Gefühlsgeschmack

Alwin fährt mit dem Zeigefinger über das blassgrüne Metallgeländer. Er zeichnet damit eine unsichtbare Schlangenlinie und denkt an Lisa. Er denkt an ihren hübschen Kopf und an das Muttermal auf ihrem Ohrläppchen, das aussieht wie ein kleines Loch. Es macht müde, gesteht er sich ein. Erinnerungen sind anstrengend.

In seinen zerschlissen Turnschuhen schlurft er über die schwarz-weiß marmorierte Treppe.

Dann, kurz vor Stockwerk Nr. 3, beschleicht ihn dieses eine seltsame Gefühl.

Seinen Finger prüfend bleibt er auf der letzten Stufe stehen. Nüchtern betrachtet er den ungeschnittenen Nagel und die wundgekaute Nagelhaut.

Was wäre, wenn er ihn ablecken würde?, fragt er sich. Wenn er ihn in den Mund stecken und kosten würde, wonach die Brüstung schmeckt?

Lisas Küsse schmeckten an jenem Abend nach ihrem mitgebrachten Flaschenbier und etwas anderem, das er nicht beschreiben kann. Es war ihm, als würde er am anderen Ende der Küche stehen und zwei Menschen beobachten, die keine Ahnung von der Liebe haben.

„Das geht so nicht“, hatte sie zu ihm gesagt. Auf ihrem Unterarm klebte Frischhaltefolie
vom neuen Tattoo, das sie sich hatte stechen lassen. Ein Strichmännchen. „Damit ich nicht immer so einsam bin.“ Komisch, wundert er sich. Mit ihr ist Alwin nie einsam gewesen.

Gebannt von seinem Körperteil, hört er nicht, wie Elli seinen Namen ruft. Er versteckt den ausgestreckten Finger hinter seinem Rücken und sieht zu ihr rüber.

Die Tochter von Herr Szabados steht mit einem vollen, gelben Müllsack vor dem Aufzug
und macht mit ihrer freien Hand eine große halbkreisförmige Bewegung in die Luft.

„Hallo?“, beschwört sie ihn ins Hier und Jetzt.
„Hallo“, erwidert er verlegen. Dann betätigt sie den Knopf zum Fahrstuhl.
„Fährst du mit?“, möchte sie von ihm wissen. Alwin nickt.

In der Kabine drückt er die Null. Da ist es schon wieder, das Gefühl. Am liebsten möchte er die Null noch einmal drücken. Und noch einmal. Und wieder möchte er wissen, ob man etwas herausschmecken kann.

Herausschmecken, dass es die Frau Huber eilig hatte zu ihrem Frisör oder dass sich der
Künstler von der Vier nach seinem Toilettengang nicht die Hände gewaschen hat. Der demente Herr Königsstätter, sein Nachbar mit dem Motorrad auf dem Balkon, hatte einmal einen Hundehaufen durch das Haus getragen. Ist er auch mit dem Lift gefahren?

„Wie läuft‘s mit der Diplomarbeit?“, unterbricht Elli sein Gedankenchaos.
„Super“, lügt er. Seitdem sie ihn verlassen hat, ist die Seitenanzahl unverändert. Und das Thema ist auch scheiße, denkt er sich.

„Gehst du eine Runde laufen?“, hält sie den Small Talk aufrecht. Mit einem dezenten Kopfnicken deutet sie auf seine dunkelblaue Jogginghose, die er seit Wochen trägt.

„Kaffee“, antwortet er nach einer kurzen Pause. „Der Kaffee ist aus.“ Aber eigentlich hat
Alwin keine Ahnung. Er hat vergessen, warum er die muffige Wohnung verlassen hat. Lässig greift er in die Hosentaschen und stellt fest, dass sie leer sind. Dann bleibt der Aufzug stehen. Elli geht voran und biegt in Richtung Müllraum ab.

„Schönen Tag“, wünscht sie ihm aufrichtig. Alwin lächelt hölzern, weil er nicht möchte,
dass sie seine schiefen Zähne sieht.

„Dir auch“, murmelt er, aber Elli ist bereits hinter der Schwingtüre mit dem Milchglasfenster verschwunden.

Er macht ein paar angestrengte Schritte nach vorne und geht zu seinem Briefkasten. Wollte er die Post holen? Das Kästchen kann er nicht öffnen, weil er den Schlüssel vergessen hat. Dass derselbe Schlüssel für die Wohnung ist, stört ihn nicht. Ist halt so, denkt er sich.

Alwin liest die vielen fremden Namensschilder. Acht Stockwerke, 22 Wohnungen, zählt er. Ob der Briefkasten gereinigt wird, möchte er wissen.

„Du bist noch hier!“ Elli steht verwundert hinter ihm und fährt sich durch das dunkle Haar.
„Rauchen?“, bietet sie ihm an. Aus ihrer Gesäßtasche zieht sie eine Schachtel Lucky Strike, die sie einladend vor seiner Nase schüttelt. Alwin ist einverstanden, obwohl es Lisas Marke ist.

Draußen im Hof raucht Elli mit geschlossenen Augen. Sie legt dabei den Kopf in den Nacken und stößt weißen Dunst in den Himmel. Alwin ist dagegen ein unspektakulärer Raucher. Das hatte Lisa jedenfalls behauptet.

„Du stehst nur da. Du stehst nur da und bewegst den Arm zum Mund und zurück.“ Ob sie ihn deswegen verlassen hat?

„Weiß dein Vater das?“, fragt er Elli träge.
„Ich bin 18“, erklärt sie und zuckt mit den nackten Schultern. Für ein paar Minuten stehen sie wortlos nebeneinander und rauchen. Wenn Lisa geschwiegen hat, dann war  die meistens böse.

„Ich muss los“, sagt Elli. Sie geht in die Hocke und drückt die Zigarette auf dem Pflaster
aus.
„Ist gut.“ Alwin möchte wissen, wo sie hingeht, aber er fragt sie nicht.
„Soll ich dir noch eine da lassen?“ Er schüttelt den Kopf.
„Danke, nein.“ Dann geht er zurück Richtung Wohnhaus.
„Und dein Kaffee?“, ruft sie ihm nach.
„Hab‘ das Geld vergessen.“ Elli verdreht neckisch die Augen.
„Wo hast du bloß deinen Kopf gelassen?“ Sowas Ähnliches hat seine Ex gesagt. Elli winkt ihm zu und geht hinaus auf die Straße. Für einen kurzen Moment schaut er ihr nach.

Im Aufzug drückt er die Drei, obwohl er auf der Sieben wohnt. Sein Blick fällt als Erstes auf den vertrockneten Türschmuck von Herrn Szabados. Lisa hat auch so einen an ihrer Wohnungstüre, stellt er fest. Lisa hat so einiges, aber das betrifft ihn nicht mehr. Im Treppenhaus ist es still. Ein kühler Luftzug strömt durch das gekippte Fenster herein. Alwins Hand ruht auf dem blassgrünen Metallgeländer. Es tut weh, denkt er sich. Dann kostet er an seinem Finger. Es ist eine Mischung, kommt ihm in den Sinn. Es ist der Geschmack vom Kommen und vom Gehen. Eine Prise Anfang, eine Prise Ende. Und irgendwo dazwischen schmeckt er Lisa. Schmeckt, wie sie über die Stiege gelaufen ist und beschlossen hat, nie mehr wieder zu kommen. Ob sie dabei geweint hat?, fragt er sich bedrückt. Salz schmeckt er jedenfalls nicht.

.

Anna Peintner

.

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at