Fragmente

Weißt du, heute, da habe ich am Straßenrand eine Pflanze entdeckt, ich weiß nicht, wie sie heißt. Das ist eine Hasenohren-Pflanze, erzählte mir als Kind jemand, weil die Struktur so weich ist, und das ist wohl die einzige Info, die ich mir dazu je merken werde, egal wie oft ich versuche, auch den botanischen Namen im Gedächtnis zu behalten. Dort wo die Hasenohren wuchsen, in dem Park, da gab es viele Weiden. Die Äste konnte man schön biegen, wenn sie jung und nass waren, und sie brachen natürlich, wenn man das gleiche mit vertrockneten Exemplaren probierte. Viele Menschen in meinem Leben verstehen das nicht. Dass Härte nicht widerstandsfähig ist. Dass man irgendwann an ihr zerbricht. Ich weiß noch, als ich im Zug saß, um dich zu besuchen, und das Abteil alt und grau und laut war. Ich weiß noch, dass ich mit dir um den See spazierte, dass ich übernachtete, dass du mir die Weidenkörbe zeigtest, die du in den Nachmittagsgruppen basteltest, einer war beige und oval, der andere kreisrund mit roten Striemen. Frühstück nahmen alle gemeinsam zu sich und jeder hatte einen Zettel vor sich liegen mit Platz für Notizen. Bei uns saß keine Aufsicht, am Tisch daneben war das anders. Das mit den Zetteln blieb eine Weile so, ich weiß nicht, ob du nach wie vor tagtäglich Smileys schreibst oder streichst. Aber als du mich von der Wohnung aus anriefst, da waren sie aktuell, es gab zu der Zeit nicht viele. Ich ging den gewohnten Weg und mit dem Extraschlüssel in der Hand zu dir, öffnete die Tür. Und weißt du, das was ich dir hier erzähle, ich weiß, dass alles davon wirklich war. Aber wenn ich Fragmente zusammenfüge und auseinanderreiße und überlagere, dann entstehen Bewegtbilder in einer spezifischen Reihenfolge, von der du nichts wissen kannst, deshalb erzähle ich. Deshalb erzähle ich dir, dass es ein kleines Zimmer ist, in das ich trete, dass der Teppich einen intensiven Eigengeruch hat, der nicht verfliegt. Ich sage dir, dass alles gut wird und streiche über deinen Rücken, sage dir, dass es mir gut geht, das stimmt nicht, aber du bemerkst es nicht. Ich decke dich zu und sage dir, dass ich die Vorhänge und Fenster aufmachen, dass ich die Küche und das Bad putzen werde, dass ich bleibe, bis du dich geduscht und angezogen hast.

Manchmal denke ich, dass wir an unterschiedlichen Punkten unserer Zeitbahn sind, du und ich, und dass das gut ist, dass du manchmal vorne bist und mich nachziehst, und dass ich manchmal weiter bin und dir abgesteckte Routen anbiete. Das denke ich nicht, sagst du dann und erklärst mir Statik und Steigungswinkel von multiversischen Wegen und dass zusammensteigen eine gute Idee ist. Dann holst du deine Geige aus dem Koffer und den Bogen, der neu bespannt ist und spielst mir ein Stück, das sich nur hier und sonst nirgends spielen lässt. Jedes Mal nennst du mir den Titel, und jedes Mal vergesse ich ihn mit dem letzten Ton und kann ihn also nicht recherchieren oder selbst erlernen, sondern warte dann wieder, bis wir uns begegnen, damit ich die Melodie, die ich so gerne höre, zwischen uns habe. Spielst du es noch einmal für mich, frage ich. Natürlich, sagst du, und wiegst mich in einen Welt voller Schiefertafeln und eingerahmter Ausblicke, voller zweirädriger Kutschen und vielschichtiger Klippen. An dieser einen Klippe, da war niemand sonst, und wir hatten alles für uns allein, weißt du noch? Wir lagen drei Meter vor dem Klippenrand auf dem Boden und robbten langsam vor, bis wir hinunterblicken konnten zu den Felsen, so, dass wir sicher sein konnten, dass wir nicht ausrutschend fallen. Und dann robbten wir zurück und freuten uns mit ein paar Möwen über unsere waghalsigen Robbenkünste. Wir liefen Trampelpfaden nach und spazierten über Felder mit Schaukeln an Bäumen, und manchmal setzten wir uns darauf und ließen uns windschaukeln. Und manchmal gingen wir zwei Stunden, um Karottenkuchen zu essen. Dann bestellten wir zwei Stück und bekamen ein drittes geschenkt, setzten uns auf die Mauer und beobachteten, wer gleichzeitig mit uns Karottenkuchenstücke aß. An Wäscheleinen hängten wir bunt-geringelte und bunt-gepunktete Socken auf und vorbeigehenden Menschen erklärten wir Himmelsrichtungen, weißt du noch? Und dann hattest du einmal Halsschmerzen und ich brachte dir eine rohe Zwiebel zum Essen, aber krank wurdest du trotzdem und ich auch. Spielst du es noch einmal für mich, frage ich wieder.

Von einer Situation weiß ich sicher, dass nicht nur ich mich daran erinnere, dass auch du dich daran erinnerst. Wir saßen auf einer Steinbank. In einiger Entfernung vor uns war ein künstlich angelegter Weiher, in der Mitte ein Springbrunnen, auf der gegenüberliegenden Seite Eltern mit spielenden Kindern, die wir gelegentlich beobachteten. Ich weiß noch, dass wir beide ein graues Oberteil trugen, ich weiß noch, dass deine Hose blau und meine schwarz war. Dass deine Haare an dem Tag einen frischen Schnitt hatten. Ich weiß noch, wie dein Pappbecher herunterfiel auf den Kiesboden, wie wir uns beide danach bückten und sich unsere Finger für einen Sekundenbruchteil berührten. Für einen Sekundenbruchteil hielten wir die Luft an und es existierte kurz nichts um uns herum, kein Geräusch, keine Windbrise, nichts. Das ist das Bild in meinem Kopf. Und wenn ich dort hingehe, in dieses Bild eintauche, dann setze ich mich auf die gegenüberliegende Seite, dort wo die spielenden Kindern sind und beobachte dich und mich. Sehe deine weißen Sneaker und meinen Hut, sehe Verwunderung, aber keine Überraschung in unseren Augen. Ich sehe, was wir nicht bemerken, wie eine Person ihren Hund von der Leine lässt, wie eine andere stehenbleibt, um zu telefonieren, Zigarettenstummel neben dem Mülleimer, ein Ball, der in unsere Richtung kullert, Enten, die sich an einer Stelle tummeln, weil jemand Brotstücke verteilt, Lichterketten zwischen Bäumen. Wenn ich dann nach einiger Zeit aufstehe und nachhause gehe, in meine Wohnung, dann lass ich dich und mich dort sitzen, in diesem Moment. Und wenn ich dann die Treppe hinaufsteige, die Tür hinter mir schließe, den Schlüssel umdrehe und den Wasserkessel auf den Herd stelle, dann atme ich tief ein und aus, um sicher zu sein aus dem Bild wieder herausgefunden zu haben, dann setze ich mich mit einer Tasse Tee vor eine Pflanze und begutachte jedes Blatt, das gerade am Sich-freiwachsen ist.

 

Katharina Kiening

 

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