23 | Sarah Claire Wray

c scham

ich war und bin und werde immer sein
durch arbeit definiert

schaffe schaffe häusle baue

nur wer leistet,
ist
ein guter mensch ein lieber mensch
ein mensch der von anderen gelobt wird

doch jetzt ist alle leistung still gedreht.

und ich ich bin

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Sarah Claire Wray

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18 | Gloria Ballhause

Siebzehn Minuten, 2020

Zu Steven gehen. Von Steven kommen. Straßen entlanglaufen, die im verordneten Dornröschenschlaf vor sich hindämmern. Das Schwappen in den inneren Fässern hören, die nicht umkippen dürfen, weil du sonst nirgendwohin mehr gehst. Auch nicht zu Steven.

Das Zu-Steven-Gehen dauert siebzehn Minuten. Das sind siebzehn Minuten, in denen du die Fässer durch die Straßen balancierst vorbei an Menschen, die wie du sacht ihre Schritte setzen. Katzenmenschen überall, in dieser Stadt, in der doch sonst immer jemand schreit oder mit den Füßen auf den Boden stampft.

Und immer, wenn du zu Steven gehst, bleibt jemand plötzlich stehen. An einer Kreuzung oder einer Hausecke, jemand, der unausgeschlafen aussieht und in den Himmel blinzelt. Ein Mensch, der sich zu fragen scheint, wohin wollte ich, wohin soll ich, und jedes Mal, nach ein paar Sekunden, mit einem Ruck wieder losläuft. Als sei es ihm eingefallen, als wüsste er jetzt das Wohin. Das Sollen. Und du freust dich in diesen siebzehn Minuten, dass es dir selbst heute nicht einfallen muss.

Deine Schritte sind siebzehn Minuten lang abgezählt. Du hast nicht genug für zwanzig Minuten oder auch nur für achtzehn. Zu-Steven-gehen heißt, zu wissen wohin mit dir und warum. Beides hat die Umrisse von Stevens Hand, die deine Schulter entlangstreicht, ohne etwas zu fordern; die dich auf ein Floß im Meer zieht. Der Trick ist, denkst du, sich nie an den Holzplanken festzuhalten, sondern immer am Meer.

Das Von-Steven-Kommen dauert dagegen länger, es dehnt sich aus. Fünfundzwanzig Minuten sind es meist, manchmal zählst du sogar fünfundreißig. Je nachdem, wie dir die Zeit unter den Füßen wegdriftet, weil du hier und da langsamer gehst, in den Taschen nach imaginären Zigaretten suchst, herumguckst, ohne etwas zu sehen. Immer läuft die gleiche Playlist dabei. Rauf und runter. Die Fässer sind jedoch still.

Alles in allem stimmt aber etwas mit dem Zu-Steven-Gehen nicht. Wenn du zuhause die Tür hinter dir schließt, aus den Schuhen schlüpfst und es aufhört, das Zu-Steven-Gehen-Von-Steven-Kommen, gibt es keine Verschnaufpause. Es gibt keine Ruhe, alles beginnt vorn, das Schwanken und Schwappen, das Warten. Das Warten auf das Zu-Steven-Gehen.

Und du fragst dich, warum immer nur du gehst.

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Gloria Ballhause

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15 | blume (michael johann bauer)

placebo=effekt

an manchen tagen findet der streit kein ende
ihr akkumuliert stress ohne sinnvolles ventil
fuehrt beinahe jede begegnung zur explosion
eurer unter der haut abgelagerten miniminen
keine letalen folgen & dennoch zermuerbend
die regelmaeszigkeit mangels fluchtraum esc-
taste die man einfach mal schnell betaetigen
koennte seid ihr euch ja absolut ausgeliefert
zu dritt in dieser viel zu winzigen wohnung
& vor lauter auf & ab & hin & her vergesst
ihr in diesem jahr sogar nikolaus zu feiern
waehrend weihnachten stur naeherrueckt
peinigen euch ploetzlich gewissensbisse
& ihr blickt euch endlich wieder richtig
an mit zuneigung liebkost euch & lacht
ueber die borniertheit in euren herzen
macht sich eine wohlige waerme breit

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blume (michael johann bauer)

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14 | K.E. Muetze

Fleischwolf

 

1

In der Millimeterschlucht
die zwischen Abend liegt und Morgen
da schießt und schweigt der Pilz
da ruft die Unke, heult der Kauz
da steht und träumt ein Alter
ein Alter ohne Ego, ein Zwerg, sagt man
der dreht am Rad der Wortmaschine
als wärs das Weltenrad

 

2

Sie mahlt, so hört man, Kauz und Unke
zu einem Brei aus Blut und Federn
den formt der Zwerg zu Versen
und hält die dann am Spieß ins Feuer
und wenn sie kross sind, steht er auf
und liest sie lauthals vor

 

3

Doch hört man auch: dass die Maschine
mit dem Rad ihm Laub und Äste häckselt
zu einem Stückwerk, das er dann
auf Sand und Häute schreibt: behutsam so
dass all die Pfade und Verstecke bleiben
fürs Getier, das in den Schluchten haust:
zwischen Abend Morgen
zwischen Leere Fülle
zwischen Wort und Wort

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K.E. Muetze

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13 | Harald Kappel

Sternsinger

 

am Montag
kommt niemals die Post
ich streichle einen Hund
begrabe
die Arbeit in der Tasche
berühre einen Baum

im Badezimmer
putzen sich Sternsinger
die Zähne
zauberhaft
beraubt mich ein Brief
meiner Sprache

ich blättere in deinem Leib
suche falsche Komplimente
die Zitzen sind ausgetrocknet
eine Libelle fliegt
durchs Nadelöhr
mein Verstehen ist verschüttet

am Montag
kommt der Milchbote
ich begrabe den Hund
streichle die Arbeit
berühre mich selbst
niemals
das ist alles

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Harald Kappel

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12 | Simon Stockinger

Schiebetür

What fresh hell can this be?
Dorothy Parker

Aus irgendeinem Grund öffnet die Schiebetür sich nicht, sondern zeigt mir nur mein Spiegelbild, blass, von der Sonne angeknallt, einzelne Haare wie weiße Leuchtfäden. Eine große Frau mit Hut wird hinter mir immer größer und schreit „Cornelia“, die Tür öffnet sich für sie, ich verschwinde vor mir, die Frau überholt mich und Cornelia überholt sie mit hüpfenden Locken und einem alt aussehenden Autorückspiegel in der Hand. Ganz kurz fängt mich der Rückspiegel ein, dann sind Mutter und Kind verschwunden, hinter irgendwelchen Regalen.

Der Mitarbeiter wirkt enttäuscht und fragt mich, ob ich das getan hätte. Wir stehen beide vor unzähligen bunten Plastikbehältern mit Flüssigwaschmitteln. Ich schüttle den Kopf und sage, dass ich gar kein Interesse an Waschmittel hätte, dass mir nur heiß gewesen sei. Jetzt rutschen dem Mitarbeiter die Schultern runter, während er laut ausatmet, dann verschränkt er die Arme und nickt. Wir starren beide auf eine leuchtend violette Packung von Persil, in deren unteres Drittel, direkt unter dem Etikett, ein sehr präzises kleines Loch gestanzt wurde. Aus dem Loch tritt gleichmäßig und langsam das Waschmittel.

Ich sage: Was sagt man dazu. Und: Alle möglichen Gedanken drängen sich auf. Aja, sagt der Mitarbeiter und es klingt halb wie eine Frage, halb wie Zustimmung. Dann sagt er sehr nüchtern: Wer könnte das gewesen sein.

Ich merke, durch unser beider Alltag bläst jetzt eine ganz frische Böe, kurz geht es sogar in meinem Bauch elektrisiert zu und ich sehe, wie witzig alles ist. Ich blicke den Ladenmitarbeiter erstmals länger an, er ist untersetzt, trägt eine Schürze, trägt Koteletten und eine runde bronzen-gerahmte Brille, und schafft es trotz alldem humorlos auszusehen. Dennoch: Die Situation, dieses Rätsel, verpasst dem Tag einen unerwarteten Farbton, eine Leichtigkeit, vielleicht weniger: Ein Lachfältchen – und ich stehe hier mit einem Schicksalsgenossen. Irgendetwas Witziges sollte mir doch zu sagen einfallen. Ich überlege und blicke auf sein Namensschild. Hans. Ich überlege weiter; irgendwas muss sich aus dieser Situation machen lassen.

Da sagt Hans: Das gibt’s nicht.
Was?
Na, sehen Sie das nicht. Eins nach dem anderen jetzt.

Ich sehe es. Viele bunte, zähe Rinnsale, sie fallen als einzelne Strahlen, bilden kleine Seen auf den Regalflächen, die eine Etage tiefer liegen, fallen dann von diesen in mehreren Fällen, manchmal nur in langsamen Tropfen; mir fällt nichts ein. Es ist zu verrückt und doch ist alles wie davor; die kleine Entrückung wird schon zur Belastung.

Cornelias Mutter hält ein Werkzeug, von dessen Griff ein schmales Metallteil weggeht in der einen, und einen eleganten Hammer in der anderen Hand; sie geht in einer tänzerisch wirkenden Schrittfolgen auf das Regal zu, schlägt mit dem Werkzeug und dem Hammer ein Loch in einen Flüssigwaschmittelbehälter und entfernt sich schließlich wieder mit derselben Tanzschrittfolge rückwärts von dem Regal.

Hans fragt mich unsinnigerweise: Sehen Sie das?
Ich will unserer Schicksalsgemeinschaft auf die Sprünge helfen, schließlich haben wir jetzt einen gemeinsamen Feind.
Ich frage: Was sollen wir tun?
Hans sagt: Wir? Ich sage: Na, Sie sehen das doch.

Irgendetwas stimmt nicht mit Hans, es wirkt, als würde er gleich etwas Unüberlegtes tun. Ich sage: Jetzt nur keine Affekthandlungen, Hans!

Er blickt mich entgeistert an und deutet unbestimmt und seltsam langsam auf die Frau. Wo ist ihre Tochter?
Ich sage zu Hans: Sie hat eine Tochter.
Was? Kennen Sie diese Frau etwa?
Wir sind gemeinsam hereingekommen.

Cornelia kauert hinter einem Regal und schaut der Tätigkeit ihrer Mutter zu. Sie macht kleine Mundbewegungen; es wirkt, als würde sie immer wieder Mama sagen oder wie eine Kaulquappe nach Luft schnappen, kein Ton kommt heraus. Das sieht schrecklich aus, abgründig, und verdirbt mir gehörig die Laune. Ich zeige auf das Mädchen und will etwas zu Hans sagen. Der steht aber inzwischen bei der Frau, Cornelias Mutter, hat eine Hand auf ihrer Schulter und begleitet unbeholfen ihre Schrittfolgen, redet dabei offensichtlich beruhigend auf sie ein. Jetzt wirkt es wirklich wie ein Tanz; es wirkt, als gehöre es so und nicht anders, als wäre es davor unvollständig gewesen.

Ich merke, die Einschätzung der Situation fällt mir zunehmend schwer, der klimatisierte Raum hilft auch nicht mehr; ich beschließe zu gehen, jetzt. Am Weg nach draußen sehe ich noch einmal den Rückspiegel; Cornelia hat ihn einfach in der Mitte des Gangs mit den Parfums und Deodorants liegen lassen. Das wäre nun eine Chance doch noch einmal in die Situation einzusteigen, in Kontakt zu treten, hilfreich zu intervenieren, somit ein Teil davon zu werden; es würde sich bestimmt gut anfühlen. Aber meine Beine tragen mich träge weiter in Richtung der Schiebetür.

Als ich davor stehe, geht das Ding nicht auf. Ich sehe kein Spiegelbild, nur das Gleißen eines Tages, der sich selbst satt zu haben scheint.

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Simon Stockinger

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11 | Tara Meister

Scheinlich

„Welche?“

Alex‘ Finger fahren über die raue Oberfläche der Walnusshälften, lustvoll, als wären es Mini-Brüste oder Riesen-Klitoris. Er hat gelbe Fingernägel, vom Rauchen. Er hat mir schon acht Euro abgenommen.

„Ich will nicht mehr, Alex.“

„Komm, rat noch einmal. Gibt auch Rabatt. Familienrabatt.“

Das flockige Wachs, das ich vom Kerzenständer gekratzt habe, während ich überlege, liegt überall verstreut und es sieht hässlich aus. Ich kratze mich am Bart. Unter welcher halben Nuss liegt die Glasmurmel?

Im Licht tanzt der Staub. Alex sieht zufrieden aus, oder wenigstens amüsiert. „Ich spürs, Mann. Dieses Mal hast dus, dieses Mal wirds was.“

„Du weißt, warum ich heute da bin, oder?“ Ich versuche das Wachs mit meinen warmen Fingern wieder an den Kerzenständer zu kleben. „Wir müssen da heute hin zu diesem Termin. Diesmal wirklich.“

Ich sehe mich wiederholt um, in gewisser Weise befriedigt, dass in diesem Raum unmöglich ein Kind großwerden kann.

„Das ist deine Chance“, Alex zeigt wieder auf die Nüsse, als hätte ich nichts gesagt, „einmal noch. Du bist doch so das brain.“

„Doch!“, ruft er aufgeregt als ich abwehre. „Doch das bist du, Mann. Wahnsinn, was du denen da vorhin vorgerechnet hast, du hast total rasiert.“

„Das… das war nur ein bisschen Kopfrechnen, Alex, sonst gar nichts. Den Grammpreis mal die Anzahl und dann zehn Prozent abgezogen. Das war gar nichts.“

„Also ich kann das nicht.“

Meine Hände sind mittlerweile klebrig feucht. „Solltest du aber. Das ist doch ganz… einfach alles. Das brauchst du fürs Leben. Hey, wenn dich deine Dealer verarschen können, dann werden dich alle verarschen!“

Alex nickt langsam, seine Augen sind schmal und rot.

„Also was ist? Versuchst dus nochmal?“

Die drei Nussschalen liegen vor ihm auf dem Tisch. Es waren ursprünglich drei Engel, Weihnachtsdeko, die ihm seine Mutter geschickt hatte, damit es ein wenig feierlich wird in seiner Wohnung. Alex hat die Köpfe abgelöst, sorgfältig, damit sie alle gleich aussahen, und ein Spiel daraus gemacht.

Ich starre sie an. Es ist eine Wahrscheinlichkeit. Bei dem Versuch, meine Hände an meiner Hose abzuwischen, bleiben Fussel und Haare an meinen Handflächen heften. Eine Wahrscheinlichkeit ist die Erwartbarkeit des Eintretens eines Falls. Zum Beispiel sind aus den Eiern von mir und Alex 50% Wahrscheinlichkeit in Lena gewandert. Zumindest rückblickend. Auch bei den Nüssen ist ja alles schon entschieden. Aber ich bin noch nicht entschieden. Alex nimmt sich ein Stück Pizza aus dem Karton, es ist groß und weich, es schleift auf dem Weg zu seinem Mund über den Tisch. „Da ist jetzt Pizza auf der Konsole“, sage ich und denke dabei, wie leicht es wäre, den Tisch einfach umzustoßen, mit Gewalt, und dann würden die Nüsse offen liegen und ich könnte die Murmel sehen. Es geht auch anders. Die Vorstellung ist auf einmal fast unwiderstehlich.

Alex‘ Bart verschwindet, als er seinen Kopf zur Seite neigt, ich kneife irritiert die Augen zusammen. Er nimmt die Konsole und schleckt sie ab.

„Wir müssen bald los“, sage ich, meine Stimme kratzt im Hals.

Alex isst seine Pizza. Ich habe die Vermutung, dass es die mittlere Nuss sein könnte, aber ich habe Angst. Meine Hände sind nicht nur klebrig, sie kommen mir jetzt auch kleiner vor.

„Das wird nicht so schlimm“, sage ich zu Alex und mir, „die stecken uns erstmal nur so ein Wattestäbchen in den Mund, hab ich gehört.“ Meine Hände sind wirklich klein.

„Also“, jetzt wirkt Alex nicht mehr heiter, „wo ist die Murmel?“

Ich versuche wieder zu rechnen, aber es macht das Bild nicht klarer. „Deine Stimme ist ganz hoch.“

„Deine auch, Mann“, Alex lacht, „als wärst du kastriert. Bist du kastriert? Dann würden wir uns den Weg da hin heute sparen.“ Er hört sofort auf zu lachen. Sein Gesicht sieht weicher aus, seine Haut reiner, sein Pullover wirkt so überdimensional groß. Will ich unter die mittlere Nuss schauen oder nicht? Will ich wissen, ob darunter die Murmel ist?

„Es sind doch nur zwei Euro, Mann.“

„Ich hab keine Lust mehr, dauernd zu verlieren.“

Das Wachs unter meinen Fingernägeln lässt sich nicht mehr rauskratzen. Ich möchte wissen, wie spät es ist, die Armbanduhr rutscht mir vom ungewohnt schmalen Handgelenk.

Der kleine, bartlose Alex ist mittlerweile halb in seiner Kleidung verschwunden.

„Willst dus denn nicht wissen?“

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Tara Meister

.https://www.mosaikzeitschrift.at/tag/stephanie-nebenfuehr

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10 | Carolin Wiechert

Nachklang

*

Die meisten Kinder sind mit Märchen großgeworden. Cinderella, Dornröschen und Rumpelstilzchen saßen auf ihren Bettkanten und haben ihre Geschichten in die Köpfe der kleinen Jungen und Mädchen gewoben.

Mein Kindheit war bestimmt von Kurt Cobain, Eddie Vedder und Chris Cornell. Anstatt mir aus Märchenbüchern vorzulesen, saß mein Vater abends an meinem Bett und hat mir die Geschichten der großen Rockmusiker erzählt. Der Start ihrer Karrieren, der Einfluss auf die Menschen und bei einigen auch von ihrem Niedergang. Ich kenne alle Alben von Nirvana, Mother Love Bone, Soundgarden, Pearl Jam, Temple of the Dog. Ich kenne die Geschichten zu den Lieder und die persönlichen Geschichten, die mein Vater mit ihnen verbindet. Wie er meine Mutter auf einem Pearl-Jam-Konzert kennengelernt hat, wie er versucht hat in einem Jahr jeden Auftritt von Soundgarden zu besuchen. Mein Vater liebt die Musik. Er liebt sie in einem Maße, wie ich es bei keinem anderen Menschen erlebt habe.

Vielleicht nicht einmal bei mir selbst.

Die meisten Menschen verstehen mein Verhältnis zur Musik nicht. Sie haben sie irgendwie in ihr Leben eingebaut. Als Begleitung zum Autofahren, als Hintergrundmusik bei der Arbeit. Sie können aber nicht verstehen, wie sehr es schmerzen kann, wenn die Musik nicht da ist, wie sich die Seele zusammenzieht, wenn die Musik zwischen zwei Liedern verstummt. Ich sehe meine Welt immer in Musik, meine Welt besteht immer aus Tönen. Selbst die größten Musikfans, die mir begegnet sind, sind an irgendeinem Punkt ausgestiegen, selbst ihnen war das irgendwann zu viel.

Manchmal kann Musik sehr einsam machen.

*

Die Wohnungstür fällt ins Schloss, ich höre die Schritte, dann steht meine Schwester im Wohnzimmer. Felicia und ich sind zusammengezogen, als sie mit ihrem Studium begonnen hat. Das war ein Jahr nach mir.

„Hey, alles klar?“ Sie streift ihre Tasche ab und wirft sie in die Ecke.

Ich grinse sie an. „Ich habe heute die Zusage bekommen, dass ich bei Music-In anfangen kann.“ Music-In ist ein Musiklabel in Portland in Oregon, bei dem ich mich vor einigen Monaten um einen Job beworben habe.

„Geil. Das ist super“, Felicia kommt rüber und umarmt mich. „Hast du es schon Mama und Papa gesagt?“

„Ja. Die kochen Sonntag für uns.“ Ich rolle die Augen. Wenn es in unserer Familie irgendetwas zu feiern gibt, kochen meine Eltern immer gemeinsam.

Felicia grinst, kickt ihre Schuhe unter den Couchtisch und lässt sich neben mich auf das Sofa fallen. „Du wirst mir fehlen.“ Eigentlich ist meine Schwester selten sentimental.

„Ach, du kannst jederzeit zu Besuch kommen und wir telefonieren und schreiben.“

„Du weißt, dass das nicht dasselbe ist.“

Ich nicke und lasse meine Gedanken einige Momente streifen.

„Eigentlich werde ich nur euch drei vermissen. Mama, Papa und dich“, sage ich schließlich.

„Dann hat deine Unfähigkeit zu tiefen Bindungen zumindest etwas Gutes“, spöttelt Felicia.

Ich denke an die Menschen, die durch mein Leben gestolpert sind. Viele sind verschwommene Punkte, von denen ich nicht mal mehr den Namen kenne. Einige stechen hervor, nur wenige sind klar im Detail zu erkennen.

„Erinnerst du dich noch an Meike? Meine Freundin aus der Grundschule?“, frage ich.

„Das war die mit diesen mega Locken, oder?“

Ich nicke. „Und dieser Besessenheit von Rolf Zuckowski.“

Felicia lacht. „Ich erinnere mich, wie sie mit einem Koffer voller Kassetten und ihrem Kassettenrekorder vor unserer Tür stand und du vollkommen irritiert davon warst. Du kanntest keine Kassetten, Papa hatte ja alles nur auf Vinyl.“

„Bis zu diesem Zeitpunkt hat Musik zwischen Meike und mir keine Rolle gespielt. Für uns alleine schon, aber nicht als eine gemeinsame Sache. Wenn wir zusammen waren, haben wir uns immer mit anderen Dingen beschäftigt.“

Das war zu der Zeit, als ich mit meinem Vater zusammen seine Platten gehört habe. Wir saßen jeden Sonntagmorgen in seinem Musikzimmer und haben erst die neuen Platten, die er sich in der Woche davor gekauft hatte und dann eine alte, die ich mir aussuchen durfte, angehört. Das erste Hören einer neuen Platte folgte immer einem genauen Muster: Mein Vater setzte sich in seinen Sessel, blickte über die Regale voller Platten, ließ seinen Blick über die bunten Rücken gleiten, bis er schließlich auf die neue vor sich fiel. Dann strich er vorsichtig an allen vier Seiten entlang und öffnete die Hülle. Langsam zog er die Platte heraus, legte sie auf den Teller und setzte die Nadel auf die Oberfläche. Kurz bevor sie die schwarze Scheibe berührte, hat er immer hoch geschaut und gesagt: „Pass jetzt auf, Laura. Die ersten Töne sind die wichtigen. In den ersten Tönen entscheidet sich dein Weg in diese Musik.“ Ich wurde dann immer ganz still und faltete die Hände in meinem Schoß auf meinem Platz auf dem Boden neben dem Plattenspieler. Gespannt habe ich auf die ersten Klänge gewartet, habe kurz den Atem angehalten, weil ich Angst hatte, die Geräusche des Luftholens würden die Töne überdecken. Dann: Das stille Knistern der Vinylplatte, das in die Musik übergeht. Es war jedes Mal ein anderes Erlebnis.

Bei den alten Platten war es anders. Ich habe sie nach den Coverbildern ausgewählt, bis ich später angefangen habe, anhand der Musik, die mir wirklich gefällt, auszusuchen. Mein Vater hat jedes Mal gelächelt, wenn ich konzentriert durch die Plattenhüllen geblättert habe und gespannt gewartet, wofür ich mich entscheide.

Es gab eine Ecke mit einem halben Dutzend Platten einer Band, die Raw hieß, die wir nie aufgelegt haben. Immer wenn ich sie vorgeschlagen habe, hat mein Vater abweisend reagiert und ich musste mir eine andere Platte aussuchen. Ich habe nie weiter gedrängt, weil ich irgendwie gespürt habe, dass ich diese Grenze nicht überschreiten sollte.

Meine Mutter war nie begeistert davon, dass mein Vater mir Lieder vorgespielt hat, die nicht für mein Alter geeignet waren. Vielleicht hat sie aber gewusst, dass es ihm gut tat, diese Leidenschaft mit mir zu teilen und es darum nie verboten.

„Ich weiß noch, dass es ein merkwürdiger Augenblick war, als wir in meinem Zimmer saßen und den Kassetten gelauscht haben. Meike hat glücklich gestrahlt und ich konnte die Musik nicht verstehen, ich konnte sie nicht begreifen.“

Nachdenklich streiche ich über das Sofakissen. „Wir haben uns angesehen und ich glaube, wir haben beide gemerkt, wie in diesem Moment etwas zwischen uns zerbrochen ist. Nicht so richtig bewusst, sondern mehr als ein Gefühl, dass es da etwas gibt, das uns auseinander bringt und in dem wir uns so massiv unterscheiden. Und gleichzeitig zu wissen, dass das etwas ist, das wir nicht ignorieren können, weil wir vielleicht beide schon über die Bedeutung von Musik in unserem Leben entschieden hatten.“

Felicia sieht mich an. „Das klingt ziemlich endgültig.“

Ich nicke. „Ich weiß nicht, ob es anders gelaufen wäre, wenn wir älter gewesen wären. Wie viel kann eine Freundschaft aushalten? Wie viel kann sie akzeptieren? Sollte sie nicht erkennen, was dem anderen wichtig ist und es entsprechend wertschätzen und damit umgehen?“

„Findest du nicht, dass das nur eine idealisierte Vorstellung von Freundschaft ist?“

„Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist das trotzdem ein Ideal, an dem sie sich orientieren sollte.“

Wir schweigen einige Augenblicke. Aus der Wohnung über uns ist Lachen zu hören.

„Meike und du, ihr habt euch weiterhin getroffen?“, hakt Felicia nach.

"Ja, aber es war nicht mehr wie vorher. Wir haben weiter die Dinge gemacht wie früher, aber es war anders. Wir haben nur noch die eingebrannten Abläufe abgespult. Über Musik haben wir nie wieder gesprochen. Dann kam das Ende der Grundschule und wir sind auf dem Gymnasium in unterschiedliche Klassen gekommen. Damit war unsere letzte Gemeinsamkeit weg und wir haben keine Zeit mehr miteinander verbracht.“ Ich kaue auf meiner Oberlippe und denke, dass ich weiß, dass wir beide keine Schuld daran hatten. Manchmal zerbrechen Beziehungen einfach.

Felicia drückt meine Hand. „Ich hole eben Bier“, sagt sie und verschwindet in der Küche. Ich blicke ihr hinterher und denke über meine erste Zeit auf dem Gymnasium nach. Ich war mit meinen Klassenkameradinnen locker befreundet. Ich habe mich mit ihnen getroffen, sie zu Geburtstagen eingeladen, aber keine hat hervorgestochen und zu keiner hat sich eine tiefere Freundschaft entwickelt. Mir ist es schon damals nie schwer gefallen, Bekanntschaften zu schließen. Das war nie das Problem.

Felicia hält mir eine Flasche hin. „Ich erinnere mich noch an Lotta und Maggie“, sagt sie. „Was ist da eigentlich passiert?“

Lotta und Maggie habe ich in der Musik-AG in der achten Klasse kennengelernt. Beide waren schon länger dabei – Lotta als Sängerin, Maggie als Schlagzeugerin – und ich wollte ausprobieren, ob Musik machen etwas für mich ist. Was den Musikgeschmack anging, hatten wir sehr unterschiedliche Meinungen, was wirklich gute Musik ist. Wir haben von den drei Standpunkten Mädchenpop, Motown-Musik und Rock diskutiert, gefeixt, geschrien und gelacht. Ich lächle bei der Erinnerung an unsere heftigen Auseinandersetzungen, die immer kurz davor endeten, dass wir kein Wort mehr miteinander gesprochen hätten. Vielleicht haben wir irgendwie gewusst, dass die Leidenschaft für die Musik eine viel wichtigere Verbindung war, als der gleiche Musikgeschmack es jemals hätte sein können.

Ich zucke die Schultern. „Jungs. Die Prioritäten haben sich für die beiden verschoben.“

Lotta, Maggie und ich haben einige Monate mit Diskussionen und Musik verbracht. Dann hatte Maggie ihren ersten festen Freund und weniger Zeit für uns. Lotta und ich haben noch einige Zeit zu zweit weitergemacht, aber ohne Maggie war die Dynamik raus. Wir brauchten unsere drei Ecken, nur so haben wir funktioniert. Schließlich hat auch Lotta jemanden kennengelernt und wir haben uns irgendwann gar nicht mehr getroffen.

„Das muss bitter gewesen sein“, sagt Felicia. „Ich erinnere mich, dass ihr ziemlich viel zusammen wart.“

Ich streiche mir durchs Haar. „Ich war wahnsinnig enttäuscht und verletzt. Ich hatte etwas anderes erwartet, weil ich nicht so reagiert hätte. Ich hätte das, was wir hatten, nicht einfach aufgegeben.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Doch. Da bin ich mir sicher.“

Felicia sieht mich nachdenklich an. „Wirklich? Auch wenn du damals schon Dan kennengelernt hättest?“

Ich erwidere ihren Blick. Meine Schwester liebt es auszuprobieren, wie weit sie bei Menschen gehen kann, wann die Schmerzgrenze nicht nur erreicht, sondern überschritten ist. Bei mir hat sie das schon zu oft versucht. Ich bin abgehärtet.

„Auch dann nicht.“

Dan habe ich einige Jahre nach Lotta und Maggie getroffen. Dazwischen habe ich viel Zeit damit verbracht, mich durch die Musikgeschichte der letzten Jahrzehnte zu hören. Nicht nur Rock, sondern auch Punk, Pop, Hip-Hop. Ich habe viele Sachen entdeckt, die mein Vater nicht gehört hat und vieles, was ich nie wieder hören werde. Aber auch Unmengen an hervorragenden Stücken. Raw gehörte dazu. Es war nicht nur die Musik, sondern auch die Geschichten, die hinter den Liedern und Alben steckten, die mich faszinierten. In der Zeit hat sich meine CD-Sammlung fast täglich erweitert. Ich weiß noch, wie mein Vater fassungslos darüber war, dass ich mich für CDs und nicht Vinylplatten als Medium entschieden hatte. Vielleicht war das meine Art mich von ihm abzugrenzen.

Felicia blickt konzentriert vor sich hin. „Mir fällt sonst keiner mehr ein. Nur noch Dan.“

Dan hat in einer Bar gearbeitet, in der zweimal in der Woche Live-Musik gespielt wurde. Er hat mir irgendwann erzählt, dass der freie Eintritt zu den Konzerten der Grund war, warum er dort angefangen hat zu arbeiten. Dan kam aus einer Kleinstadt im Westen Deutschlands und wir haben uns kennengelernt, als er sein erstes Jahr an der Uni studiert hat.

Dan war der erste Mensch, den ich getroffen habe, der eine mit meiner vergleichbaren Musiksammlung hatte. Sie war eine bunte Mischung aus CDs, Platten, Kassetten und mp3s und bestand zum größten Teil aus Punk. Er hat mir manchmal davon erzählt, wie fehl am Platz er sich in seiner Heimatstadt gefühlt hat, weil die Leute ihn für einen Freak gehalten haben. „Sobald deine Leidenschaft ein wenig ausgeufert ist, wurdest du schräg angeschaut. Alles nur in Maßen, alles nur in einem abgesteckten Rahmen, sonst ist das nicht mehr normal“, hat er dann immer gesagt und dass ihn diese neue Stadt frei macht, weil es hier okay ist, seine ganze Wohnung voller Musik zu haben. Ich war mir damals schon nicht sicher, ob ich diese Ansicht teilte. Ich habe mich auch hier wenig verstanden gefühlt.

„Was hat euch auseinandergebracht“, fragt Felicia.

„Unüberbrückbare Differenzen.“

„Das sagst du jedes Mal.“

„Und du lässt es jedes Mal gelten“, grinse ich.

„Heute nicht.“ Felicia zieht ihre Beine unter den Körper und nimmt noch einen Schluck aus der Flasche.

Ich seufze leise und reibe mein T-Shirt zwischen den Fingern.

„Unsere Beziehung war immer von Musik geprägt.“

Die Welt hält erwartungsvoll inne, richtet ihren Blick auf uns, als ob sie spürt, dass jemand gerade ein Stück Wahrheit erzählt, aufrichtige Wahrheit.

„Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, aber irgendwann habe ich an Dan eine leichte Gereiztheit bemerkt, wenn wir uns mit Musik beschäftigt haben. Wenn ich Diskussionen angefangen habe, hat er sie nur lieblos geführt und später dann abgewürgt. Irgendwann habe ich ihn darauf angesprochen und er meinte, dass er der Musik überdrüssig wird. Und ich habe ihn angesehen und in diesem Moment gemerkt, wie groß die Bedeutung von Musik in meinem Leben ist. Wie sie sich in den ganzen Jahren in mir ausgebreitet und wie wenig Platz sie für andere Dinge gelassen hat. Ich bin nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren.“

Vor einigen Minuten hat es angefangen zu regnen. Ich stehe auf, um das Fenster zu schließen. Auf dem Fußboden haben sich die ersten Tropfen verteilt. Ich wische mit meinen Socken über die feuchten Flecken und hinterlasse Schlieren. Mir war immer klar, dass das die richtige Entscheidung war. Ein bitteres Gefühl ist trotzdem geblieben. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich daran liegt, weil ich diesen speziellen Menschen verloren habe.

Ich ziehe die Schultern hoch und drehe mich wieder zu Felicia.

„Weißt du noch, wie ich mich mit dieser Gruppe Festivalgänger angefreundet habe?“

„Ja. Du hast mir damals erzählt, dass du sie unendlich viel ausgefragt hast, um herauszufinden, ob sich der Aufwand lohnt. Wie ein Job-Interview.“ Sie grinst.

„Das sah auch ganz gut aus. Als wir zum Festival gefahren sind, hat sich gezeigt, dass das alles nur heiße Luft war. Zu einigen Konzerten sind sie gegangen, die meiste Zeit haben sie aber auf dem Campingplatz verbracht, um das 'Festival-Flair' zu erleben.“ Ich schwanke immer zwischen amüsiert und fassungslos, wenn ich daran denke.

Felicia drückt sich von der Couch hoch und schiebt die leeren Flaschen auf dem Tisch zusammen. „Ich gehe schlafen.“ Sie drückt den Rücken durch und streckt die Arme in die Luft. „Schlaf gut.“

Ich nicke. „Bis morgen.“

Nachdem die Tür hinter Felicia zugefallen ist, drehe ich mich wieder zum Fenster und blicke in den dunklen Regen. Ich denke an Portland und muss lächeln.

*

Die letzten Töne sind verklungen, der Plattenspieler hat sich ausgestellt. Wir schweigen.

„Er hat sich kurz vor deiner Geburt das Leben genommen. Ich war wahnsinnig erschüttert. Ich war wahnsinnig wütend.“ Mein Vater blickt auf das Plattencover von Raw. Er räuspert sich. „Es ist sehr krass, dass Menschen, denen du nie so richtig begegnet bist, mit denen du noch nie ein Wort gewechselt hast, so dermaßen in deinem Leben verankert sein können. Es war, als ob gerade ein guter Freund gestorben ist.“ Ich sehe, wie mein Vater seine Gedanken sortiert. Da ist wieder dieses Gefühl, das mich schon früher immer gestreift hat, wenn ich nach den Platten gefragt habe. Jetzt wird mir klar, dass es dieser stille Schmerz ist, der ihn umgibt.

„Ich habe einige Wochen gebraucht, bis die Wut verflogen ist, weil ich begriffen – nicht nur verstanden, sondern begriffen habe – dass genauso schlimm wie das Nachgeben des Körpers aufgrund einer Krankheit das Nachgeben der Psyche ist.“

Mein Vater lässt den Blick zu den Platten von Raw wandern.

„Er hatte schon vorher viele Jahre viele verschiedene Probleme. Depressionen, Alkohol, Drogen. Irgendwie hat er es immer geschafft und all diese Schwierigkeiten haben seine Musik zu dem gemacht, was sie war und was sie mir bedeutet hat. Ich habe geglaubt, dass jemand, der weiß, wie es ist, am Abgrund entlang zu tänzeln, besser damit klar kommt und den Dreh raus hat. Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass dort der Sturz schneller geht, dass nur ein kleiner Schubser ausreicht.“

Er seufzt.

„Manchmal kann man so viel schreiben, schreien, komponieren und der Schmerz bleibt trotzdem in dir drin. Egal, was du versucht, er sitzt fest. Du bist exzessiv dabei, Lied um Lied zu schreiben, aber er wird nicht weniger. Selbstverwirklichung heilt nicht immer eine zerrissene Seele.“

Langsam blättere ich durch den Stapel mit den Vinylplatten von Raw. Die Hüllen sind abgegriffen, die Seiten leicht eingerissen. Mein Vater muss sie unzählige Male aufgelegt haben. Ich glaube, ich kann verstehen, warum er sie nie mit mir zusammen gehört hat. Es gibt Schmerzen, die so groß sind, dass sie nur alleine ertragen werden, die nicht geteilt werden können, weil man sonst zerspringen würde.

„Vielleicht hat deine Geburt ein wenig davon geheilt, auch wenn das vermutlich jeder Vater sagen würde.“ Mein Vater lächelt leicht. „Aber er war trotzdem noch da und auch jetzt nach über zwanzig Jahren gibt es Momente, in denen ich immer noch tief von seinem Tod erschüttert bin.“

Die Momente verstreichen während wir schweigend dasitzen. Schließlich beuge ich mich zum Plattenspieler und setze die Nadel wieder auf den Anfang.

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Carolin Wiechert

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09 | Christian Lange-Hausstein

Blaue Wolken

Das Leben ihres Großvaters hatte Didem über Bande kennengelernt. Und zeitversetzt. Auch nicht vollständig. Aber deshalb hatte sie vielleicht ein umso besseres Bild, umso umfassender, denn es war selbstgemalt und hatte keine weißen Flecken. In den Jahren, in denen er sie von der Kita abholte, malte Didem immer bei dem Großvater. Er sammelte extra die Post, die er bekam. Nicht alles, sondern nur die Blätter, die auf der Rückseite leer waren.

Allianz, Rentenversicherung, über die Zeit wechselnde Stromanbieter, Trägerverein der Kleingartenanlage, SPD Ortsverband, Rechnung vom Blitzer auf der Reinickendorfer Straße, ein Allergiehinweis. Bescheide von Ämtern waren nur wenige dazwischen und wenn ja, dann war es auch immer Seite fünf von fünf oder elf von elf, denn die Ämter druckten nicht nur auf dunklem Papier, auf dem Buntstifte braun wirkten, sondern auch beidseitig, sodass nur bei ungerader Seitenzahl die letzte Seite zum Malen blieb.

Auf manchen Blättern waren kleine Vermerke. Ein System von Abkürzungen schien dahinter zu stehen, das Didem nie vollkommen entschlüsselt hatte. Irgendwann war klar, dass „erl.“ für erledigt stand, „NB 01“ ein Konto war, von dem aus der Großvater Rechnungen beglich, und „RE“ gefolgt von einem Datum, das er rückwärts schrieb, „990117“ für den 17. Januar 1999, stand dafür, dass er sich an diesem Tag eine Wiedervorlage eingetragen hatte. Wo er sich die Wiedervorlage eingetragen hatte, war nicht erkennbar. Aber es schien ein zentraler Ort zu sein, ein Ort, an dem nichts fehlte, nichts verloren ging, denn es gab auch „2. RE“ und „3. RE“. In einer Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter der Rentenversicherung, der Belege für den Lohnsteuerhilfeverein herausgeben sollte, gab es sogar mal eine „4. RE“.

Diese mit Notizen versehenen Seiten der Blätter spielten in dem Moment, als Didem die Blätter zum ersten Mal in die Hände bekam, eine untergeordnete Rolle. Das waren die Rückseiten. Didems Vorderseiten waren die weißen Flächen, die ihr Großvater ihr hingelegt hatte. Die Flächen, auf denen sie erst nur Kreise malte. Die Flächen, auf denen dann Strichmännchen zu sehen waren, die auf Erwachsene etwas gruselig wirkten. Die Flächen, auf denen später Wiese-Haus-Baum-Sonne-Bilder entstanden, grün, schwarz, braun, gelb – und im weißen Himmel blaue Wolken.

Je nach Relevanz der bedruckten Seite zu Dritteln, Hälften oder gar nicht gefaltet, lagen die Blätter in einer flachen Papp-Box am hinteren Rand des Sekretärs, der viel edler war als die Möbel ihrer Eltern. Die Box wird vielleicht der Deckel eines Schuhkartons gewesen sein. Das wäre Spekulation, würde Didem einschränken, wenn man hier nachhaken würde. Mit der mittlerweile jahrelangen Berufserfahrung als Richterin war Didem sicher, zwischen Erinnerungen und Spekulationen, Plausibilisierungen, Hinzugedachtem unterscheiden zu können. Wenn Didem von ihren Eltern abgeholt worden war, musste der Großvater die Zeichnungen mit einem Datum versehen haben. Er hatte die datierten Bilder dann in einen anderen Karton gelegt, der viel tiefer war als der Schuhkarton-Deckel, und den Didem zum ersten Mal sah, als sie mit 16 den Umzug des Großvaters in das Pflegeheim vorbereiten sollte. Ihr Großvater gab Didem einen Hinweis. Und noch bevor die drei Umzugshelfer kamen, die Didems Vater angeheuert hatte, brachte Didem den Karton in ihr Zimmer. Der Karton stand dann erst im Keller ihrer ersten Wohnung ordentlich gestapelt zwischen anderen Kartons und war, nachdem sie alles andere weggeworfen hatte, als einziger mit in die gemeinsame Wohnung gekommen.

An einem sonnigen Tag im Mutterschutz suchte Didem im Keller erfolglos nach einer Zange und fand unter den Kartons ihres Mannes mit Büchern von seinem Vater, von denen er sich nicht trennen wollte (Heinz Felfe - Im Dienst des Gegners, W.M. Schapko, Begründung der Prinzipien staatlicher Leitung durch W.I.Lenin, Poltorak - Kleines Lexikon Sowjetstreitkräfte und so weiter) den Karton ihres Großvaters.

Sie nahm ein Bild vom Stapel ab, betrachtete es, legte es neben den Karton. Die Bewegung so sauber, als befände sich zwischen den Bildern in dem Karton und dem abgelegten Bild daneben eine silberne Metall-Klammer, wie in einem überdimensionalen Leitzordner. Sie empfand erst nichts. Die Bilder, das war zwar sie. Aber sie war es nicht mehr. Dann machte diese Erkenntnis doch ein bißchen was mit ihr. Das bin ich gewesen, irgendwann mal, wann genau, stand unten drunter. Wie ein Halm, an den man sich klammert. Auf der Suche nach etwas, von dem man noch nicht weiß, was es ist, nur weiß, dass es gleich kommt. Sie nahm das zweite Bild in die Hand und legte es ab, ebenso sauber, wieder wie durch eine Leitzordner-Klammer geführt. Vielleicht hätten die Bilder für ihre Eltern, wenn sie andere Menschen wären, eine Bedeutung haben können. Mein Kind und so weiter. Für ihren Großvater hatten sie mit Sicherheit eine gehabt. Sie nahm das dritte Bild in die Hand und legte es ab, wieder sauber, wieder wie durch eine Klammer geführt. Aber für sie selbst, für Didem, war nach sieben, acht Bildern, die es dann waren, der Effekt des Alten, Strichmännchen, Häuser, das war mal ich, vorbei. Dann hob sie einen ganzen Stoß Blätter auf einmal ab. Dann nochmal. Und erst als sie das Papier mit beiden Händen neben den Karton auf die ersten Bilder legte, erkannte sie deren wahren Wert. Keinen Karton voller Bilder. Einen Karton voller Rückseiten hatte sie vor sich. Je weiter sie in dem Karton nach unten kam und je jünger sie war, als ihre Bilder entstanden waren, desto weniger intim waren die Briefe, die der Großvater zum Bemalen beiseitegelegt hatte. Ob er Sensibilität abbaute mit der Zeit, ob ihm das Risiko, zu viel über sich preis zu geben, geringer vorkam. Ob es ihm irgendwann egal war. Ob er keinen Sinn mehr darin sah, die Unterlagen für sich abzuheften, weil man ohnehin nie mehr in abgeheftete Unterlagen schaute. Oder ob er wollte, dass sie irgendwann alles sah. - Didem wusste es nicht, denn als sie soweit war, dass sie hätte fragen können, war der Großvater gestorben. Sie legte die Bilder sorgsam wieder in den Karton zurück, Stück für Stück. Bis sie wieder vorne ankam. Und dann saß sie da. Auf den Versen. Ein Brief, handgeschrieben, an den Großvater, das war Bild zwei. Ein Dokument über seinen Krebs, von dem ihr Vater erzählt hatte, dass der Großvater ihn besiegt hatte und über den sie sich keine Sorgen machen sollte, das war Bild eins. Das erste in dem Karton. Das letzte, das er hineingelegt hatte.

Sie schloss den Karton. Sie trat aus dem Keller. Plötzlich alles grell. Sie sah in den Himmel. Gleißend. Und die Wolken wie Flecken darin. Als wären sie wieder blau.

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Christian Lange-Hausstein

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8 | Anna Peintner

Gefühlsgeschmack

Alwin fährt mit dem Zeigefinger über das blassgrüne Metallgeländer. Er zeichnet damit eine unsichtbare Schlangenlinie und denkt an Lisa. Er denkt an ihren hübschen Kopf und an das Muttermal auf ihrem Ohrläppchen, das aussieht wie ein kleines Loch. Es macht müde, gesteht er sich ein. Erinnerungen sind anstrengend.

In seinen zerschlissen Turnschuhen schlurft er über die schwarz-weiß marmorierte Treppe.

Dann, kurz vor Stockwerk Nr. 3, beschleicht ihn dieses eine seltsame Gefühl.

Seinen Finger prüfend bleibt er auf der letzten Stufe stehen. Nüchtern betrachtet er den ungeschnittenen Nagel und die wundgekaute Nagelhaut.

Was wäre, wenn er ihn ablecken würde?, fragt er sich. Wenn er ihn in den Mund stecken und kosten würde, wonach die Brüstung schmeckt?

Lisas Küsse schmeckten an jenem Abend nach ihrem mitgebrachten Flaschenbier und etwas anderem, das er nicht beschreiben kann. Es war ihm, als würde er am anderen Ende der Küche stehen und zwei Menschen beobachten, die keine Ahnung von der Liebe haben.

„Das geht so nicht“, hatte sie zu ihm gesagt. Auf ihrem Unterarm klebte Frischhaltefolie
vom neuen Tattoo, das sie sich hatte stechen lassen. Ein Strichmännchen. „Damit ich nicht immer so einsam bin.“ Komisch, wundert er sich. Mit ihr ist Alwin nie einsam gewesen.

Gebannt von seinem Körperteil, hört er nicht, wie Elli seinen Namen ruft. Er versteckt den ausgestreckten Finger hinter seinem Rücken und sieht zu ihr rüber.

Die Tochter von Herr Szabados steht mit einem vollen, gelben Müllsack vor dem Aufzug
und macht mit ihrer freien Hand eine große halbkreisförmige Bewegung in die Luft.

„Hallo?“, beschwört sie ihn ins Hier und Jetzt.
„Hallo“, erwidert er verlegen. Dann betätigt sie den Knopf zum Fahrstuhl.
„Fährst du mit?“, möchte sie von ihm wissen. Alwin nickt.

In der Kabine drückt er die Null. Da ist es schon wieder, das Gefühl. Am liebsten möchte er die Null noch einmal drücken. Und noch einmal. Und wieder möchte er wissen, ob man etwas herausschmecken kann.

Herausschmecken, dass es die Frau Huber eilig hatte zu ihrem Frisör oder dass sich der
Künstler von der Vier nach seinem Toilettengang nicht die Hände gewaschen hat. Der demente Herr Königsstätter, sein Nachbar mit dem Motorrad auf dem Balkon, hatte einmal einen Hundehaufen durch das Haus getragen. Ist er auch mit dem Lift gefahren?

„Wie läuft‘s mit der Diplomarbeit?“, unterbricht Elli sein Gedankenchaos.
„Super“, lügt er. Seitdem sie ihn verlassen hat, ist die Seitenanzahl unverändert. Und das Thema ist auch scheiße, denkt er sich.

„Gehst du eine Runde laufen?“, hält sie den Small Talk aufrecht. Mit einem dezenten Kopfnicken deutet sie auf seine dunkelblaue Jogginghose, die er seit Wochen trägt.

„Kaffee“, antwortet er nach einer kurzen Pause. „Der Kaffee ist aus.“ Aber eigentlich hat
Alwin keine Ahnung. Er hat vergessen, warum er die muffige Wohnung verlassen hat. Lässig greift er in die Hosentaschen und stellt fest, dass sie leer sind. Dann bleibt der Aufzug stehen. Elli geht voran und biegt in Richtung Müllraum ab.

„Schönen Tag“, wünscht sie ihm aufrichtig. Alwin lächelt hölzern, weil er nicht möchte,
dass sie seine schiefen Zähne sieht.

„Dir auch“, murmelt er, aber Elli ist bereits hinter der Schwingtüre mit dem Milchglasfenster verschwunden.

Er macht ein paar angestrengte Schritte nach vorne und geht zu seinem Briefkasten. Wollte er die Post holen? Das Kästchen kann er nicht öffnen, weil er den Schlüssel vergessen hat. Dass derselbe Schlüssel für die Wohnung ist, stört ihn nicht. Ist halt so, denkt er sich.

Alwin liest die vielen fremden Namensschilder. Acht Stockwerke, 22 Wohnungen, zählt er. Ob der Briefkasten gereinigt wird, möchte er wissen.

„Du bist noch hier!“ Elli steht verwundert hinter ihm und fährt sich durch das dunkle Haar.
„Rauchen?“, bietet sie ihm an. Aus ihrer Gesäßtasche zieht sie eine Schachtel Lucky Strike, die sie einladend vor seiner Nase schüttelt. Alwin ist einverstanden, obwohl es Lisas Marke ist.

Draußen im Hof raucht Elli mit geschlossenen Augen. Sie legt dabei den Kopf in den Nacken und stößt weißen Dunst in den Himmel. Alwin ist dagegen ein unspektakulärer Raucher. Das hatte Lisa jedenfalls behauptet.

„Du stehst nur da. Du stehst nur da und bewegst den Arm zum Mund und zurück.“ Ob sie ihn deswegen verlassen hat?

„Weiß dein Vater das?“, fragt er Elli träge.
„Ich bin 18“, erklärt sie und zuckt mit den nackten Schultern. Für ein paar Minuten stehen sie wortlos nebeneinander und rauchen. Wenn Lisa geschwiegen hat, dann war  die meistens böse.

„Ich muss los“, sagt Elli. Sie geht in die Hocke und drückt die Zigarette auf dem Pflaster
aus.
„Ist gut.“ Alwin möchte wissen, wo sie hingeht, aber er fragt sie nicht.
„Soll ich dir noch eine da lassen?“ Er schüttelt den Kopf.
„Danke, nein.“ Dann geht er zurück Richtung Wohnhaus.
„Und dein Kaffee?“, ruft sie ihm nach.
„Hab‘ das Geld vergessen.“ Elli verdreht neckisch die Augen.
„Wo hast du bloß deinen Kopf gelassen?“ Sowas Ähnliches hat seine Ex gesagt. Elli winkt ihm zu und geht hinaus auf die Straße. Für einen kurzen Moment schaut er ihr nach.

Im Aufzug drückt er die Drei, obwohl er auf der Sieben wohnt. Sein Blick fällt als Erstes auf den vertrockneten Türschmuck von Herrn Szabados. Lisa hat auch so einen an ihrer Wohnungstüre, stellt er fest. Lisa hat so einiges, aber das betrifft ihn nicht mehr. Im Treppenhaus ist es still. Ein kühler Luftzug strömt durch das gekippte Fenster herein. Alwins Hand ruht auf dem blassgrünen Metallgeländer. Es tut weh, denkt er sich. Dann kostet er an seinem Finger. Es ist eine Mischung, kommt ihm in den Sinn. Es ist der Geschmack vom Kommen und vom Gehen. Eine Prise Anfang, eine Prise Ende. Und irgendwo dazwischen schmeckt er Lisa. Schmeckt, wie sie über die Stiege gelaufen ist und beschlossen hat, nie mehr wieder zu kommen. Ob sie dabei geweint hat?, fragt er sich bedrückt. Salz schmeckt er jedenfalls nicht.

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Anna Peintner

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