen, wie sie in der Kälte überleben soll. Sie weiß, dass es Einrichtungen gibt. Für Leute wie sie. Sie hätte sich kümmern müssen.
Bis zuletzt hat sie geglaubt, dann gehofft, dass sie doch bleiben kann.
Wie unsäglich dumm.
Die nächsten Tage werden zeigen, ob sie sich das letzte bisschen Stolz erlauben kann.
Das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs taucht vor ihr auf. Es steht einen Spalt offen, wie eine Einladung. Margret geht hinein.
Die Sonne verglüht schon, gießt orangefarbenes Licht über die Grabreihen. Sie war lange nicht mehr hier, zuletzt an der Beerdigung einer Freundin.
Eingerahmt von Eichen, lässt sie sich auf einer Bank nieder. In diesem Teil des Friedhofs liegen die Kleinsten, die Totgeborenen. Die Sternenkinder.
Sie holt Decken und den Schlafsack aus dem Rucksack. Wickelt sich darin ein. Die Kälte frisst sich dennoch durch die Stoffschichten, bis auf ihre Haut. Wie Säure.
Sie betrachtet den Grabstein vor ihr, wie sich seine Farbe verdunkelt, bis sie die Inschrift nicht mehr lesen kann.

 

Martina Berscheid

 

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