mosaik28 - in Bildern

Die 6e des Musischen Gymnasiums Salzburg hat sich künstlerisch mit der aktuellen mosaik28 auseinandergesetzt. Aufgabenstellung war, sich einen Text aus der Zeitschrift auszusuchen und bildnerisch darauf zu reagieren. Eine Auswahl der dabei entstandenen Werke dürfen wir euch vorstellen. Und weils so schön ist, gibt's für die von euch, die grad keine Printausgabe bei der Hand haben, das PDF kostenlos dazu:

Download mosaik28 (PDF)

 

1: Nelly Ebert zu ‚Wut‘ von Sophia Fritz

 

2: Nelly Ebert zu ‚Januar‘ von Stefan Heyer

 

3: Benedikt Ziegler zu ‚Die sieben Todsünden - Lust‘ von Sophia Fritz

 

4: Hannah Laznia zu ‚Januar‘ von Stefan Heyer

 

5: Johanna Gamper zu ‚Hotelstaub‘ von Katharina Wulkow

 

6: Johanna Gamper zu ‚Der Mantel‘ von Marina Büttner

 

7: Tobias Hauer zu ‚Friedrichsblau‘ von Svenja Reiner

 

8: Noah Knapp zu ‚Abschluss‘ von Steffen Kurz

 

9: Klaudia Sobota zu einem Zitat im Interview mit Versatorium/Helmut Ege („Es entsteht beim Übersetzen ein Text, der vorher nicht da war.“)

 

 


mosaik28 – Dass alles immer weitergeht

mosaik28 – Dass alles immer weitergeht

INTRO

Dass alles immer weitergeht, dafür braucht es viele Dinge: Als erstes bedarf es Autor*innen und Künstler*innen, die etwas zu sagen haben und dies auch im Format einer Zeitschrift wie der unseren tun möchten. Dann braucht es Menschen „hinter den Kulissen“, die dafür sorgen, dass die Beiträge gesichtet, diskutiert, ausgewählt, zusammengestellt, korrigiert, grafisch aufbereitet und in ein Gesamtkonzept gebracht werden. Es werden Mails geschrieben, Telefonate geführt, Pläne geschmiedet, zwischendurch verworfen und am Ende doch irgendwie eingehalten. Es braucht Räume, die in diesem Prozess vereinnahmt werden (siehe Kreativraum auf der letzten Seite), Ideen, Ziele, Visionen und auf dem Weg dorthin auch einige Kompromisse.

Es braucht Menschen, die für das Ergebnis brennen, die die Zeitschrift lesen, andere dazu ermutigen, es ihnen gleichzutun. Menschen, die uns auf vielfältigste Weise unterstützen. Und es braucht (in einer Welt wie dieser: natürlich) auch Geld.

Ehrlicherweise muss man sagen: Es braucht verdammt viel Geld. Und es braucht verdammt wenig Geld. Je nachdem, wie man es betrachtet. Wenn man mal ehrlich kalkuliert (siehe Seite 2), merkt man schnell: Eine Zeitschrift wie diese ist kaum bezahlbar. Wir sind vor acht Jahren allerdings mit einer Mission gestartet: Literatur für die, die sonst weniger oder kaum oder keine Literatur in die Hände bekommen. Darum war und ist die Zeitschrift mosaik kostenlos erhältlich.

Wer wissen möchte, wie das möglich ist, kann sich auf Seite 2 die Kalkulation ansehen, die Logos der Fördergeber darunter betrachten und hier im ersten Absatz nachlesen, welche Arbeiten alle unentgeltlich geschehen.

Warum wir das schreiben?
Ob wir Mitleid wollen? Bitte nicht. Wir haben ein unfassbares Privileg, etwas machen zu dürfen, das uns begeistert.

Ob wir Geld wollen? Wenn uns jemand unterstützen möchte, freuen wir uns natürlich sehr. Das ist allerdings kein Spendenaufruf oder Ähnliches. Nicht alles, was einen Wert hat, muss auch einen Preis haben. Es geht uns schlicht um Bewusstseinsbildung. Wir sind nur ein Beispiel von vielen. Neue Zeitschriften entstehen (siehe Seite 69), andere verschwinden, einige begleiten uns weiterhin auf unserem Weg. Wir leben in einer Gesellschaft, die Dinge mit einer Zahl und einem Währungssymbol dahinter verbindet. Diese Zahl für das mosaik einmal aufzuschreiben ist ein erster Schritt in Richtung Transparenz.

euer mosaik

Inhalt

Die alleinige Regie
  • Katharina Körting – Großer Bahnhof
  • Stefan Heyer – Januar
  • Simon Stuhler – Charms
  • Konstantin Arnold – Mammon
  • Katharina Wulkow – Hotelstaub
Zu zart zum Schlagen
  • Marina Büttner – Der Mantel
  • Sophia Fritz – Die sieben Totsünden
  • Harald Kappel – Bang Bang und das ganz normale Glück
  • Mascha Schlubach – Die Mutter
  • Sonja Gruber – Kindheit am Bauernhof
Sicherheitsdienstleistungen
  • Steffen Kurz – Abschluss
  • Johanna Wurzinger – Leumundszeugnis
  • Magdalena Sams – Die Insel / Verhagelte Bananen
  • Lisa Gollub – Siebensachen
  • Marianna Lanz – bienenfleißig
  • Svenja Reiner – Friedrichsblau
Kunststrecke von Mark Daniel Prohaska
BABEL – Übersetzungen
  • Alexander Estis (Übersetzung) – Pirozhki (anonyme Internetgedichte)
Kolumne
  • Peter.W.: Ich habe ein Problem!, Hanuschplatz #15
Zeitschriftenschau
  • Felicitas Biller – „Zwischenräume sollen bewohnt werden“
Buchbesprechung
  • Lisa-Viktoria Niederberger – Beziehungsstatus: Wertvoll (über: Martin Peichl – Wie man Dinge repariert)
Interview
  • Marko Dinić – „Da uns vieles reizt, übersetzen wir alles.“
    (Interview mit Helmut Ege vom Versatorium)
Kreativraum über das Basislager Hüttenberg

freiVERS | Stefan Heyer

alleenbäume

alleenbäume umkurvt, die alten kastanien haben
ihr früchte abgeworfen, goulds krummer rücken
über dem klavier, hastig heben die Kinderhände
auf, drachen sind keine zu sehen, felder leer
daliegend, seine stirn legt sich in falten
kühl der wind pfeifend, wollmützen werden
über die ohren gezogen, in der küche tee
und heiße schokolade, das service der
großmutter hatte ein rotschwarzes Karomuster
der henkel der kanne notdürftig geflickt
die allee gibt es nicht mehr, längst gewichen
der neuen straße, alte wurzeln herausgerissen

Stefan Heyer

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16 | Stefan Heyer

mitternachtsimbiss

wörter fallen, wörter, auf den weg gemacht, farne überwuchern,
ochs und esel mager, rothkos orange verläuft ins dunkle violett,
die saiten des basses schlagen in die tiefe, die geschenke gesucht,
wind verweht, ins unendliche wächst der kirchturm, du flüsters
in mein ohr, lippenbekenntnisse, morgentau legt sich ans
fenster, das himmelsgewölbe, ein sternenzelt, die sterndeuter
packen ihre sieben sachen für die lange reise, der weg ist weit
und unbestimmt, aufgegangen der stern, bittersüß deine küsse
in der nacht, bethlehem noch weit, currywurst zur stärkung,
mitternachtsimbiss, starker kaffee, das firmament leuchtet

Stefan Heyer

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22 | Stefan Heyer

Seine Freunde konnte er nicht fragen

Viel geblieben war nicht von Aleppo. Die meisten Gebäude zerstört. Auch seine Freunde waren weggegangen. Geflohen aus der Stadt. Oder gestorben. Geschossen wurde nicht mehr. Das war auch alles. Das Leben? Musste weitergehen. Letztes Weihnachten hatten sie in der zerstörten Kirche gefeiert. Es war kalt gewesen. Ohne Dachstuhl. Heizen hätte da nicht geholfen. Aber sie hatten gefeiert.

Sein Vater hatte Arbeit. Hatte Glück gehabt. Vater stellte immer noch Seife her.  Wenn er Olivenöl bekam. Und Lorbeer. War nicht leicht, die Sachen zu bekommen. Strom gab es wenig. Ein paar Stunden am Tag. Oft war der Strom plötzlich weg. Wasser gab es auch nicht immer. Das nervte am meisten. Das eine oder andere Haus wurde wieder aufgebaut.

Letztes Jahr hatte Jiro sich zu Weihnachten ein Stück Seife gewünscht. Was sollt er sich dieses Jahr wünschen? Seine Freunde konnte er nicht fragen. Es war kein Krieg mehr in der Stadt. War das jetzt Frieden? Sein Vater konnte es ihm nicht beantworten. Sie lebten. Sie hatten zu essen. Nicht immer. Manchmal hatte er Hunger. Eigentlich fast immer.  Wenn kein Wasser aus der Leitung kam, musste er immer Kanister schleppen.  In der Nähe gab es ein Kloster. Wenn er Hunger hatte, ging er manchmal hin. Die Schwestern hatten auch nicht viel. Doch sie gaben ihm immer etwas.

Mehl war immer knapp. Großvater würde gern mehr Brot backen. Doch sein Ofen blieb oft kalt. Holz gäbe es schon genug. Oder irgendetwas anderes zum Heizen. Doch Brot ohne Mehl konnte auch Großvater nicht backen. Süßigkeiten hatte er schon lange nicht mehr gebacken. Womit auch.  In den Geschichten von Großmutter war Jiro zuhause. Auch wenn das Elternhaus nicht mehr stand. Sie erzählte wunderschöne Geschichten, Märchen. Aleppo muss schön gewesen sein. Das Leben muss schön gewesen sein. Früher. Als es keinen Krieg gegeben hat.

Er hatte keine großen Träume.  Nachts war es jetzt immer still. Und dunkel. Schwarze Ruinenstadt. Überall zerschossene Häuser. Oft wurde er wach in der Nacht. Kroch zu Großmutter ins Bett. Liebte ihr weißes Haar. Vielleicht sollte er sie fragen, was er sich wünschen könnte zu Weihnachten. Jiro konnte lesen und schreiben. Zumindest ein bisschen. Er konnte jetzt wieder zur Schule gehen.  Es gab Container. Die Kirche war immer noch eine Ruine. Noch hatte sie keiner aufgebaut. Schnee würde es dieses Jahr wohl auch nicht geben. Großmutter erzählte ihm manchmal vom Schnee. Schnee müsste herrlich sein.

Stefan Heyer

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freiTEXT | Stefan Heyer

Innere und äußere Mongolei

Die U-Bahnhöfe mied Karl zumeist. Lieber raus aus dem Mief, raus aus der Stadt, zumindest zum Wannsee. Oder gleich bis zur Ostsee. In seinen Träumen fuhr er über weite Steppen. Wurde zum Mongolen. Über die unendliche Weite. Tagelang keine Seele zu sehen. War in Berlin schwierig. Berlin war voll. Auch voller Touristen. Immer wieder ein Rucksack im Genick. Lärm machten sie auch noch. Wollte das Dorf in der Großstadt. Nah zur Arbeit. Cooles Ambiente. Lässige Altbauwohnung. Renoviert. Man war ja älter geworden. Man war ja längst kein Punk mehr. Ohrringe längst rausgemacht. Wohnte in Mitte. Nicht weit zur Politik. War jetzt Beamter geworden. War einfach sicherer. Er musste ja auch an die Zukunft denken. Nomade sein in der Mongolei. Wenn er nachts schlaflos lag. Die Fenster offen. Vom Innenhof die kühle Luft reinkam. In einer Jurte leben. Umherziehen. Unter freiem Himmel schlafen. Morgens ging er immer ins Ministerium. Lässiger Anzug. War nur eine kleine Nummer. Manchmal durfte er für den Chef Reden schreiben. Neulich hatte er sich einen Bart wachsen lassen. Über die Feiertage angefangen. Nein, nicht wie Dschingis Kahn. Für einen Hipster-Bart war er zu kurz. Und zu licht. Sein Chef hatte seltsam geschaut. Ein paar Tage später hatte er ihn abrasiert. Seine Freundin mochte ihn auch nicht. Wenn er nicht einschlafen konnte, lag er oft lang auf dem Bett und träumte. Oder setzte sich auf den Balkon. Sternenhimmel. Als wäre er in der Steppe. Um ihn herum Yaks. Der Wind erzählte von der Steppe. Morgen würde ein anstrengender Tag werden. Manchmal traf man Mongolen in Berlin.

Stefan Heyer

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24 | Stefan Heyer

Ein Stück Seife

In die Socken hatte er den Zettel getan. Mühe sich gegeben. Viel Mühe. Die schönste Schrift. Mit Bleistift und Lineal Linien gezogen auf dem Blatt. Vorgeschrieben jeden Buchstaben. Jeden Schwung. Auch beim Pfarrer war gewesen. Zum Beichten. Wie jedes Jahr. Es war schwierig, ihn zu finden. Gerne wollte er einen Christbaum. Doch es war keiner aufzutreiben. Nicht für Geld, nicht im Tausch. Wie immer würde er an Weihnachten in die Kirche gehen, zum Gottesdienst. Auch ein altes Spielzeug wollte er dem Pfarrer geben, für andere Kinder. Doch fand kein geeignetes. Früher hatte sein Großvater immer besondere Süßigkeiten gebacken. Hatte eine eigene Bäckerei gehabt. Jetzt gab es diese Backstube nicht mehr. Aber Großvater buk hin und wieder, wenn er Mehl bekam, Brot im Keller. Dort hatte er jetzt einen kleinen Ofen, hatte ihn selbst gebaut. Aus Ziegel. Tat seinen Dienst. Aber es war schwierig an Mehl zu kommen. Weihnachten würde auch dies Jahr schön werden, ganz bestimmt. Wie jedes Jahr. Auf den Zettel hatte er nicht viel geschrieben. Ein Stück Seife hat er sich gewünscht, sein Vater machte sie immer noch, auch wenn Olivenöl knapp geworden war, Lorbeer war noch seltener. Ein Stück Seife. Er träumte von einem Bad. Das Haus stand schon lang nicht mehr. Sie wohnten jetzt bei den Großeltern, die hatten mehr Glück gehabt. Bombenangriffe. Auch die Kirche hat es getroffen. Eingestürzt. Nur noch Schutt und Asche. Der Pfarrer lebt noch. Irgendwo würde die Heilige Nacht gefeiert werden. Freiwillig würde seine Familie die Stadt nicht verlassen. Nachts hatte er oft Angst. Schüsse. Raketen. Bomben. Da verkroch er sich ganz tief in sein Bett. Seine Großmutter erzählte dann immer von früher. Aleppo war eine schöne Stadt gewesen. Früher. Eine sehr alte Stadt. 4000 Jahre alt. Viele Menschen haben hier gewohnt, früher, vor dem Krieg. Seine ganzen Freunde sind geflohen. Oder tot. Oft hat er Hunger. Er wusste nicht, ob er die Toten beneiden sollte. Er hat sich ein Stück Seife gewünscht. Weihnachten würde schön werden. Bestimmt. Ganz bestimmt. Und Schnee hatte er sich gewünscht. Schnee für Aleppo. Dann wäre die Stadt wieder schön. Aleppo als Schneelandschaft, kein Staub mehr, keine Steinwüste. Alles wäre ruhig.

Stefan Heyer

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freiTEXT 100

Alt ist er geworden, unser digitales Kind. Mit dieser Veröffentlichung wird er 100. Genau soviele freiTEXTe wurden seit September 2014 veröffentlicht, unterbrochen nur vom Advent-mosaik, manchmal - wie am Tag der Arbeit - ausgebaut.

Nach der ersten Saison haben wir die Texte in einem eBook versammelt. Seit heuer wird er durch den freiVERS ergänzt. Alles zusammen kommen wir auf knapp 150 literarische Veröffentlichungen pro Jahr auf mosaikzeitschrift.at - doch alles fing mit dem freiTEXT an.

Für heute haben wir aufgerufen, uns Texte zu schicken, die eben diese Hundert thematisieren sollen. Dieser Spezial-freiTEXT ist damit ein ganz besonderes mosaik - ergänzt mit Grafiken aus 26 Monaten von Sarah Oswald. So wie dieser hier, die den ersten freiTEXT von Thomas Mulitzer illustrierte:

 

freiTEXT_Illus-1

-

100ml

Sie wollten sichergehen, dass es keinen Sinn machen würde es zu bereuen. Sie tranken gleichzeitig, sahen sich dabei in die Augen. „Alles wird gut werden“, sagte sie. Es schmeckte etwas bitter, als es seine Kehle hinunterlief. Ein wenig wie das Kokain, welches sie vor ein paar Jahren mitbrachte. Es würde nur ein paar Minuten dauern bis die Wirkung spürbar wäre. Er sah auf die Uhr, 1:40 Uhr. Es begann. Sein Blick fiel auf den Plattenspieler, der nicht weit von ihm auf dem Boden stand und Musik spielte, die er noch nie gehört hatte. Sie nahm seine Hand und legte sie in ihre, sagte: „Alles wird gut.“ Ihre Hand fühlte sich sanft an als würde sie einen Handschuh aus Watte tragen. Ein stärker werdendes Kribbeln zog sich von seinen Zehen hinauf über Beine und Torso und endete in seinen Haarspitzen, die er deutlich fühlen konnte. Er fasste sich an den Kopf, zog sich an den Haaren um es los zu werden. „Leg dich hin“, sagte sie, „kämpfe nicht dagegen an“. Alles wurde pelzig, seine Augen schlossen sich von alleine, nichts war mehr spürbar. Nur seine Gedanken waren bedrohlich klar. Er hörte den Regen, die Tropfen, die auf das Fenstersims schlugen und an der Scheibe kleben blieben. Der Klang der Musik legte sich über seinen Körper wie ein Leichentuch. Einzelne Töne strichen ihm durchs Haar, wie seine Mutter es immer getan hatte, wenn er krank gewesen war und fielen auf den Boden. Das Mondlicht quoll durch die Rippen der Jalousien und malte seinen Schatten an die Wand. Ein Stechen durchdrang seinen Brustkorb und beendete die Stille.

Fabian Lenthe

 

Verdampfen

neutro_Freitext 100

Sie hat vor, noch bevor sie zu Hause ankommen, anzusprechen, dass sein Verhalten seit ein paar Tagen schwer auszuhalten ist. Er kann nichts davon wissen, weil er die meiste Zeit damit beschäftigt ist, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Es können nur zwei dafür ausgewählt werden, gemeinsam das Wasser, das sie eigentlich zum Überleben brauchen würden und das gerade noch fallen kann, bevor es verdampft...

Sie lässt sich gern beim Kochen über die Schulter schauen, nur beim Zerkleinern will sie sehen was die ersten Bläschen unten am Boden… Er trauert der Zeit nach, in der sie noch gemeinsam, was noch nicht von ihnen verlangt worden ist... Sie lässt sich nicht ungern Runterdrücken, aber der Spielleiter verlangt von ihnen, es zumindest für die Dauer dieser Szene zu vergessen. Sie bittet ihn um Hilfe, aber meistens gibt er den Teebeutel schon vor dem Abkühlen hinein.

Stehen sie zusammen, wo es so heiß werden kann, dass… Dazwischen ist es möglich zu trinken, aber lassen sie sich zu weit fallen, kippt die Stimmung. Wer als Erster mit einem Bein aus dem eigentlich zum Schutz angelegten Graben, für den Effekt, der bei der Annäherung nicht mehr vergessen werden kann… Er kann ihnen dabei zuschauen, wie sie noch vor dem Verdampfen an den Punkt kommen, an dem das Wasser, in dem sie stehen verdampft.

Es wird selten jemand älter als Hundert, aber so lange es dauert, wissen sie, dass auch während der unangenehmen Minuten… Das Auskochen der Instrumente beschleunigt das Gefühl, das wie gewünscht genau an dem Punkt aufkommt, wenn die Synchronklappe, noch bevor jemand etwas zu ihnen sagt… Die Lampe steht ihnen im Weg, wird aber dafür gebraucht ihre Gesichter glaubwürdig aussehen zu lassen.

.neutro

 

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Nach Ball

Mit dem Zug fuhr ich nach Zürich, mit dem Zug, über die Berge, durch die Wälder, Holzfäller hätte ich werden wollen, Holzfäller, was kann es wahrhaftigeres geben als durch den Wald zu gehen, Tag ein, Tag aus, Holzfäller, die Säge, das Beil auf der Schulter, doch ich saß im Zug nach Zürich, wollte nicht zum Menschen-schlachten an die Front, Franz war so begeistert, Holzfäller hätte ich werden sollen, in einem Bergwald, Ahorn, Fichte, nur die schönsten Tonhölzer, ich klopfte so gerne an die Stämme, das Ohr rieb an der Rinde, für Geigen, für Cellis, Ball hatte mich eingeladen nach Zürich, er sprach von einem Text, er wollte dort etwas vortragen, ich fuhr gerne in die Schweiz, nach Zürich, viel lieber als nach Frankreich, dort lagen sie in den Gräben, die Feinde, die Deutschen, die Franzosen, krochen sich in die Eingeweide. Lieber nach Zürich, dankbar war ich Ball für die Einladung, er sprach von einem Gedicht, er wollte ein Gedicht vortragen. Schlecht hatte ich ihn verstanden, die Leitung war ständig unterbrochen worden, Cabaret Voltaire, dort wollte er sein, lesen, der Zug durchfuhr immer wieder die Bergwälder, mein Ohr wollte an die Bäume, Holzfäller hätte ich werden wollen, nach Cremona hätte ich mein Holz geliefert, auch nach Mittenwald, nach Paris, mein Vater hat es nicht gewollt, zu schwach sei mein Herz, meine Hände zu zart für die Axt, gerne hätt´ich Säge und Axt geschultert. Ball kannte ich kaum, wir waren uns in Berlin begegnet, ihm gefielen meine Bilder, ein Gedicht wollt er vortragen, er sei neugierig auf mein Urteil, die Texte, die er mir am Telefon vorlas, klangen sonderbar. Fremd. Wie von einem Tier. Unheimlich. Franz Josef ist letzte Woche gestorben. Droben in Verdun fressen sie die Eingeweide. Lieber unheimliche Gedichte. Wie sonderbar friedlich es hier im Zug ist. Immer durch die Wälder. Tannen, Fichten, hier und da sieht man Ahorn. Für den Boden ist Ahorn gut. Die Decke muss unbedingt aus Fichte sein. Gleichmässig gewachsen. Keine Artillerie zu hören hier. Keine Salven aus Maschinengewehren. Will nicht fürs Vaterland sterben. Lieber nach Zürich, zu Ball, die Somme ist ein schöner Fluss, lieber zum verrückten Ball, mir gefallen seine Gedichte eigentlich gar nicht, einfach verrückt, der ganze Ball, einfach verrückt, aber der Stahlhelm passt mir nicht, lieber zum verrückten Ball, nach Zürich, Cabaret Voltaire, will keine Gasmaske tragen im Graben, die Handgranaten reißen einem die Arme und Beine weg, dann lieber nach Zürich, immer noch seh ich Bäume, Franz wollte unbedingt in den Krieg, ich hab ihn nicht verstanden, er ist immer auf dem Pferd geritten, zerfetzt hat es ihn, in Stücke gerissen, Meldereiter war er, ist schon ein paar Monate her, ich hab seine Bilder geliebt, aber er wollte unbedingt in den Krieg, der Ball ist nicht mein Freund, eigentlich hasse ich ihn, viel zu arrogant, vollkommen verrückt sind seine Gedichte. Aber er hat mich eingeladen. Ich bin froh. In Verdun werfen sie Gas aufeinander. Verbrennen sich. Durchlöchern sich. Lieber Ball. Seine verrückten Gedichte. Lieber Ball. Bäume hab ich schon länger keine mehr gesehen. Wir müssen gleich da sein, Ball wollte mich abholen, die Räder kreischen schon, die Bremsen, nur die Bremsen, keine Granaten, keine Soldaten, schrill dringt der Ton in meine Ohren, lieber wäre ich Holzfäller geworden. Ich hab den Franz geliebt. Ich seh schon Ball, er steh am Gleis, wie eitel, als wäre er ein Dichter. Pah, dass ich nicht lache.

Stefan Heyer

 

freiTEXT_Illus10-11

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Illusion

Er schlief auf der Parkbank ein. Die feuchte Kälte drang in seinen Kragen und fühlte sich gehässig lachend an. Er spürte es nicht mehr.

Heute war ein guter Tag gewesen, sein Freund Franz hatte einen äußerst spendablen Passanten erwischt, von dessen Geldgabe sie sich eine Flasche Rum holen konnten. So etwas passierte meist nur in der Vorweinachtszeit.

Am nächsten Morgen wachte er auf, die Sonne schien. Es war selten, dass sich gute Tage wiederholten. Gute Tage waren eine Illusion, die kaum wahr wurde. Er hatte sich gestern in weiser Voraussicht ein bisschen vom Rum in den Flachmann gegossen, bevor sie auf die unglaubliche Spende und ihr damit verbundenes Rauschglück angestoßen hatten. So war zumindest schon einmal der Morgen gerettet.

Er streckte sich und blinzelte in die Sonne. Gottseidank kein Regen mehr. Er spürte, wie die Sonne seinen feuchten Parka trocknete, bald würde ihm nicht mehr kalt sein. Nachdem er seinen Rucksack gepackt und seine Schlafutensilien hinter dem Strauch versteckt hatte, machte er sich auf den Weg zu Mitzi.

Mitzi war eine gute Seele. Sie führte eine Imbissbude und schenkte den Obdachlosen in der Gegend morgens Kaffee. Eine dünne Filterkaffeebrühe, die er über alles liebte. Den Rest vom Rum würde er sich in den Kaffee leeren. Was für ein Freudentag.

Als er so dahinschlich, durch die hektisch ins Büro eilenden Menschen, entdeckte er etwas am Boden. Eines haben sie nämlich den anderen voraus, die Sandler: Den Blick auf die Dinge, die am Abgrund liegen. Manch achtlos Weggeworfenes, manchmal Verlorenes, was für uns nur Müll ist, ist ein goldleuchtender Schatz in ihrer Wahrnehmung. Heute fand Ferdl allerdings etwas, dass wirklich jemand verloren haben musste.

An Hunderter.

Er staunte. Es gab lange keine Wiederholungen mehr. Schnell blickte er um sich, und in einer sicheren Sekunde steckte er den Geldschein in seine Jackentasche. Er ging zu Mitzi, trank seinen Kaffee mit Rum und plauderte heiter mit ihr über das Wetter, insgeheim wissend, dass es für ihn in naher Zukunft wirklich gut laufen könnte.

„Heit bist owa guad drauf, wos ned de Sun ois ausmocht“ sagte sie erstaunt.

Er bedankte sich für den Kaffee und ging zurück zu seiner Bank. Er sah sich um, niemand kam des Weges. Zeit, um seinen Schatz genauer zu betrachten. Es war tatsächlich ein Hundert-Euro-Schein. Was sollte er damit machen?

Er könnte endlich seinem Enkel etwas kaufen, eine Carrera Bahn vielleicht! Auch wenn sie ihm die Türe nicht öffneten, er könnte sie davor legen und vielleicht würde er einen Blick durchs Fenster erhaschen, wenn der Kleine sie zum ersten Mal sah.

Oder er könnte mit Franz eine ordentliche Sauftour machen, und das sogar in einem Lokal! Dazu würden sie sich ein Vier-Gänge-Menü gönnen. Dann bräuchte er aber vorher noch neues Gewand. Ein neuer Parka, das wäre auch was! Oder ein neuer Schlafsack, das wäre wohl das sinnvollste. Ja, das ist vernünftig, nun, wo es doch immer kälter werden würde. Er wird zur Feier des Tages eine Flasche Rum für sich und Franz kaufen und dann geht er sich einen neuen Schlafsack holen, vielleicht sogar so einen wasserfesten.

„Fronz kim, i lod di auf a Flascherl ei, du wirst ned glaum, wos ma heit passiert is…

Sie gingen lachen in den Supermarkt und suchten sich voller Vorfreude eine gute, mittelteure Flasche Rum aus.

„I ruaf iaz de Polizei, der is gföscht.“

Kälte. Regen. Kaffee ohne Rum.

Doris Leeb

 

freiTEXT_Illus10-1

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unendliches²

es geht ums laufen, um den grund und den weg dorthin. den weg, der bislang gelaufen ist. zwischen gefalteten gleichungen, die einen nicht weiterbringen, weil man sie erst entfalten muss, und einen zum stehenbleiben zwingen, wo stehenzubleiben keine option ist, wo der weg das ziel ist und nicht ins ziel. wo man sich wohlfühlen soll, obwohl es kein wohlfühlen gibt.

wenn ich an die tage denke, wo mir der lauf sinnlos erschien, weil die trägheit einem glauben machen will, es sei der richtige weg, auf dem liegen und gehen gleich sind, wo man am rücken liegend vorwärtsgeht, statt aufwärts oder eben gar nicht vorankommt.

stand ich da, kreuzungsgleich, in der mitte liegend, mit ausgestreckten armen und rannte, ohne zu steigen. da war ich. und da war sie.

in der seitenstraße, durch einen hochhäuserblock getrennt, aneinander denkend, wo der gedanke doch vorbeigeht. lagen wir gen himmel gerichtet, ohne jemals gemeinsam in den siebten zu gelangen, rannten wir gemeinsam fort, um uns im laufe zu verlieren, weil die ziellinie erreicht war, noch bevor wir dem ziel auf den grund gegangen waren.

wollte ich auf-grund, dessen faltete ich wolken zu steinstraßen, um neue wege zu gehen. gen himmel, richtung ab-grund.

doch ich rannte nicht, ich flog, im fliegenden fall: gravitation!, um wieder am anfang zu landen, wo es ent-stand. ent-stehend gegangen bin, weil ich immer am suchen war, doch nie an dieser stelle fündig wurde. war sie immer noch da, auf der straße zwischen „für immer“ und „verfluchten neuanfängen“ von „kann es nicht für immer so sein“ zu „jeder moment vergeht“.

kamen wir zum letzten, wo man sich zuwinkt und umarmt, wo man wieder gemeinsam zum stehen kommt, wo gehen erst danach sinn macht, weil der letzte moment in einer zeitschleife steht, um immer gleich zu verlaufen. waren wir für hunderte momente gefangen, um danach von einander getrennte wege zu gehen.

wo nur einer einen lauf hat. wo man sich fragt, ob laufen sinnvoll ist, oder der sinn im stehen liegt, wo man weiterläuft, auch wenn es nicht läuft, um wieder zum erliegen zu kommen, an der kreuzung, mit den ausgestreckten armen und dem blick gen himmel, zweier gedanken aneinander, die wieder vergehen. wo man wieder laufen will, weil stehenbleiben keine option ist, obwohl man einen stand hat. geht man weiter, geht man und läuft auf grund, auf dem weg ins ungewisse zwischen entfalteten gleichungen und ziellinien, über die man fliegt, weil man steigt, um wieder zu fallen, denn angekommen - ist man erst am grund.

Raoul Eisele

 

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1100100

Da sitze ich hier und picke die Erbsen und Linsen auseinander. Die Erbsen nach links und die Linsen nach rechts. Oder andersherum. Dazwischen ein Haufen Dreck. Die Erbsen sind gut, die Linsen auch. Aber nicht alle. Was mache ich mit den halben Erbsen?

Wenn ich meine Arbeit schnell mache, dann ist es leicht: Linsen und Erbsen hier, und den Dreck dorthin. Die Guten ins Töpfchen, und die schlechten … Wenn ich nur ganz flüchtig schaue, kann ich leicht entscheiden, welche gut sind und welche schlecht.

Zum Schluß liegen viele halbe Erbsen und viele Linsenkrümel im Abfallhaufen. Vielleicht nehme ich die größeren davon und lege sie auf einen vierten Haufen. Muß ich noch einmal zwischen Linsen und Erbsen unterscheiden? Die Weizenkörner im Dreckhaufen habe ich vorher ignoriert, weil ich nur Linsen und Erbsen sortieren sollte. Leinsamen sind auch dabei, und Mohn. Wieviele Haufen benötige ich, und wird sich die Arbeit lohnen – oder sollte ich alles den Tauben zum Fraß vorwerfen …

Annett Groh

 

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Scheinwelt

Es heißt, ich sei ichbezogen. Dabei existiert kein Ich. Ich bin Einhundert, ich bin viele.

Zugegeben, die Welt dreht sich um mich. Von alldem bekomme ich aber nichts mit, ich bleibe im Dunkel. Mit anderen Scheinen bin ich gebündelt in Tresoren, gestapelt in Registrierkassen und gequetscht in Brieftaschen.

„Geben und geben lassen“, gab mir die Maschine, die mich gedruckt hat, mit auf meinen Gebensweg. Ich bringe mich immer voll ein, ich kann nicht anders. Ich bin Einhundert. Nicht mehr, nicht weniger. Aber das eigentliche Ausgeben, das wahre Hingeben und das tatsächliche Vergeben, das übernehmen helfende Hände. Erneut holen mich Finger aus meiner Verwahrung. Von den eingecremten Hautrillen bleiben ölige Abdrücke und eine Duftnote an mir haften. Die jungen Finger legen mich in eine zerfurchte Handfläche, die mich sogleich zwischen die Flügel einer Geburtstagskarte gleiten lässt. Ich soll nicht zerknittern, wieder einmal bin ich ein Geschenk.

Die Zeit vergeht. Schließlich öffnen flinke Finger die Karte, eine schlichte Melodie ertönt. Ich bin ein Preis, der im kleinen Rahmen verliehen und gierig angenommen wird. Dabei sind Geburtstage pervers. Ich bin Einhundert, wir sind viele. Wir sind da, um Leistung zu feiern. Auf der Welt zu sein, ist keine Leistung. Ich kann nur eine Gefahrenzulage sein, ein Jahr überlebt zu haben. Der Lohn ist das Leben an sich.

Die kleine Hand schiebt mich in eine Geldbörse aus Polyester. Auf ihr sind Superhelden abgebildet, darunter der Befehl „Assemble“. Den Gefallen kann ich dem Kind nicht tun, denn lange bleibe ich nicht. Der Klettverschluss der Börse wird aufgerissen, spitze Finger mit Dreck unter den Nägeln zerren mich in den orangen Laternenschein der Nacht. Die Pranke schleudert die Superhelden ins Nichts. Unsymmetrisch zusammengefaltet lande ich in einer Hosentasche. Fasern reiben sich an mir. Ich kriege Falten. Das Dasein als Beute ist hart, aber nicht ohne seine Reize. Um mich zu bekommen, hat sich jemand angestrengt, hat Hand- und Schlagqualität bewiesen. So dreht sich die Welt.

Ein stahlharter Griff zieht mich aus der Jeans hervor. Eingeklemmt in der Faust färbt Schmutz auf mich ab. Das ist die Geldklammer des Kleinkriminellen. Ich sehe eine andere Hand auf mich zukommen: Zuerst denke ich an eine Begrüßung, doch ich erkenne– es ist ein Geiselaustausch. In einem nahtlosen Übergang wechsle ich den Besitzer. Ein Säckchen, gefüllt mit graubraunem Pulver, schiebt sich an mir vorbei.

Ich werde zu anderen Einhundertern transportiert, alle zusammengerollt und von einem Gummiband umwunden. Ich geselle mich zu ihnen. Ich bin Einhundert von Hundert. Aber ich bin nicht naiv: Wir sind kein Baum, der mit jedem neuen Schein Ring um Ring organisch wächst. Wir sind ein Bündel schmieriger Wäsche, das in die Reinigung muss. So kommen wir in einen strahlenden Salon. Die grünen Teppiche sehen aus, als wären die Böden mit fälschungssicheren Mustern von Geldscheinen ausgelegt worden - Ornamente aus sich überlappenden und ineinander verwickelten Linienzügen. Auf den Waschautomaten blinken die Worte „Glück“ und „Gold“. Wir werden durch einen goldenen Bogen gereicht und gegen Jetons eingetauscht. Nur sie haben in diesem Glitzer-Wunderland einen Wert, während wir in der Welt draußen alles zählen. Irgendwo ist doch jeder von uns in seiner Zahlungsfunktion behindert.

Mein Spielgeld-Zwilling kehrt zurück, er wird gegen kleinere und saubere Scheine eingetauscht. Es dauert, bis ich ausgezahlt werde – in eine Hand, die vor Aufregung zittert. Ich sehe den grünen Boden unter mir, mit den ungleichmäßigen, geschlossenen Ellipsen darauf. Die Hand trägt mich mehrere Stockwerke höher. Angekommen in einem Zimmer werde ich weitergereicht. Finger mit grellrot lackierten Nägeln stecken mich ein. Zuerst denke ich, in eine Brieftasche geschoben zu werden. Doch spüre ich auf der einen Seite Leder und auf der anderen Seite Haut. Diese Körperstelle ist mir fremd. Ich kenne nur Hände. All die Bakterien, die von dort kommen und sich im Laufe der Zeit auf mir angesammelt haben, lernen so endlich Neuland kennen. Der Untergrund beginnt zu beben. Tropfen um Tropfen bildet sich ein Fluss aus Schweiß, auf dem die Bakterien besser übersetzen können. Die Feuchtigkeit optimiert aber auch die Überlebensbedingungen auf mir. Es ist ein Milieu, in dem Keime sich wohlfühlen.

Das Naturschauspiel dauert nicht lange. Meine Weiterreise ist eine altbekannte: Ich gelange erneut zur goldenen Durchreiche, an der ich wieder gegen falsches Geld gewechselt werde. Alles wiederholt sich: Zuerst warte ich, dann zahlt man mich aus, ich werde verjubelt, komme an den Ursprung zurück und warte wieder. Ich drehe mich wie in der Trommel einer Waschmaschine. Doch jeder Waschgang hat ein Ende.

Schließlich werde ich vom Tauschposten mit anderen Scheinen in einen Tresor-Raum verbracht und zusammengepackt. Wir sind lebendig eingeschweißt in Sarkophage aus Plastik. Ich bin Einhundert von Eintausend. Das Massengrab ist voll. Dann fallen die Grabräuber ein. Alles an ihnen ist schwarz: Die Skimasken, aus deren Schlitzen ihre Augen starren. Die Handschuhe, mit denen sie unsere Stapel greifen. Die Taschen, in welche sie uns werfen. Der Transport ist holprig. Wir werden hin- und hergeworfen. Zuerst kracht es in der Ferne – es sind Schüsse, die näher kommen. Unsere Tasche wird getroffen. Ich und andere werden ins Freie geschleudert, hinauf bis in die Himmelswolken, die sich aus dem Rauch von abgefeuerten Waffen gebildet haben. Brennend und zerfetzt rotiere ich durch die Luft. Unter mir ein Feuerwerk, das zu unseren Ehren veranstaltet wird. Ich schwebe gegen den Boden hin und setze auf einer roten Landebahn auf. Ich sauge mich voll mit Blut.

Ich bin verkrüppelte Einhundert. Die Finger, die mich einsammeln, sind von künstlicher Haut überzogen. Sie tüten mich ein – wie in Quarantäne, so als hätte ich mich mit einer Krankheit infiziert. Ich werde weggebracht und auf einem Regal abgelegt - gemeinsam mit den Waffen und den Masken. Eines Tages werde ich geholt und als einzelner Schein in einem Koffer verstaut. Alleine in einem Geldkoffer zu sein, ist ein seltsames Gefühl. Eine Hand nimmt mich heraus und hält mich in dramatischer Weise vor viele Gesichter. Von Beweiskraft ist die Rede. Wenn ich ein Beweis sein sollte, dann weiß ich nicht, wofür: Was der Mensch mit Geld macht, oder, was Geld mit dem Menschen macht. Vielleicht bin ich auch selbst Angeklagter. Ich bin ein zerstörter Geldschein. Damit bin ich meinen Wert los.

Nach dem Theater komme ich zurück in das Regal. Gelegentlich flackern Leuchtstoffröhren auf. Um mich herum werden alle geholt. Sie haben noch einen Nutzen, die Waffen und die Masken können eingesetzt werden. Im Gegensatz zu mir, einem Stück bedruckter Baumwolle, das nur noch vernichtet werden kann, damit ein neuer Schein mit meinem Wert ausgegeben wird. Tatsächlich holen sie auch mich und legen mich auf eine durchsichtige Platte. Ich warte auf die Säure als meine Todesstrafe. Sie kommt nicht. Ich warte auf das Feuer, weil mir die Schuld an allem gegeben wird. Statt Flammen legt sich eine zweite Kunststoffplatte über mich. Zwischen den Platten eingeschlossen werde ich auf ein Podest gehoben, welches in einer Vitrine verschlossen wird. Zeigefinger kommen nahe an die Vitrine und Hände pressen sich gegen meine Zellenwand: Es ist wieder ein Gefängnis, aber ein transparentes. Draußen erkenne ich ein Banner: „Geldmuseum - Ausstellungseröffnung“. In Dauerwiederholung beginnt ein Lautsprecher unter meiner Vitrine einen Song zu spielen - ein Rap mit dem Titel „Scheinwelt“.

Die Begeisterung der Museumsbesucher begreife ich zuerst nicht. Ich sehe mich in der Spiegelung der Vitrine - löchrig, verbrannt und verkrustet von Blut. Wirtschaftlich bin ich nur noch ein reiner Schein. Ich war Einhundert. Doch ich verstehe, dass Geld immer zwei Seiten hat, die wirtschaftliche und die magische. Denn durch meinen Gebensweg bin ich nun mehr wert als Einhundert. Die Hände, die mir nahekommen, wollen mich an sich nehmen, doch ich bin unerschwinglich geworden. Die leeren Hände können nur eines tun. Also klatschen sie.

Markus Grundtner

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Der Papierkorb

Unter dem Schreibtisch
manchmal steht er auch etwas weiter
entfernt
wartet der Papierkorb

gefüllt will er werden
bekritzelte Zeitungen
vertippte Seiten auf der Schreibmaschine
Fehldrucke

schlechte Texte, falsche Wörter
die Spuren des Bleistifts
durchgestrichene, zerrissene Seiten
mit Wut geworfene Papierbälle

Flieger voller Langeweile
mitunter auch Bleistiftanspitzreste
leere Patronen
doch hier und da nimmt

eine Hand ein Stück Papier
wieder heraus, streicht es glatt
liest noch einmal und

findet Gefallen an den Worten
den Sätzen, ein Lächeln
fährt über das Gesicht

Stefan Heyer

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