Ein Vogel, der seinen Käfig sucht

Die Bahnhofshalle ist leer. Meine regennassen Sneaker quietschen auf ockerfarbenem Kautschukboden. Vor meinen Füßen fliegen dicke Tauben davon. Es ist Sonntagmittag. Sowohl der Tabakladen als auch die Bäckerei haben geschlossen. Eine Durchsage kündigt die Einfahrt meines Zuges auf Gleis 3 an.
Zum Frühstück aß ich blasse Erdbeeren vom Vortag, bis ich spürte, dass ich eigentlich keinen Appetit hatte. Danach machte ich mich zurecht. Dezentes Make-Up. Dezentes Outfit. Ich will meiner Mutter nicht die Show stehlen. Hundert Bürstenstriche für Geschmeidigkeit und Glanz. Meine Haare waren etwas, das sie schon immer an mir mochte. Seit der Einladung vor einem halben Jahr ließ ich sie für sie wachsen.
Auf dem Weg zum Gleis fällt mir eine Person auf. Weiche Augen, kahlrasierter Schädel, rote Bommelohrringe. Sie lehnt an einer offenen Tür, hinter der großformatige Malereien zu sehen sind; neben ihr liegen schwarz-weiße Flyer auf einer Tischplatte voller Farbspritzer.
Ich gehe langsam auf sie zu. Sie schaut auf, ihr Blick ist weniger einsam, als ich vermutet habe.
Hi, sage ich und betrete den Raum.
Alles riecht nach Kindheit.
Sorry, sagt sie, die Ölbilder sind noch sehr frisch.
Ich atme ruhig ein und aus. Ich will nicht gierig sein.
All meine Kuscheltiere, alle Textilien, alle Möbel.
Du bist die Künstlerin, sage ich.
Jona, sagt sie, keine Pronomen. Jona erzählt von kollektiven Traumata und individuellen Depressionen, von historischen Wunden und biologischer Narbenbildung und davon, dass Abstraktion ein Zufluchtsort für das Unbeschreibbare sein könne.
Ich komme mir klein vor, denn alles, was ich dachte, war, dass die Bilder so freundlich schwiegen. Und vielleicht war es nur diese ruhige Zugewandtheit, die mich davon abhielt, in den Zug zu steigen. Zur Ausstellung meiner Mutter.
Zuhause roch alles nach Terpentin, sage ich zu Jona und dann erzähle ich Jona erst von den Bildern meiner Mutter und dann von ihr. Von der Abwesenheit. Von ihrem Lachen, das nicht falsch klang, sondern einfach nur fremd.
Ob ich die Bilder anfassen dürfe, frage ich schließlich, ganz leicht nur. Jona sieht mich amüsiert an. Ich schaue weg. Jona sagt ja, aber nur die Ränder. Danach versucht Jona mir aus der Hand zu lesen, folgt mit dem Finger Herz- und Lebenslinie auf meiner schwitzigen Handfläche und redet von Kreuzungen, Vögeln und Käfigen und als ich Jonas Ölbilder danach ansehe, glaube ich, all diese Motive in ihnen zu entdecken. Sie werden bedrohlicher, je länger ich mich ihnen aussetze. Blicke, denen ich eigentlich ausweichen wollte.

Ich bleibe, bis Jona die Ausstellung schließt. Danach stehen wir schweigend am Gleis herum. Es ist weder warm noch kalt. Jona raucht. Am Himmel zeichnet sich ein nahtloser Übergang zwischen hell und dunkel ab. Jede Fläche, die ich mit meinen Augen abtaste, erscheint monochrom.
Später, nachdem Jona in den Zug gestiegen ist, laufe ich zum stillgelegten Gleis 1 und sehe mir in die Schienen eingravierte Namen an, von denen Jona mir erzählte. Ich denke an Kunst, die auf verschiedene Arten missverstanden werden kann und Titel, die das verhindern wollen.
Regretting Motherhood, der Ausstellungstitel meiner Mutter.
Es wird dunkel. Die Oberleitungen zeichnen abstrakte Noten gen Himmel. Ordnung und Chaos, dazwischen Krähen.
Auf dem Rückweg versuche ich mich zu verlaufen. Es kommt mir fast wie ein Zufall vor, dass ich tatsächlich zuhause ankomme.

 

Leh-Wei Liao

 

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