freiVERS | Sophie Heck

Hauptnetzspiegel

an der Wandkante
lugt er hervor
dünn glänzend
ein Fliegenauge
lackiert wie ein Haar.

mein Hauptnetzspiegel
zeigt sich
riecht manchmal
nach Schweiß
dem meiner Mutter,
dem von mir
schmeißt nach mir,
schreit
nach mir,

der Zug entgleist
und
mein Hauptnetzspiegel
ein Fliegenauge
sitzt
vielfach geteilt an der Wand
sitzt
seit meiner Geburt

sah ich
jahrelang
nur diesen
zeugte meine Augen
schwarze Bürsten in einem Draht
wenn ich mich sehen wollte oder etwas tat

mein Hauptnetzspiegel
jetzt kann ich ihn sehen
betrachte ihn
immer wieder
stumm
ein Gefäß
aus Gelatine,
gehalten
von schwarzen Drähten

von dem aus
ich mich immer wieder grüße
durch das ich den Arm stecke
ein schwabbeliger Milchkarton

verklebte Farbe auf Metall
über Generationen
in dicken Perlen
getrockneter Lack.

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Sophie Heck

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freiVERS | Otto Dvoracek

Peripheres

Alles zieht sich in die Länge, von der Erde
Bis in den Menschen hinein, in das Periphere
Hinausverirrt, hinausgetrieben, ein kurzes Aus-
Schlafen, am Rande der Hochgeschwindigkeits-
Strecke, in den Insektenwohnungen
Übereinanderlagerungen, die Dächer glänzen
Golden, der Schlaf legt alles klar, mit Sirenen-
Klängen den Tag beginnen, im schiefen Licht
Mit verstellter Stimme, die Stimme ist nur
Gedämpft hörbar, das Gras steht hier höher
Alles zieht sich in die Länge, von einer Peripherie
Zur anderen, die Stunden füllen sich mit dem
Gleichen Programm, röhrenförmig, peripher

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Otto Dvoracek

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freiVERS | Elke Cremer

stilllegung

ich lege mich still
in die reisigecke
reduziere das übermäßige atmen
gebe meinen stoffwechsel auf
übe mich in photosynthese
und ausbildung von chlorophyll
in knistern und rauschen
in schattenwerfen wuchshöhe und
einwurzelung
ich gebe die baumkrone ab
trete zurück
in ein grundlauschen

 

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Elke Cremer

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freiVERS | Hanna Göbel

Ein Witz

Es ist ein Witz – una broma.
Nur ein Witz.
Ein dummer Witz, aber eben nur
ein Witz.

Ich sitze am Tisch, unter meinen Handflächen klebt
die Wachstischdecke.
Mir gegenüber sitzt –
er – ich werde seinen Namen vergessen.
Sein süßlich-herbes Aftershave bleibt in meiner Erinnerung
kleben
wie Harz.

Wir reden über seine Zeit in Kolumbien
und wir reden über mich.
Ich komme aus Deutschland und er
war einmal im Schwarzwald –
la Selva Negra.
Wenn ich wieder in Deutschland bin, weiß ich,
wo ich schlafen kann, scherzt er
und lacht.
Mein Gastvater lacht mit.

Ich wende den Blick ab,
ziehe meine Mundwinkel hoch.
Etwas in mir
zwickt.

Somos seis chicas, entgegne ich.
Ich glaube nicht, dass dir das gefällt.

Viele Jahre später
werde ich die
internalisierte Misogynie
in meinen Worten erkennen.
Doch jetzt
ist es nur ein Versuch,
aus der Ecke zu kommen, weil ich
gegen ihre männliche Präsenz
nicht ankomme,
obwohl sie in der Unterzahl sind.

Und wenn wir zu zehnt wären,
dann blieben wir
Frauen –
chicas –
und zwei Männer.

Er lacht schallend,
sein Lachen hallt
von den Wänden des kleinen Esszimmers wider,
dringt in meinen Körper ein,
erschüttert mich.
Das stört mich nicht, lacht er und grinst
dreckig.
Er lacht und mein Gastvater
lacht mit.
Seis chicas, das stört sie nicht.

Es ist ein Witz – una broma.
Nur ein Witz.
Ein dummer Witz, aber eben nur
ein Witz.
Macht euch mal locker.
Versteht ihr etwa keinen Spaß?

Meine Gastmutter schweigt
unter zusammengezogenen Augenbrauen
weicht sie meinem Blick aus.
Ich schrumpfe,
mein Körper sinkt
in sich zusammen.
Ich verurteile sie
für ihr Schweigen,
dass sie zulässt, wie er
über mich,
über meine Familie,
über Frauen
spricht.

Später erkenne ich, dass sie
ebenso wie ich
Opfer des Patriarchats ist.

Ich spreche nie
darüber; ich
schweige.

Es ist ein Witz – una broma.
Nur ein Witz.
Ein dummer Witz, aber eben nur
ein Witz,
den ich vielleicht einfach nicht
verstanden habe.
Unerfahrenes, unsicheres, fünfzehnjähriges
Ich.

Ein Witz, der mich
auszieht, meine Mutter
auszieht, meine minderjährigen Schwestern
auszieht;
Die jüngste erst zwei,
aber Alter zählt nicht,
denn wir sind
Frauen.

 

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Hanna Göbel

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freiVERS | Georg Großmann

Häutungstier

 

Ich bildete mir meine
erste eigene
Meinung

Meine erste eigene
Meinung bildete sich
unter der Hornschicht

Meine erste eigene
Meinung wuchs mir wie
eine innere Haut

Eine eigene Haut
meine innere Meinung

Ich streifte die
elterliche Exuvie
ab
nicht in einem Zug, sondern
zaghaft, Stück für Stück

Nun liegt sie vor mir
die Althaut
klobig und steif
wie eine Tupperware-Box

Klobig und steif war meine Haut
eine fleischige Bleischürze
ein Baukasten des letzten Jahrtausends
eine patinierte Rüstung, die kaum
Licht reflektiert

Rosafarben, nackend, weich wie
gegarte Garnelen ist
meine eigene Haut noch

Das schon

Ich schaue zurück zur
Exuvie, die wie
ein Haus, ein sicherer
Unterstand lockt
das Bekannte
der lauwarme
Pool

ich bade jetzt
kalt
ich breite meine
verletzliche Crevetten-
haut
in den schmerzhaften
Niederschlag

 

Georg Großmann

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freiVERS | Martin Dragosits

Kinderspiel

das Licht in Streifen schneiden
ohne dass es jemand merkt

mit Sonnenstrahlen Muster malen
auf die Wangen und den Mund

schon vor dem Frühstück fliegen
um die Ecke und zurück

dem Himmel Zeichen schicken
für ein kleines Wunschkonzert

bei Wolkendecke Slalom fahren
bis der nächste Tag gewinnt

 

.

Martin Dragosits

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freiVERS | Thomas Steiner

ich esse gerne

im möbelhaus.
im möbelhaus
gibt es gutes essen
hunderte menschen
essen im möbelhaus, tausende

frühstück & mittag
ich mag es, wunderbar.
riesige fenster
zum parkplatz & bäume

wie schön
es ist diese art
von glück, von glück, von glück
das es sonst nicht gibt.

manchmal regnet es
dann
sehe ich den parkplatz vom möbelhaus
im regen. niemand
vertreibt mich vom tisch.

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Thomas Steiner

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freiVERS | Wolfgang Doerjer

Am Bodensee

Vom Schilf ins off'ne Wasser kommen
Fünf Blesshühner herausgeschwommen.
Drei kleine lernen von den alten,
Wie Blesshühner sich so verhalten.
Die Abendsonne scheint sehr mild,
Idyllisch wirkt dies schöne Bild.

Der Tag erwacht, und wieder kommen
Die Blesshühner herbeigeschwommen.
Zwei kleine werden von den Alten
Sich zu benehmen angehalten.
Dann sind sie in dem Schilf verschwunden.
Doch siehe da, nach ein paar Stunden:

Familie Blesshuhn schwimmt vorbei.
Diesmal sind es nur noch drei.
"Möwe von oben!", könnt' ich schreien,
zu spät - denn keines von den Dreien
Hat dieses Unglück kommen sehen.
So ist es dann ganz schnell geschehen:
Ein scharfer Schnabel stört die Ruh'.
Die Eltern schauen nur noch zu.

Vom Schilf ins off'ne Wasser kommen
Zwei Blesshühner herausgeschwommen.
Sie putzen sich, sie tauchen toll
Und füttern sich ganz liebevoll.
Die Abendsonne scheint sehr mild,
Idyllisch wirkt dies schöne Bild.

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Wolfgang Doerjer

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freiVERS | Sigune Schnabel

Trägt jeder Körper eine Spur Verwegenheit

I Wurzeln

Es kann Jahre dauern, bis ich den Boden
erforscht habe, den Regen und die Nacht.
Wir reiben uns aneinander,
und es gibt Zonen, die noch nicht
ausgelotet sind nach all der Zeit.

Im Winter trägt meine Rinde
das Weiß des Anfangs,
eine Stille, die schneit,
schreit.

 

II Stamm

Ich gehe nicht auf dich zu.
Du legst die Hände
auf meinen Körper, weil Sätze
auf der Haut zerfallen.

Als Mutter noch Sprache war,
bin ich aus Gedichten geboren,
habe mich geschüttelt, bis die Worte brachen.
Du hast mich gesehen
im Wasserspiegel eines Sees.

Wir gehören der gleichen Familie an.
Die Fremde hat längst ihre Rinde gelassen.

 

III Astwerk

Ich will viele sein,
streife dich aus verschiedenen Richtungen.
Meine Haut spricht am schönsten
mit der Erde.
Wie du heißt, vergesse ich am nächsten Morgen,
und doch nehme ich drei Worte
mit zu mir.

Gemeinsam loten wir Berührungen aus.
Deine Augen sind aus Moos,
und die Landschaft ruft aus mir heraus.

Sieh mich vom Ursprung her.
Meine Geburt war leise.

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Sigune Schnabel

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freiVERS | Simon Scharinger

Was es gibt. Versuch einer Liste

 

(A)

Die Aprikosenbäume gibt es.
Die Aprikosenbäume bei Inger Christensen gibt es.
Die Asche in meiner Hand gibt es.
Die Antwort auf meine Frage gibt es, zumindest hoffe ich das.
Den Adamsapfel gibt es.
Die Altgebliebenen gibt es.
Das Allein-Sein in jeder Stunde gibt es.
Das Auschwitz in den Büchern gibt es.
Das Auschwitz außerhalb von Büchern gibt es.
Den Anus als primäres Geschlecht gibt es.
Die Akropolis gibt es.
Den Anfang im Wort gibt es.
Die Architektur von deinem Zuhause gibt es.
Die Abtreibung als Recht gibt es.
Die Ausländer im Inland gibt es.
Die Ausländer im Ausland gibt es.
Das Andere gibt es.
Die Angst gibt es.
Das Auseinander-Setzen in der Schule gibt es.
Die Anschläge in Wien, in Paris etc. gibt es.
Die Anschläge außerhalb Europas gibt es, sie interessieren aber nicht.
Die Anschläge, fast ausnahmslos ausgeführt von Männern, gibt es.
Die an.schläge gibt es.
Die Aktionen gibt es, bei Hofer, Billa, Spar, Marina Abramovic´ und unübertroffen bei Pjotr Andrejewitsch Pawlenski.
Das ABC gibt es.
Das ACAB gibt es.
Das Agitative gibt es, bei Brecht, bei Gruber, bei Schlingensief, bei Hubsi Kramar.
Das Abschieben gibt es, von Verantwortung, von Schuld, von Pflicht, zusammengefasst im Abschieben von Menschen.
Den Anfang, dem ein Zauber innewohnt, gibt es.
Die Artikel in diesem Text gibt es.
Das Aus gibt es.

 

(B)

Die Blätter von Aprikosenbäumen gibt es.
Die Blätter von Ahorn, Kastanie, Buche und Eiche gibt es.
Die Balkone in Innenhöfen gibt es.
Den Balkan gibt es.
Das Babylon im 1. Wiener Gemeindebezirk gibt es, sprachverwirrt.
Das Bescheidene in Wünschen gibt es.
Das Baiser auf Torten gibt es.
Die Besen in Abstellräumen gibt es.
Die Brombeeren bei Inger Christensen gibt es.
Das Brot als Waffe gibt es.
Die Beerdigung des Kommunismus gibt es und seine Auferstehung.
Die Beliebigkeit in der Kunst gibt es.
Die Blunzn als Schimpfwort gibt es.
Die Bombe in Hiroshima gibt es und die in Nagasaki.
Das Beben von Valdivia gibt es, nebst dem grundsätzlichen Beben.
Das Balancieren in der Liebe gibt es.
Die Bücher von Friederike Mayröcker gibt es.
Die Bums‘n in Schärding gibt es.
Die Behörden hörig den Behörden gibt es.
Die Beamten gibt es.
Die Beleidigung von Beamten gibt es.
Die Brust von dir in meinen Händen gibt es.
Den Balsam für die Seele gibt es.
Die Backen gibt es, zusammengezwickt, gekniffen, errötet, immer eine Art Anus ummantelnd.
Die Bakchen gibt es. Und größenwahnsinnige weiße Regisseure, die sich an ihnen versuchen; im Chor, mittels Fließbandarbeit, auf faschistoide Weise Faschismus beleuchtend.
Die Besamung von Kühen gibt es.
Das Banale gibt es.
Die Banane gibt es.
Den Brand nach einem Rausch gibt es.
Den Brand der Wälder in Australien gibt es.
Das Beten von Auswendiggelerntem gibt es.
Die Bigotterie gibt es.
Das Bienensterben gibt es.
Die Blumen und die Blätter von Aprikosenbäumen gibt es.
Die Blicke, die ganz wie Flammen tanzen, gibt es; bei Marina Zwetajewa.
Das Biegsame gibt es, bei Birken, Rückrädern, etc. pp.
Das Bikini-Atoll gibt es – le bikini, la premiére bombe an-atomique – und seine Fischer und kontaminierten Thunfisch und Verstand.
Die Bierdeckel von Martin Peichl gibt es, und die im Café Bendl, einem um die Ohren fliegend.
Die Besinnlichkeit, die immer bloß Besinnlosigkeit meint, gibt es. Und sie ist zu verwerfen.
Die Bettgeher gibt es, bei diesen Mietpreisen vielleicht bald wieder.
Die Bretter, die eine Welt bedeuten, aber niemals die Welt, gibt es.
Den Blumenanbau, der Leben nimmt und Freude schenkt, gibt es.

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Simon Scharinger

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