Blaue Wolken

Das Leben ihres Großvaters hatte Didem über Bande kennengelernt. Und zeitversetzt. Auch nicht vollständig. Aber deshalb hatte sie vielleicht ein umso besseres Bild, umso umfassender, denn es war selbstgemalt und hatte keine weißen Flecken. In den Jahren, in denen er sie von der Kita abholte, malte Didem immer bei dem Großvater. Er sammelte extra die Post, die er bekam. Nicht alles, sondern nur die Blätter, die auf der Rückseite leer waren.

Allianz, Rentenversicherung, über die Zeit wechselnde Stromanbieter, Trägerverein der Kleingartenanlage, SPD Ortsverband, Rechnung vom Blitzer auf der Reinickendorfer Straße, ein Allergiehinweis. Bescheide von Ämtern waren nur wenige dazwischen und wenn ja, dann war es auch immer Seite fünf von fünf oder elf von elf, denn die Ämter druckten nicht nur auf dunklem Papier, auf dem Buntstifte braun wirkten, sondern auch beidseitig, sodass nur bei ungerader Seitenzahl die letzte Seite zum Malen blieb.

Auf manchen Blättern waren kleine Vermerke. Ein System von Abkürzungen schien dahinter zu stehen, das Didem nie vollkommen entschlüsselt hatte. Irgendwann war klar, dass „erl.“ für erledigt stand, „NB 01“ ein Konto war, von dem aus der Großvater Rechnungen beglich, und „RE“ gefolgt von einem Datum, das er rückwärts schrieb, „990117“ für den 17. Januar 1999, stand dafür, dass er sich an diesem Tag eine Wiedervorlage eingetragen hatte. Wo er sich die Wiedervorlage eingetragen hatte, war nicht erkennbar. Aber es schien ein zentraler Ort zu sein, ein Ort, an dem nichts fehlte, nichts verloren ging, denn es gab auch „2. RE“ und „3. RE“. In einer Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter der Rentenversicherung, der Belege für den Lohnsteuerhilfeverein herausgeben sollte, gab es sogar mal eine „4. RE“.

Diese mit Notizen versehenen Seiten der Blätter spielten in dem Moment, als Didem die Blätter zum ersten Mal in die Hände bekam, eine untergeordnete Rolle. Das waren die Rückseiten. Didems Vorderseiten waren die weißen Flächen, die ihr Großvater ihr hingelegt hatte. Die Flächen, auf denen sie erst nur Kreise malte. Die Flächen, auf denen dann Strichmännchen zu sehen waren, die auf Erwachsene etwas gruselig wirkten. Die Flächen, auf denen später Wiese-Haus-Baum-Sonne-Bilder entstanden, grün, schwarz, braun, gelb – und im weißen Himmel blaue Wolken.

Je nach Relevanz der bedruckten Seite zu Dritteln, Hälften oder gar nicht gefaltet, lagen die Blätter in einer flachen Papp-Box am hinteren Rand des Sekretärs, der viel edler war als die Möbel ihrer Eltern. Die Box wird vielleicht der Deckel eines Schuhkartons gewesen sein. Das wäre Spekulation, würde Didem einschränken, wenn man hier nachhaken würde. Mit der mittlerweile jahrelangen Berufserfahrung als Richterin war Didem sicher, zwischen Erinnerungen und Spekulationen, Plausibilisierungen, Hinzugedachtem unterscheiden zu können. Wenn Didem von ihren Eltern abgeholt worden war, musste der Großvater die Zeichnungen mit einem Datum versehen haben. Er hatte die datierten Bilder dann in einen anderen Karton gelegt, der viel tiefer war als der Schuhkarton-Deckel, und den Didem zum ersten Mal sah, als sie mit 16 den Umzug des Großvaters in das Pflegeheim vorbereiten sollte. Ihr Großvater gab Didem einen Hinweis. Und noch bevor die drei Umzugshelfer kamen, die Didems Vater angeheuert hatte, brachte Didem den Karton in ihr Zimmer. Der Karton stand dann erst im Keller ihrer ersten Wohnung ordentlich gestapelt zwischen anderen Kartons und war, nachdem sie alles andere weggeworfen hatte, als einziger mit in die gemeinsame Wohnung gekommen.

An einem sonnigen Tag im Mutterschutz suchte Didem im Keller erfolglos nach einer Zange und fand unter den Kartons ihres Mannes mit Büchern von seinem Vater, von denen er sich nicht trennen wollte (Heinz Felfe – Im Dienst des Gegners, W.M. Schapko, Begründung der Prinzipien staatlicher Leitung durch W.I.Lenin, Poltorak – Kleines Lexikon Sowjetstreitkräfte und so weiter) den Karton ihres Großvaters.

Sie nahm ein Bild vom Stapel ab, betrachtete es, legte es neben den Karton. Die Bewegung so sauber, als befände sich zwischen den Bildern in dem Karton und dem abgelegten Bild daneben eine silberne Metall-Klammer, wie in einem überdimensionalen Leitzordner. Sie empfand erst nichts. Die Bilder, das war zwar sie. Aber sie war es nicht mehr. Dann machte diese Erkenntnis doch ein bißchen was mit ihr. Das bin ich gewesen, irgendwann mal, wann genau, stand unten drunter. Wie ein Halm, an den man sich klammert. Auf der Suche nach etwas, von dem man noch nicht weiß, was es ist, nur weiß, dass es gleich kommt. Sie nahm das zweite Bild in die Hand und legte es ab, ebenso sauber, wieder wie durch eine Leitzordner-Klammer geführt. Vielleicht hätten die Bilder für ihre Eltern, wenn sie andere Menschen wären, eine Bedeutung haben können. Mein Kind und so weiter. Für ihren Großvater hatten sie mit Sicherheit eine gehabt. Sie nahm das dritte Bild in die Hand und legte es ab, wieder sauber, wieder wie durch eine Klammer geführt. Aber für sie selbst, für Didem, war nach sieben, acht Bildern, die es dann waren, der Effekt des Alten, Strichmännchen, Häuser, das war mal ich, vorbei. Dann hob sie einen ganzen Stoß Blätter auf einmal ab. Dann nochmal. Und erst als sie das Papier mit beiden Händen neben den Karton auf die ersten Bilder legte, erkannte sie deren wahren Wert. Keinen Karton voller Bilder. Einen Karton voller Rückseiten hatte sie vor sich. Je weiter sie in dem Karton nach unten kam und je jünger sie war, als ihre Bilder entstanden waren, desto weniger intim waren die Briefe, die der Großvater zum Bemalen beiseitegelegt hatte. Ob er Sensibilität abbaute mit der Zeit, ob ihm das Risiko, zu viel über sich preis zu geben, geringer vorkam. Ob es ihm irgendwann egal war. Ob er keinen Sinn mehr darin sah, die Unterlagen für sich abzuheften, weil man ohnehin nie mehr in abgeheftete Unterlagen schaute. Oder ob er wollte, dass sie irgendwann alles sah. – Didem wusste es nicht, denn als sie soweit war, dass sie hätte fragen können, war der Großvater gestorben. Sie legte die Bilder sorgsam wieder in den Karton zurück, Stück für Stück. Bis sie wieder vorne ankam. Und dann saß sie da. Auf den Versen. Ein Brief, handgeschrieben, an den Großvater, das war Bild zwei. Ein Dokument über seinen Krebs, von dem ihr Vater erzählt hatte, dass der Großvater ihn besiegt hatte und über den sie sich keine Sorgen machen sollte, das war Bild eins. Das erste in dem Karton. Das letzte, das er hineingelegt hatte.

Sie schloss den Karton. Sie trat aus dem Keller. Plötzlich alles grell. Sie sah in den Himmel. Gleißend. Und die Wolken wie Flecken darin. Als wären sie wieder blau.

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Christian Lange-Hausstein

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