freiTEXT | Valeska Stach

Die Qualle hat keine Stimme

Das Kind bekommt ein Aquarium ins Zimmer gestellt, nachdem es eines Nachts plötzlich nicht mehr atmen konnte. Es war, als wäre da einfach keine Luft mehr gewesen. Ins Aquarium wird eine Qualle gesetzt. Das Wasser, in dem die Qualle schwimmt, macht, dass die Luft wieder nachwachsen und das Kind besser atmen kann.
Das mit dem fehlenden Atem, das ist ein bisschen so, wie wenn da keine Worte mehr sind. Außer, dass das mit den Worten ständig so ist. Da sind eigentlich ganz viele Worte, aber sie passen nicht in den Mund oder der Mund passt nicht zu den Worten. Das Kind ist voller Worte, aber es hat nichts, womit es sie aussprechen kann. Es hat gar keinen Mund. Da ist einfach kein Platz. Kein Platz für etwas von diesem Kind in dieser Welt.

Die Tante mit den rot gefärbten Haaren ist eine böse Hexe, das Kind weiß es genau. Sie friert Kuchen in der Truhe ein und das Frieren des Kuchens kitzelt auf der Zunge, wenn man ihn isst. Und auch der Magen, in dem der Kuchen später liegt, beginnt zu frieren. Und die Kälte krabbelt bis hoch ins Herz. Das Kind stellt sich vor, es legt sich zum Kuchen in die Gefriertruhe und atmet weißen Kuchenschnee, durch die einfrierende Kehle.

Der gewölbte Körper der Qualle sieht hohl aus, er hält sich durch eine ungreifbare Hülle zusammen, die das Nichts in sich hineinfrisst und in sich zu einer dichten, glibberigen Masse zusammenpresst. Auch die Brust der Mutter wird langsam ausgehöhlt, von der schwarzen Knolle, die darin wuchert.

Das Kind kann erahnen, wie es sich anfühlt, im Bauch der Qualle zu sein. An der Unterseite ihres hängenden Magenstiels, dem Manubrium, befindet sich ihre Mundöffnung, die gleichzeitig ihr After ist und durch den sie ihr erbeutetes Fressen verschlingt und in den Magenstil würgt. Die Qualle hat kein Gehirn. Ihre Jagdinstinkte sind automatisiert. Die Nesselzellen auf ihren Tentakeln haben stielartige Cnidocil-Fortsätze. Diese stülpen, nach Aufplatzen der Kapsel unter einem Druck von hundertfünfzig Bar, rasend schnell einen Nesselfaden nach Außen. Feine, dünne Giftschläuche, setzen einen Widerhaken in das Gewebe ihrer Beute und injizieren das tödliche Sekret ins fremde Fleisch, pumpen ihr Opfer damit voll. Wie die Knolle. Auch sie streut ihr Gift ins Fleisch der Mutter. Und dann frisst die schwarze Knolle das vergiftete Fleisch auf, bis sie satt ist. Aber die Knolle wird nicht satt. Sie gräbt sich in die Brust der Mutter und wuchert darin mit ihren giftigen Fäden. Auch wenn man die Knolle herausgeschnitten hat, wachsen die Fäden in der Brust der Mutter weiter fort.

Unter Wasser beginnen die Haare der schwebenden Wasserbrust zart zu leuchten. Die Fäden schimmern hell, silbrig und bewegen sich im Rhythmus der Qualle, die mit ihrem runden, transparenten Körper und den flatternden Fadenhaaren lautlos durch die Tiefe schwebt. Sie wird fast unsichtbar im Wasser, sie ist perfekt getarnt. Das Kind denkt an die leergesaugte Brust der Mutter. Brusthülse. Sie wird nie wieder voll sein, voluminös wie Quallenfleisch. Das Kind drückt seine Finger an die Scheibe des Aquariums und malt die Bewegungen der Qualle nach. Es bilden sich Schmierlinien auf dem Glas. Das Kind denkt, wenn es die Qualle sieht, an eine schwimmende Silikonbrust. Es möchte sie aus dem Aquarium fischen und der Mutter an die kahle Stelle auf ihrer Brust legen.

Die Qualle schläft nie. Sie treibt mal regungslos durchs Wasser, dann lässt sie wieder eine Welle durch ihren Bauchkranz fahren und stößt sich ruckartig vorwärts. Der Schirm der Qualle wird von einem Ringmuskel zusammengezogen und ihr verformter Körper wird anschließend von der Stützschicht, die zwischen Außen- und Innenhaut liegt, wieder glatt gezogen und breitet sich zu einer faltenfreien, homogenen Masse aus. Dabei gleitet die Qualle lautlos durchs Wasser. Die Flüssigkeit, in der sie schwimmt, sieht in der Nacht fast schwarz aus, so dunkel ist es im Zimmer und das Aquarium verliert im Raum seine Konturen. Der pulsierende Quallenkörper pumpt sich vorwärts und dreht sich dabei immer wieder im Kreis. Das Kind schaut ihm zu, wie er bis zur unsichtbaren Grenze an der Wasseroberfläche vordringt und dann erschrocken wieder zurück nach unten treibt. Der Quallenkörper, der immer wieder zwischen dem Schwarz verschwindet, leuchtet milchig weiß durch die Scheiben des Aquariums. Er schwebt als Mond durch das Kinderzimmer.

Manchmal steht das Kind, wenn es nachts nicht schlafen kann, auf und geht zum Aquarium. Es greift mit der Hand ins Wasser. Der glibberige Quallenkörper glitscht durch die Kinderhand und die Hand hat Mühe, das Tier fassen zu bekommen. Wenn die Qualle dem Kind durch die Finger gleitet, greift es zu und quetscht die durchsichtige Fleischmasse mit der Faust zusammen, damit die Qualle nicht mehr entwischen kann. Dann hebt das Kind den kleinen Körper für einen kurzen Moment aus dem Wasserbecken. Als es Angst bekommt, die Qualle könnte sterben, lässt das Kind sie wieder ins Wasser plumpsen. Dabei stellt es sich vor, wie es sich mit dem kleinen, nassen Körper ins Bett legt, stellt sich vor, es presst die kalte Glibschkugel auf seinen Bauch und atmet ein und atmet aus.

Der Kuchen schmeckt nie. Er kommt nämlich aus der großen Tiefkühltruhe der Tante mit den rot gefärbten Haaren und ist kalt. Alle sagen, er wäre lecker. Das Kind sagt nichts.

Die Qualle hat keine Stimme. Sie ist stumm.

 

Valeska Stach

 

 

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freiTEXT | Katrin Oberhofer

Wie du bist, Orion, in einem Feld aus Gold

Das Gras steht hoch im Spätsommer, die Halme schon trocken. Auf manchen Wiesen ist der Mähtraktor schon gefahren, dem eine Reihe von Menschen vorangeht, die durch die Wiese, den Acker kämmt, um die Rehkitze und Hasen aufzuscheuchen, damit sie von den rotierenden Messern nicht zerfetzt werden. Frühmorgens passiert das, vor der Arbeit, aber jetzt ist es Samstagnacht, und die Nachtluft legt sich schwer vom Geruch des Heus auf die Landschaft. Wenn wir uns jetzt ins hohe Gras legen, droht keine Gefahr.
Dort, sagst du, ist einmal ein Birnbaum gestanden, doch vor vielen Jahren stürzte er um im Sturm, und dein Großvater hat aus dem wertvollen Birnenholz eine Bank gefertigt, die jetzt immer noch vor eurem Haus steht, obwohl der Großvater schon viele Jahre tot ist. Du erinnerst so viele Dinge in dieser Landschaft, von denen ich keine Ahnung habe, denn ich bin nicht von hier.
Wann immer ich dich treffen will, komme ich ins Dorfwirtshaus, am Samstag. Am Gang vor den Toiletten sind wir uns diesmal begegnet, voreinander stehen geblieben, weder ich noch du haben eine Ausweichbewegung gemacht. Stattdessen wenige Schritte aufeinander zu, die Körper greifen ohne Zögern ineinander, die Münder küssen. Meine Finger in diesen deinen langen, blonden Haaren, deine hellblauen Augen geschlossen. Nur dieser gegenwärtige Moment.
Komm, sagst du, und führst mich hinaus zu deiner Klapperkiste aus Rot und Rost und ich steige ein, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Die Hand in deinem Nacken, während du fährst, und ich weiß nicht, will gar nicht wissen, wohin.
Das Auto haben wir stehen gelassen an der Kehre, wo die asphaltierte Straße in einen geschotterten Waldweg mündet, und von dort aus sind wir den Hügel hinab gelaufen, gemeinsam haben wir die Mitte der Wiese gesucht, das Zentrum, gefunden in einer kleinen Kuhle, die sich in die Hügelflanke schmiegt, und uns einlädt zum Rasten.
Schau, sagst du, und deutest hinauf. Ich schaue zum Himmel, folge dem Fingerzeig. Orion und die Plejaden. Die Geschichte von den sieben Schwestern, sage ich, die von Orion verfolgt werden. Die älteste Erinnerung der Menschheit soll das sein, diese Geschichte. Es gibt sie in Europa, aber auch in Australien. Kennst du die? Du antwortest nicht, und auch ich verstumme, meine Stimme kommt mir zu laut vor, fühle mich wie die besserwisserische Studentin aus der Stadt.
Nun, da wir nebeneinander in der Wiese sitzen, und nicht fürchten müssen, dass uns jemand überraschen könnte, halten wir Abstand voneinander, die angebrochene Rotweinflasche zwischen uns. Du nimmst einen großen Schluck, hältst mir die Flasche hin, ich gieße Wein in mich hinein. Ob meine Lippen, meine Zunge blau verfärbt sind, frage ich mich. Ich stecke mir eine Zigarette zwischen die Lippen, hastig, damit kein Raum bleibt zum Küssen. Mit zitternden Händen fummelst du dein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündest mir die Zigarette an, beide starren wir auf die Flamme, bis ich Rauch ausatme, den du mit dem Mund fängst.
Lachend lässt du dich nach hinten fallen, ins trockengelbe Gras. Zuerst ist es nur ein Summen, später ein Singen, deine Stimme rauh, so wie die deines großen Vorbildes. Du siehst aus wie er, sagen alle, und Gitarre spielst du auch, in den dunklen Himmel singst du hinauf: Take your time, hurry up, choice is yours, don't be late, take a rest as a friend ...
Das ist die Rolle, die du am liebsten spielst, wiedergeboren, sagst du, wenn du betrunken bist, in diesem Scheißkaff umgeben von Bergen. Endlich nicht gesehen werden. Die Bürde der Berühmtheit abgelegt. Du glaubst trotzdem, dass du mit der Stimme, mit der Nummer, jede haben kannst, die du willst. Ich frage dich nicht, warum du diese Vorstellung brauchst, die mir so kindisch vorkommt. Dass du ein früheres Leben abrufen könntest. Als wärst du nicht selbst genug.
Ich konzentriere mich auf deine Stimme, sie trägt mich, wenn ich zwischendurch die Augen schließe. Ich intoniere in dein Singen hinein, wir improvisieren zusammen, es wird eine harmonische Mischung, obwohl ich schon lange nicht mehr gesungen habe.

You'll remember me when the west wind moves
Come as you are, as you were
You'll forget the sun in his jealous sky
As I want you to be
As we walk in fields of gold
As a friend, as a friend

Gleichzeitig verstummen wir, lassen etwas verklingen in die Nacht hinaus, und du drehst dich zu mir, dein Kopf auf deinen Arm aufgestützt. Ich rücke näher, drücke mich an dich, und deine andere Hand legt sich zwischen meine Brüste, ruht da, sie streicht über die Länge meines Körpers, von oben nach unten, immer wieder.
Come as you are, sagst du.
Meine Stimme kommt dir entgegen, ganz fremd mit zu viel Atem, aber trotzdem klar: Nein, sage ich zu dir.
Keiner im Dorf würde mir dieses Nein abnehmen, das jetzt zwischen uns steht. Ich kann mir gut vorstellen, was sie über uns geredet haben, ab dem Augenblick, in dem wir das Wirtshaus zusammen verlassen haben. Wenn wir zurückkommen, werden sie sich das Maul zerreißen über mich, und dir auf die Schulter klopfen.
Du rollst dich weg von mir, lässt eine Körperbreite Abstand zwischen uns. Ich lächle dich an, suche deinen Blick, nehme deine Hand. Dieses Nein eröffnet einen Raum zwischen uns, der sich so weit anfühlt wie der Nachthimmel.
Wir schauen hinauf, zu den Plejaden.
Choice is yours, sagst du.

 

Katrin Oberhofer

 

 

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freiTEXT | Sabrina Busch

Notausgang

Ich wollte niemals hier enden. Ich wollte Gründerzeit und Eisblumen an schlecht isolierten Fenstern, ich wollte offene Kamine und geheimnisvolle Dachböden. Verwinkelte Räume und enge Flure, vertäfelt mit dunklem Holz. Ich wollte verriegelte Türen und verschwundene Schlüssel. Ich wollte alte Fotografien und Zeitungsausschnitte, versteckt in den Fugen des Mauerwerks, wollte, dass das Haus erzählt von seiner Geschichte und den Menschen, die vor mir dort waren.
Aber jetzt bin ich hier. Bestens isoliert. Perfekt verputzt. Eine weiße, sterile Box, in der wir sitzen. Darauf warten herausgenommen zu werden. Wie Figuren eines Brettspiels.
In Gedanken ziehe ich durch meine Gründerzeitvilla, die Kriege und Brände, Familien und Vernachlässigung überlebt hat. Ich erzähle vom Brand, der den hinteren Teil der Villa zerstört hat, dem Teile des Dachs zum Opfer gefallen sind. Von dem Wintergarten, der dort angebaut wurde und durch den jetzt Licht strömt und alles erhellt.

In dieser Box hängen auf jedem Flur Poster mit grünen Linien und roten Kästen, Fluchtpläne. Neben dem Aufzug hängt ein Schild: Aufzug im Brandfall nicht benutzen. Gekennzeichneten Fluchtwegen folgen. Daneben läuft ein weißes Männchen. Sie versuchen uns zu retten. Aber die gekennzeichneten Fluchtwege führen ins Treppenhaus. Schutz ist für die Privilegierten.

Der Bau begann vor fünf Jahren. Das Ziel war barrierefreien Wohnraum zu schaffen. Sie schickten ein paar Bulldozer über einen alten Bauernhof weit außerhalb der Stadt und stellten diese Box auf. Applaus und Segnungsmarathon, oh welch Güte.
Niemand wollte so weit außerhalb der Stadt leben. Niemand zog ein. Außer wir, wir, die nicht in Häusern mit engen Fluren und knarrenden Treppen, die zu geheimnisvollen Dachböden und Kellern führen, leben können.
Zu Beginn kamen Reporter mit glänzenden Augen. Viele von uns waren wohnungslos gewesen oder hatten sich selbst verletzt, um Zeit im Krankenhaus überbrücken zu können.
Sie fragten: Ist das nicht wunderbar, dass ihr hier nun gemeinsam leben könnt?
Aber wir antworteten: Wir hätten gerne näher an der Stadt gewohnt. Dort wo alle anderen wohnen.
Sie runzelten die Stirn. Undankbares behindertes Volk, das wir sind. Sie kamen nie wieder.

Der Weg in die Stadt führt über eine kurvenreiche Landstraße. Die Frage, wie wir Besorgungen erledigen sollen, wurde mit Broschüren von Lieferdiensten, Fahrdiensten, die wir nicht bezahlen können und Online-Angeboten wie z.B. Livestreams von Sonntagsmessen beantwortet.
Und sowieso haben sie in der Stadt Misstrauen gegen uns gehegt. Wenn ich es bis dorthin schaffe, stecken sie die Köpfe zusammen, denken, ich könnte sie nicht hören: Oh, eine aus dem Wohnprojekt. Als wären wir Teil eines Experiments. Und vielleicht sind wir das auch. Vielleicht beobachten, studieren, erforschen sie uns in der Box. Aber dann muss ich lachen. Niemand schert sich einen Scheißdreck um uns, wer wir sind, was wir tun. Sie mögen, dass wir aus dem Weg sind. Und möchten, dass es so bleibt.

Als ich auf meinem Flur ankomme, steht die Wohnungstür der Nachbarn offen. Ich habe sie vor Wochen gehört, wie sie Möbel und Koffer hereingetragen haben. Gedämpfte Stimmen und seitdem Stille. Ich stecke meinen Kopf am Türrahmen vorbei.
Eine ältere Frau sitzt in einem Sessel. Sie hat einen winzigen, adretten Dutt und ihr Gesicht ist nur Knochen. Scharfe Kanten überzogen mit Pergamentpapier, wenn sie ihren Mund öffnet, erwarte ich ein lautes Knistern. Sie sitzt da, erhobenen Hauptes, die Lippen stramm über ihren Zähnen. Ihre Augen treten aus den Höhlen hervor, große dunkle Kugeln, als hielten sie an der Welt fest, während der Rest ihres Körpers langsam ins Nichts schrumpft.
Ich wollte an die frische Luft, aber weiter als zur Tür hab ich es nicht geschafft. Sie lässt sich in ihren Sessel fallen. Seufzt. Mein Stuhl frisst mich irgendwann noch auf.
Und ich sehe es vor mir. Wie die Ritze zwischen dem Sitz und der Rückenlehne hinter ihr klafft. Sie jeden Moment hinein saugen könnte. Sehe meine Nachbarin in tausend kleine Einzelteile zerfallen. Wie sie zerbröselt und sich in der Ritze sammelt. Wie Krümel.
Sie sagt, ihr Name sei Alma. Sie erzählt von ihrer Wohnung in der Altstadt. Meine Badewanne war sehr tief, hatte wunderschöne, gusseiserne Klauenfüße. Ich kam da nicht mehr alleine raus. Meine Tochter sah die Anzeige. Und jetzt bin ich hier. Es soll ein Bericht über das Haus und mich geben. Meine Tochter hat zugestimmt. Jetzt kommen irgendwelche Leute von der Zeitung morgen hierher… ich wünschte, ich könnte mich in meiner Badewanne ertränken, aber diese ebenerdigen Duschen hier haben den effizientesten Abfluss, den ich jemals gesehen habe.
Was für einen Bericht denn?
Ich soll das Projekt loben, beteuern, dass wir alle glücklich und zufrieden sind.
Das ist schrecklich, Alma.
Es ist ein gottverdammter Alptraum.
Warum sagst du es nicht ab?
Sie zuckt mit den Schultern, überlegt, wartet, antwortet: Manchmal gehe ich am Fenster vorbei und kann mein Spiegelbild nicht sehen. Ich kriege Panik, dass ich einfach verschwunden bin. Ich gucke dann nochmal hin, versichere mich, dass es mich noch gibt.

Die Leute von der Zeitung kommen am Nachmittag. Auf dem Parkplatz haben wir einen Grillabend organisiert, alle sind dort, decken Tische, tauschen Salatrezepte aus. Die von der Zeitung lieben es, machen Fotos, fühlen sich bestätigt. Beschwichtigt. Wir leben unser bestes Leben hier.
Dann marschieren sie durch die Box, schleppen ihre Ausstattung und ihre Leute an.
Wir beide verstecken uns hinter meiner Tür. Alma steht, Hand auf der Türklinke, angelehnt an den kalten Lack und späht durch den Türspion. Ihre Tochter schließt Almas Wohnung auf. Sie gehen rein. Wir hören ihre Rufe.
Alma öffnet die Tür und wir schauen hinüber zum anderen Ende des Flurs. Dort steht der Umzugskarton. Alte Zeitungen, einen Weidenkorb, ein paar Pullover, getränkt in Nagellackentferner, einen synthetischen Vorhang. Ich bahne mir meinen Weg, vorbei an Almas Wohnung und spritze etwas von dem Grillanzünder, den ich von unten hab mitgehen lassen, über den Läufer vor der dritten Wohnung auf diesem Flur und in den Karton. Sicherheitshalber entleere ich die Flasche über der Wand und dem nächstbesten Türrahmen. Ich zünde ein Streichholz, lege es sanft ab und kehre zu Alma zurück.
Von der Türschwelle aus beobachten wir, wie alles entflammt. Zuerst recht langsam, dann erwachen die Flammen zum Leben. Fressen sich in die Wand, krabbeln die Fußleisten entlang, klettern am Türrahmen hinauf bis hin zur Decke. Der Rauchmelder dreht auf und bohrt uns Löcher in den Kopf. Sie laufen aufgeregt in den Flur. Während sie sich umsehen, streifen sich unsere Blicke. Sie laufen zurück in die Wohnung, greifen nach Taschen und Jacken, kommen vollgepackt wieder in den Flur. Wir wissen nicht, ob sie nach dem Feuerlöscher Ausschau halten. Wir haben ihn als Geisel genommen, er liegt unter einem Haufen Handtücher in meinem Badezimmer. Doch vielleicht benebelt sie der chemische Geruch des Grillanzünders, vermutlich brennt auch ihnen die Kehle vom schwarzen Rauch, der sich gegen die Wände unseres Flurs presst.
Das Feuer kriecht über den Läufer, kommt auf uns zu, es drängt uns alle vor die Tür, über der das Notausgangschild leuchtet. Sein grünes Licht verspricht die Erlösung. Und während die ersten die Türe aufdrücken, ins weiße Licht des Treppenhauses strömen, bleiben wir zurück.

 

Sabrina Busch

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freiTEXT | Michael Hirle

Rehgefühle

Wir zählen Rehe, ich kam auf fünf.
Die Zugfahrt sparte nicht an Bildern.
Kniend jedes Bild vor dem Altar abgenutzter Sinne.
Nebel in jedem Bild, manchmal glaube ich, er wäre schon auf meinem Auge.
Die Wälder, die sich namenlos entlang der Felder falten,
mühen sich nicht um Klarheit, unterbrochen von morschen Zäunen, die wohl schon viele Winter sahen und vor ihnen in die feuchte Erde sanken, jetzt sind sie würdig auf Augenhöhe.
Krähen oder sind‘s Falken, die auf den Pfählen wie ungedrückte Knöpfe hervorstehen und warten, warten.
Ob sie gedrückt werden, ich werde es nicht erfahren,
der Gedanke kehrt ins Schattenreich, wie so vieles auf dieser Fahrt.
Wenige Minuten noch, dann sind dort wieder Häuser.
Dieses unnatürliche Grau, das Wehmut weckt,
dieselbe, die mich auf Reisen schickte.
14 Rehe sagtest du. Vielleicht ist es die falsche Tageszeit. Zu hell für Mut.
Irgendwo ist dann das Meer.
Ich hoffe auf Alternativen, etwas, was man als Reh durchwinken könnte,
im schnellen Blick aus beschlagenen Fenstern.
Ich lege noch etwas Hauch darüber. Ja, dies könnte eines gewesen sein. 4.
So genau musst du es ja nicht wissen.
Der Zug wird langsamer, die Bilder deutlicher, die Mogelei würde jetzt auffliegen,
zum Glück gibt es keine Zeugen, nur ich und mein Gewissen.
Letzteres ist streng, die Vier ist in seiner Gegenwart nur schwer auszuhalten.
Wir warten auf einen Gegenzug, das Feld ist offen,
der Wald ist nah und es gibt keine Zäune, vielleicht gibt es etwas Glück, das ein Reh hervorlockt. Kurz bevor mir ein Ruck die „Wahlverwandtschaften“ vom Schoß schiebt,
meine ich etwas zu sehen, das mehr ist als unbewegtes Braun.
Doch, das ist meine Vier, ganz ohne schlechtes Gewissen. Ich schlafe ein.
In einem Zug scheint sich viel Müdigkeit zu sammeln.
Ich nehme sie in mich auf, trotz Schal und dicker Jacke.
Wieder ein Ruck, diesmal einer, den ich mir selbst sandte, schnell die Mundwinkel abtasten,
ob dort etwas Warmes … und der Blick nach links, ob da jemand lächelt …
Vor dem Fenster eine andere Welt, eine, die ich nicht wählte,
aber sie ist und sie ist mit Gleisen bedeckt, Striemen vieler Sehnsüchte.
Du wartest am Bahnsteig, als blättere sich die Welt an dir vorbei,
reglos und zart und mit einem Lächeln.
Kein Reh, aber ein Rehgefühl.
5.

 

Michael Hirle

 

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freiTEXT | Valentina Voss

Bloß ein Hund

„Er war doch bloß ein Hund.“ Ich ärgere mich noch immer darüber, wie sie das gesagt hat, als sie gestern, mir gegenüber, an meinem Küchentisch saß. Ich habe mich auch dann schon geärgert, bloß gesagt habe ich nichts. Wir hatten ja bereits eine ganze Weile dort gesessen, mindestens eine halbe Stunde lang Smalltalk geführt, die meiste Zeit habe ich stur an ihr vorbeigestarrt und nur aus den Augenwinkeln heraus beobachtet, wie sie unbeholfen an ihren blassen, schwammigen Fingern herumrieb. Sie wusste ja auch nicht, was sie sagen sollte, war ja selbst ganz überrascht gewesen, als ich sie eingeladen hatte, mir von der Straße in meine Küche zu folgen. Und das war immerhin mein Fehler gewesen. Ich hätte sie stehen lassen sollen, mit ihrem mitleidigen Blick hinter ihrem Vorgartenzaun, und ihr Angebot, mir einen Kaffee zu kochen, wie sonst auch mit dem Kopf wegschütteln sollen. Dann wäre sie nämlich draußen geblieben, hätte weiter den Kies in ihrer Einfahrt mit dem Rechen hin und her geschoben und wäre irgendwann zurück in ihre eigene Küche geschlichen, in der es nach Maggi und kalter Zigarettenstummel riecht. In Hellas Küche könnten mich keine zehn Pferde schleppen, von dem Geruch wird einem schon übel, bevor man überhaupt einen Schluck von ihrem wässrigen Nescafé genommen hat. Aber an diesem Nachmittag habe ich ihren Blick eine Sekunde zu lang erwidert und in dieser Sekunde in ihren Augen etwas gesehen, von dem ich dachte, ich hätte es mir wenigstens für eine halbe Stunde und zwei Tassen Kaffee verdient. Ihr Mitleid. Ich trage ja selbst welches mit mir herum, für mich, seitdem du weg bist. Vielleicht habe ich Angst, meines wird verblassen, wenn kein neues dazu kommt. Und was wäre dann noch übrig, von deinem Weggehen.

Natürlich bist du ein Hund, warst du ein Hund, das muss mir ja keiner sagen. Du konntest nicht sprechen, hast gebissen, anstatt zu bellen – Hunde entscheiden sich bekannterweise immer nur für eine der beiden Optionen – hattest treue, liebe Augen, ein dichtes, braunes Lockenfell und ich habe mich immer gefragt, was du eigentlich mitbekommst, von mir, von dem, was um dich herum passiert. Habe nie gewusst, ob du mich vergötterst oder einfach nur Hunger hast. Habe dich mit Menschenliebe geliebt und mich nach deiner Hundeliebe gesehnt und bin in meiner Trauer über dein Weggehen allein, denn: Du warst ja eben bloß ein Hund. Ich weiß nicht, was mich an diesem Satz so wütend gemacht hat. War es das „bloß“, als hätte es nicht gereicht, mich auf dein Hund-Sein hinzuweisen? War es, wie Hella es gesagt hat, mit absinkender Stimme und schiefgelegtem Kopf, mit ihren großen Augen, mit dem Vorwurf, der da mitklang, der auch mitklang, als sie mir heute morgen ganz nebenbei über den Gartenzaun zurief: „Nach sechs Monaten hat sich meine Schwester einen Dackel zugelegt.“ – „Was interessiert mich denn bitte der beschissene Hund deiner Schwester, Hella?“, sagte ich leise zu mir, aber nicht laut zu ihr, und zupfte weiter den Löwenzahn aus dem Geranienbeet. Oder hat es mich geärgert, dass sie mir in meiner eigenen Küche, in die ich sie in fünf Jahren nicht einmal eingeladen hatte, sagt, was ich selbst am besten weiß? Was mir einen Schlag verpasst, wann immer ich mich in meinen sinnlosen, schmerzenden Tagträumen erwische? Was immer es auch gewesen sein mag, Hella sitzt jetzt wieder in ihrer Küche und ich in meiner, jede mit ihrem eigenen Kaffee, jede mit ihren eigenen Gedanken, die sie für sich behalten kann, die sie von mir aus in den dunstigen Gestank ihrer weißgefliesten Wohnung schicken kann, wo sie dann ersticken, weil ihr Rheuma ihr das Lüften verbietet.

Am schlimmsten sind die Sonntage. Besonders in den letzten Wochen, die das Laub gelb und die Luft grau gefärbt haben. Weil du und ich jeden Sonntag mit dem Auto aus der Stadt rausfuhren, raus aufs Land, zu den Wiesen, den Wäldern, zum Wasser. Wir gingen stundenlang um Seen herum, spielten ab und zu mit Stöcken, keiner sagte ein Wort. Weil du diese Tage genauso sehr gebraucht hast wie ich. Das wusste ich, weil ich sehen konnte, wie du aufatmetest, wie du nicht zusammenzucken musstest, weil es keine Menschen gab um uns herum, keine lauten Geräusche, nur mich. Und ich schwieg und freute mich darüber, dir zuzusehen. Weil Sonntag unser Tag war. Vielleicht ist es also doch die Gewohnheit, wie diejenigen sagen, die sich verkneifen, mich auf dein Hund-Sein hinzuweisen. Ein egoistischer Schmerz also, einer der fragt, „was machst du jetzt mit deinem Sonntag, wenn du nicht neben ihm im Auto sitzt und ihm erzählst, was du dir zu Abend kochen wirst, ihn bei jeder roten Ampel ansiehst, als würde er doch irgendwann antworten?“ Gewohnheit eben.

Ich habe irgendwo gelesen, dass sich manche Menschen vor den Spiegel stellen, um zu weinen. Weil sie sich so in ihrer Trauer gesehen fühlen. Vielleicht sollte ich das mal ausprobieren, anstatt meine Zeit damit zu verschwenden, die Geranien von Unkraut zu befreien, die verfaulten Äpfel vom Rasen zu sammeln oder die Gräser, die über die Steine des Gartenpfades wuchern, mit der Nagelschere zurechtzustutzen – so weit ist es schon gekommen – nur, um dabei Hellas mitleidigen Blick auf mir ruhen zu spüren. Dabei gefällt mir nicht einmal wirklich, wie sich mich ansieht. Sie denkt ja, ich würde das nicht bemerken, wie sie da an in ihrer Terrassentür lehnt, ihre abgebrannte Marlboro red zwischen den Fingern, mich mustert und sich jedes Mal viel zu hastig irgendeiner ebenso sinnlosen Beschäftigung zuwendet, wenn mein Blick von den Pflastersteinen in ihre Richtung wandert. Ihre Hilflosigkeit ekelt mich. Und trotzdem bin ich wieder hier, mit den Knien im Dreck und den Händen in meinen versifften, grünen Gartenhandschuhen und ekle mich mindestens genauso sehr vor mir selbst, weil ich ganz genau weiß, worauf ich warte. Hellas Terassentür bleibt zu.

Geht es darum, dass ihre Augen auch auf dich fielen? Als du noch hier warst, versteht sich. Dass sie uns zusammen gesehen haben? Wie wir im Sonnenlicht gemeinsam auf dem Rasen lagen, wie ich dich bei den Locken packte, wenn du wieder einmal knurrend nach den Bienen schnapptest. Ihre Augen haben dich gesehen, vier Jahre lang. Und wie das so ist mit der Gewohnheit, ergänzt sie jetzt das Bild, das sich Hella beim über-den-Gartenzaun-Spähen bietet, mit Details, die in Wahrheit längst verschwunden sind. Mit dir. Hellas Augen sind der Projektor und meine Einsamkeit die Leinwand, überspitzt gesagt, aber wenn ich sie beim Spähen erwische, denke ich an dich. Denn du warst ja immer Teil des Bildes, bis du wegliefst. Hella entging nichts davon. Also entging es ihr auch nicht, wie du mir zum ersten Mal so garstig in die Hand gebissen hast, dass mir schwarz vor Augen wurde. Genauer gesagt entging ihr das schon, denn das war ja in der Küche passiert, nicht im Garten, aber sie hat eben ihre Intuition, wie sie immer sagt. Und als ich dann, ein paar Tage später, am Gartentisch saß und meinen Kaffee trank, rief sie mir zu: „Der ist gemeingefährlich.“ – „Wer?“ Ihr Finger folgte ihrem Blick und beide deuteten in deine Richtung. Wie du da saßt, vorm Wintergarten, und teilnahmslos vor dich hin blinzeltest. „Was soll das denn heißen?“, fragte ich, sie lächelte nur sanft und nickte mir zu. „Das?“, ich hielt meine bandagierte Hand in die Luft und lachte. „Das? Ohne dein Bofrost-Abo wüsstest du auch, wie es aussieht, wenn man sich beim Kochen verletzt, kümmer du dich mal lieber um deinen eigenen Scheiß.“ Das hatte mir damals direkt leidgetan, sie war, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus gegangen und erst am Donnerstag wieder rausgekommen, um mit ihrer Nichte im Garten zu sitzen. Mich hat sie dabei nicht angesehen, das kam erst wieder, als ich ihr einen Korb Äpfel vors Garagentor gestellt habe.

Aber ich habe für dich gelogen, konsequent, auch, als sie mich noch einmal nach meiner Hand fragte, als ich vom Einkaufen zurückkam und die Mineralwasserkästen nur mit Mühe ins Haus schleppen konnte. Und auch beim Arzt habe ich gelogen, habe gesagt, ich wäre joggen gewesen und ein fremder Labrador hätte nach mir geschnappt, ein dunkelbrauner, man lügt ja bekanntlich besser, wenn man dabei ein konkretes Bild vor Augen hat. Der, der mich gebissen hat, warst nicht du, das war ein brauner Labrador und ich hatte danach zwei Wochen lang ein schlechtes Gewissen, weil ich mich sorgte, dass man jetzt nach braunen Labradoren Ausschau hielt, um sie einzuschläfern. Natürlich war das Unsinn, aber das waren eben die Gedanken, die mir kamen, in den paar Sekunden vorm Einschlafen, die sich in ihrer fantastischen Dringlichkeit in die Unendlichkeit zogen, während du friedlich neben mir schliefst, mit deinem schweren Lockenkopf auf meinem Oberschenkel. Was sollte das alles auch, wen ginge das denn überhaupt etwas an. Ja, du hast mich gebissen, aber du hast das ja nicht dauernd gemacht. Und außerdem weiß ich ganz genau, warum das passiert ist, weiß ja ganz genau, wie sie dich gebissen haben, als du noch ein Welpe warst. Ich konnte die Narben sogar noch sehen, eine am Bauch, neben deinem rechten Vorderbein, und eine am Ohr. Das war nicht mal mehr eine Narbe, das war ein Riss, der nie mehr ganz verheilt war. „Na, und warum holt man sich denn genau so einen Geschundenen wie den ins Haus?“ Weil man ihn liebt. Und weil man von ihm geliebt wird. Und weil ich nicht zu den Menschen gehöre, die zwischen denen unterscheiden, die einfach zu lieben sind, und denen, die man ins Tierheim schickt. Ganz einfach, Hella.

Neben den Sonntagen schmerzt die Dämmerung. Das war die Zeit, in der du müde wurdest. In der du zu mir kamst. Es war nicht leicht, dich zu fassen zu bekommen, meistens wichst du aus, wenn ich meine Hand nach dir ausstreckte. Besonders morgens. Sobald du wach warst, sprangst du vom Bett, liefst die Treppe hinunter und standest vor der Gartentür, bis ich, verschlafen und voller Sehnsucht nach Berührung, hinterherkam und sie dir öffnete. Dann bliebst du draußen, den ganzen Tag, während ich arbeitete, das Haus putzte, Zeitung las und dich ansah. Doch abends, wenn der Himmel rauchblau und schließlich dunkel wurde, kamst du wieder, hungrig, und nachdem du gegessen hattest, zu mir. Irgendwann war es mir, als bestünden meine Tage nur noch aus der Vorfreude auf diese wenigen Stunden, mit dir auf dem Sofa, meine Hand in deinem Fell, deine Zunge, wie sie mir über das Handgelenk fuhr, wir beide und der Einbruch der Nacht. Vielleicht bist du ja deshalb im Winter zu mir gekommen und im Frühling davongelaufen, weil du ganz genau wusstest, dass du die Dämmerung auch nicht aushalten würdest, wenn sie kam. Doch jetzt kommt sie wieder, zu früh, so früh, dass man sie stundenlang ertragen muss, bis man sich endlich schlafen legt. Zumindest geht es mir so. Du warst ja bloß ein Hund.

Gerade als ich merke, dass mir die feuchte Erde, in der ich knie, bereits durch den dicken Stoff meiner Jeans gekrochen ist, um meine Beine mit ihrer klammen Nässe zu überziehen, höre ich, wie Hellas Terassentür aufgeht. Ich blicke auf und da steht sie, im Abendsonnenlicht, eine dampfende Tasse Tee in der Hand, in ihrer Arbeitsuniform. Hella arbeitet als Verkehrsüberwacherin, Politesse nennt man das auch, jedenfalls die Frauen, die einem Strafzettel unter die Scheibenwischer klemmen, wenn man fünf Minuten zu lange beim Arzt, oder beim Amt oder sonst wo wartet. Kein sehr sympathischer Job, das steht fest, aber ganz sicher bin ich mir dabei auch nicht. Ich habe sie ja nie gefragt. „Na?“, ruft sie mir zu. „Na?“, frage ich zurück und halte mir dabei die behandschuhte Hand über die Augen, um sie vor der niedrigstehenden Sonne zu schützen. Erde bröckelt mir ins Gesicht. „Immer was zu tun bei dir, was?“, fragt Hella und schlendert durch den Garten auf unseren gemeinsamen Zaun zu. „Naja, man findet immer was zu tun. Du kennst das ja“, murmel ich zurück und richte mich auf. Wir stehen uns gegenüber, ich noch halb im Beet, einen Kopf größer als sie und werde mit einem Mal verlegen. Als wäre sie deshalb so ungewohnt selbstbewusst über den Rasen auf mich zu gelaufen, weil sie ahnt, dass ich hier nur deshalb im Dreck vor mich hin krieche, weil ich auf sie gewartet habe. Auf ihr warmes Mitgefühl. Aber wie soll sie das denn wissen. „Du wirst mir das jetzt nicht glauben, aber ich hab einen Hunderter im Lotto gewonnen.“ Hella strahlt. Daher weht der Wind also. „Na dann komm rein, wir feiern das, was denkst du?“ Ich ziehe mir die Handschuhe von den klammen Händen und klopfe sie an der Hose sauber.

„Warum sind wir eigentlich nie Freundinnen geworden?“ Fragt sie mich. Es ist spät, zu spät, bestimmt nach eins und ich spüre den Prosecco sauer in meinem Magen prickeln. „Ich weiß es nicht, Hella“, sage ich und pule mir dabei den Dreck unter den Fingernägeln hervor. Natürlich weiß ich es. Warum sollten wir, was haben wir beide denn gemeinsam? Weil du erst im Lotto gewinnen musst, um mal über etwas anderes zu sprechen als die Nachbarn, deren Kinder, deren Autos, deine Schwester oder den Gartenzaun, den wir uns teilen und den du seit letztem September schon weiß streichen willst, aber es nie gemacht hast. Aber heute hast du im Lotto gewonnen, Hella, und wir haben uns zum ersten Mal wirklich unterhalten. Ja, du bist Verkehrshelferin, du warst erst Polizistin, aber hast aus ethischen Gründen gekündigt. Du hast einen Sohn, der in Düsseldorf wohnt und hast seit zwei Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Du hattest mal ein Wasserflugzeug, von deinem Vater geerbt, konntest es auch fliegen, hast dir dann aber das Bein gebrochen und es so lange stehen gelassen, bis du vergessen hast, wie es geht. Irgendwann hast du auch Angst bekommen, vorm Fliegen, du warst ja schließlich Mutter und hattest Verantwortung. Und du bist lustig, Hella, wenn man dich mal reden lässt, dann fallen dir alle möglichen Anekdoten ein, wie du dem Rektor als Schulmädchen die Schnürsenkel zusammengebunden hast, als er auf seinem Stuhl schlief, oder wie sich deine Mutter, als sie schon fast blind war, bei einem gemeinsamen Spaziergang von deinem Arm losgemacht hat, um einen Mann, der gerade mit entblößtem Schwanz ins Gebüsch pinkelte, nach den Öffnungszeiten des Parkcafés zu fragen. Natürlich lag es eher an deinem Gesicht, an deiner Gestik, dass mich diese Geschichten amüsiert haben, als daran, wovon sie erzählen. Jetzt sprichst du wieder vom Nachbarn. Aber nicht wirklich von ihm, sondern von dem Fahnenmast in seinem Garten. „Irgendwas macht mich unendlich traurig, wenn ich das höre. Wie das Metall ans Aluminium pocht. Das ist so ein hohler, einsamer Klang. Aber ich kann da ja auch schlecht rübergehen und ihn bitten, seinen Fahnenmast abzubauen.“

Hella hebt die Augen, lächelt, vermutlich über sich selbst. Ihre Stimme hallt nach, in meiner Küche und in meinen Ohren. Und irgendetwas an dieser Stimme sticht mir ins Herz, ganz tief. Ich nehme Hellas Hand in meine. Ihre Haut fühlt sich ganz anders an, als sie aussieht. Sanfter, fester und warm. Hella sieht mich an, überrascht und ihre Hand zuckt leicht, als ich mich langsam zu ihr beuge. Ich rieche an ihrer Wange und küsse sie, erst dort, dann auf den Flaum unter ihrer bebenden Nase, dann auf die Lippen, die so gar nicht nach Maggi schmecken. „Ich könnte deine Mutter sein“, flüstert sie. Ich nehme Hella den Schal vom Hals und lächle nun auch, zum ersten Mal in dieser Woche, so breit, dass ich ihr dabei meine großen, weißen Zähne zeige.

 

Valentina Voss

 

 

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freiTEXT | Moritz Pohl

Wieder ein Tag

Ich werde von der ins Schloss fallenden Wohnungstür geweckt. Die Sonne bohrt ihre Finger durch die Schlitze des Rollladens. Ich drehe mich zur Wand. Das Kissen liegt nicht richtig. Ich drücke es ein, bausche es auf, falte es zusammen, doch es bringt alles nichts, ich finde keine bequeme Position. Kein Wunder, nach all den Monaten.

Als ich mich aufrichte, schießt es mir in die Lendenwirbelsäule. Mein Körper schmerzt seit fünfundzwanzig Jahren. Mal ist es der Nacken, mal ist es die Schulter, mal sind es die Handgelenke, mal sind es die Knie. Irgendwas ist immer. Schmerz ist auch Präsenz. Schmerz ist Jetzt. Jedenfalls rede ich mir das mittlerweile ein. Ich steige in meine alte Jogginghose aus Fußballvereinstagen. Seit fünfundzwanzig Jahren besitze ich sie. Vielleicht ist sie der Grund für meine Schmerzen.

Ich gehe pinkeln. Auf dem Rückweg greife ich mir eine Wollmütze aus dem Bücherregal und ziehe sie an. Dann schlüpfe ich ein kariertes Flanellhemd. Ich sehe jetzt aus wie ein Bauer beim morgendlichen Abmelken. Fehlen nur noch die Gummistiefel.

Während ich auf den Wasserkocher warte, denke ich, dass ich nur ins Bett will, mich ausruhen, Kraft sammeln. Aber ich komme ja gerade erst aus dem Bett, das geht also nicht. Die Öle im Kaffee bilden hellbraune Bläschen.

Auf dem Laptop rufe ich Youtube auf. Ich klicke ein Video an, das die Frage abhandelt, wer einen Kampf gewinnen würde, ein Gorilla oder ein Grizzlybär. Anschließend google ich, ob ein Gorilla noch stärker werden könnte, wenn er Gewichte stemmen würde.

Beim zweiten Kaffee fällt mir ein, dass ich später einen Termin habe, sogar einen wichtigen. Ich muss zur Universitätspsychiatrie, um meine Krankschreibung verlängern zu lassen. Ich lasse mich wieder vom Algorithmus davontragen, tiefer und tiefer in eine Welt, die es nicht gibt. Und weil es sie nicht gibt, spendet sie Geborgenheit. Ich schaue mir die brutalsten Knockouts von einer Mixed-Martial-Arts-Ikone an, die aussieht wie eine grobschlächtige Version von Tom Selleck; ich schaue mir an, wie ein norwegischer Kletterer mit einem schwedischen Strongman seine Griffkraft vergleicht, indem die beiden unhandliche, schwere Dinge hochheben; ich schaue mir an, warum ein ehemaliger Nazi-Rocker denkt, dass ein ehemaliger Drogendealer ein Lügner ist; ich schaue mir an, ob ein Bodybuilder nach Ansicht eines anderen Bodybuilders in einer Mega-Off-Season mit zu viel Stoff seine Gesundheit zerstört hat.

Immer zeigt mir die Seitenleiste neue Videos an, immer gibt es neuen Content, der mir selbst niemals in den Sinn gekommen wäre und der mich reizt. Ich klicke auf alles, öffne immer weitere Videos in immer weiteren Browser-Fenstern zur Vorsorge, zum Spätergucken. Bald lasse ich die Videos mit anderthalbfacher Geschwindigkeit laufen.

Dann kommt ein harter Cut. Ich schalte den Laptop ab und mache mir ein Müsli mit Proteinmilch. Mit der frisch gefüllten Schüssel setze ich mich vor den Fernseher und schaue die Küchenschlacht. Moderator des Tages ist Alexander Kumptner, lese ich im Guide des Smart-TV nach, ein Österreicher mit modischer Kurzhaarfrisur und Astralkörper, wie ich auf Instagram sehe.

Während im Fernsehen die Lachsfilets in den Pfannen brutzeln und aufgeregte Normalos beflissen in ihren Töpfen rühren, bleibe ich in der Timeline hängen und schaue mir einen Inder an, der verkrüppelte Beine hat, aber einen Oberkörper wie Herkules. Er spricht schnell einige unverständliche Worte in die Kamera und verzieht dann sein Gesicht zu einer Fratze, während er seine Arme hochreißt und den Arni macht.

Ich swype herunter, ein animierter Shrimp saugt seinen eigenen Schwanz ein, kriecht aber sogleich wieder aus sich selbst heraus, eine in Endlosschleife ablaufende Illusion, die gut einhundertvierzigtausend Menschen gefallen hat und knapp zwanzigtausend Mal weitergeschickt wurde. Auf einer anderen Kachel singt Elvis Presley in ein Hörnchen mit Eisbällchen, wieder woanders klärt mich eine Illustration darüber auf, dass ich schon mein ganzes Leben lang falsch gehe.

Auf einem Comic-Bild ist ein grimmiger Wolf abgebildet, hinter seinen Rippen hängt Gedärmen gleich ein Lamm mit geschlossenen Augen. Dieses Lamm symbolisiert die Freundlichkeit, die wir alle wie einen Parasit in uns tragen, denn Freundlichkeit ist schlecht, weil sie uns schwächt. So steht es in der Bildunterschrift, und in den Kommentaren wird das Bild als Meisterwerk gefeiert und für seine Schönheit gelobt. Andere Kommentatoren sehen Palästina durch das Lamm symbolisiert.

Ich klicke den Handyscreen schwarz und widme mich wieder der Küchenschlacht, wo sich mittlerweile der Juror die einzelnen Bestandteile des Wettbewerbsgerichts einer Teilnehmerin in den Mund schiebt. Die Kamera zoomt drauf und ich sehe seinen Kiefer das Essen zerkauen. Es muss schon kalt sein, aber es schmeckt ihm vorzüglich, so sagt er, die Sauce vielleicht ein wenig dilllastig, aber das sei keine Kritik. Ich stelle die Müslischüssel auf die Spülmaschine und gehe scheißen. Es ist jetzt Viertel vor zwei und mir fällt nichts mehr ein. Ich beschließe, zur Psychiatrie zu laufen, um Zeit totzuschlagen.

***

Das alternative Areal am Flussufer ist noch im Winterschlaf, die Bretterbuden und Wellblechhütten sind vernagelt. Unten am Wasser steht ein dunkelhäutiger Typ auf dem Absatz der Ufermauer. Ich rieche seinen Joint und frage mich, was ihn wohl dorthin verschlagen hat. Je näher ich der Brücke komme, desto mehr schwillt der Lärm der Autobahn an, die auf der unteren Ebene des Bauwerks über den Fluss führt. Auf unserer Seite ist die Brücke nicht lärmschützend, denn wir wohnen bei der Industrie und den Asis.

Zwischen den Betonpfeilern der Brücke drücken sich ein paar Nachtjacken herum, nicht viele, es ist ja schließlich helllichter Tag. Naja, so helllicht, wie ein bewölkter Tag im Spätwinter sein kann. Zwei Kinder spielen am Basketballkorb, ihre Würfe sind linkisch und keiner trifft ins Metallnetz. Ein paar Meter weiter, kurz hinter der Brücke liegt ein Trainingspark. Obwohl es keine zehn Grad hat, trainieren dort zwei Männer mit nacktem Oberkörper. Sie machen artistische Übungen und ihre Muskeln zeichnen sich deutlich unter der Haut ab, zucken bei jeder Bewegung, alles sieht aus wie von Gott intendiert.

Als ich mich den Dealern nähere, die vor der Dusche für die Flussschwimmer stehen, nehme ich Haltung an. Ich schaue ihnen in die Augen und als sie leise „Shit“ flüstern, schüttle ich nur kaum merklich den Kopf. Schon sind sie hinter mir und ich meine, ihre verfolgenden Blicke zu spüren. Ich stelle mir vor, dass ich sie provoziert habe und sie mir jetzt nachgehen, um mir eine Eisenstange über den Kopf zu ziehen oder mir ein Messer in die Rippen zu rammen. Es kribbelt kurz im Nacken, dann bin ich sicher, dass sie stehen geblieben sind.

Da die Stadt so klein ist, treffe ich schon hundert Meter weiter nur noch auf Jogger in grellen Dresses, die sich dehnen, und auf Pärchen, die ihre Mittagspause im Freien verbringen. Das Grau der Brücke und unseres Viertels ist hier bereits unbekannt. Immerhin das Wasser des Flusses weiß um diese Farbe. Grau und rasch fließt es gen Norden, bis nach Rotterdam, wo es sich mit dem Salz mischen wird.

Bei der nächsten Brücke steige ich eine Wendeltreppe hoch und laufe über den sanften Bogen, dann, auf der anderen Seite, den Hügel hinauf bis zum alten Stadttor, wo ich mich links halte und auf eine garstige Ausfallstraße komme.

***

Auf den Fensterscheiben der Klinik sind Worte in bunten Lettern geschrieben. Es fehlt nicht viel, dann hätte der Eingangsbereich den Look von einem dieser modernen Kindergärten, wo die Kinder Namen haben, die ich nicht mal kenne. Aber vielleicht ist das auch alles gar nicht so weit voneinander weg, eine Psychiatrie und ein Kindergarten.

Vor dem Aufzug überlege ich, doch die Treppe zu nehmen, wegen der Kalorien und der Vermeidung von amerikanischer Faulheit, lasse es aber sein, denn von dem Marsch ist mir eh schon warm und ich spüre, dass meine Achseln durchgeschwitzt sind. Ich will meinen Körper nicht noch weiter auf Touren bringen, bevor ich gleich vor einer fremden Person sitze, die mich mustern wird.

Ich melde mich an und nehme Platz zwischen einer Handvoll Menschen mit versteinerten Gesichtern. Vor dem Fenster der Sprechstundenhilfen gerät ein glatzköpfiger Mann in Rage. Er erzählt von seinem Schicksal, irgendwas von Obdachlosigkeit und skandalösen Verhältnissen. Es klingt, als käme das von ganz weit drinnen, und weil das so ist, wird er von den Sprechstundenhilfen abgebügelt. Sie verweisen auf das anstehende Gespräch mit dem Arzt und schicken ihn zu uns, wo er den Blick durch die Runde schweifen lässt, auf den kleinsten Auslöser wartend, um seine Tirade fortzusetzen. Aber niemand interessiert sich für ihn und so nimmt der Mann schnaufend Platz auf einem der hellen Holzstühle, nun doch wieder auf sich selbst und seine Scheißlage zurückgeworfen, allein und hoffnungslos.

Es dauert lange, bis der jeweils Nächste an die Reihe kommt. Ich lasse mir für eins siebzig einen Kaffee aus der Maschine, ein seltsamer Betrag, der mich irgendwie stört. In einer älteren Ausgabe vom Spiegel lese ich einen dreizehn Seiten langen Artikel über eine Frau, die dachte, sie sei ein Mann. Doch ein paar Jahre nach der Geschlechtsangleichung hat sie festgestellt, dass anfangs alles doch korrekt gewesen war. Darum ist sie jetzt wieder eine Frau, nur eben eine mit einem sehr burschikosen Körper und einem künstlichen Penis. Sie macht unter anderem die Psychologen dafür verantwortlich, dass sie sich damals in jugendlicher Unwissenheit eingeredet hat, eine Transperson zu sein, und das zu lesen, erheitert mich, wo ich doch gerade in einer Psychiatrie sitze. Ich lege die Zeitschrift weg und ziehe mein Handy aus der Tasche. Ein Video mit zehn Millionen Aufrufen stellt mir den schnellsten Raucher der Welt vor und ich vergesse die Frau.

Als ich hereingebeten werde, muss ich mich erst einmal sammeln und mir klarmachen, dass es gerade ein ganz klein wenig um meine Existenz geht. Die Ärztin trägt eine babyblaue Gesichtsmaske, obwohl die Pandemie ja schon längst zu Spinnenweben im Hinterkopf geworden ist. Sie ruft im Computer meinen Fall auf und bitte mich dann, mein Anliegen zu schildern. Ich setze ihr die Sachlage auseinander, dass mich mein Arbeitgeber gefeuert, aber nicht freigestellt hat, und dass ich mich psychisch nicht mehr in der Lage sehe, noch bis zuletzt weiter für diese Firma zu arbeiten. Ich erzähle ihr davon, wie belastend die Arbeit schon vorher war, dass man mich jetzt ausgrenze, ja, mich mobbe, um mich loszuwerden und mein Gehalt einzusparen. Und während ich erzähle, denke ich, dass das alles gelogen ist, von mir frei erfunden, weil ich einfach nur keine Lust mehr habe, zur Arbeit zu gehen und ein fauler Taugenichts bin. Während dieser Gedanke weiter aufblinkt wie die Leuchtschrift im Fenster eines China-Imbisses, „OPEN“ … „OPEN“ …, gehe ich auf meine psychiatrisch-psychologische Vorgeschichte ein, auf die ganzen Berichte und sonstigen Unterlagen, die ich ja schon eingereicht hätte beim letzten Mal und die doch für sich sprechen würden, weil sie ja belegten, dass ich all die geschilderten Probleme schon lange vor der Kündigung hatte. Vor diesem Hintergrund sei es ja wohl klar, dass eine Kündigung, ein solcher Rauswurf mit Arschtritt zu einer Verschärfung meiner Lage und damit zu einer Verschlechterung meiner Gesundheit führte.

Die Ärztin hört mir geduldig zu. Als ich geendet habe, sagt sie, dass sie mich anders als ihre Kollegen, die mich zuvor beurteilt haben, nicht als krank einstufe, ich wirke zu aufgeräumt und nicht depressiv. Ich widerspreche ihr, doch merke selbst, dass sie gar nicht so falsch liegt. Wahrscheinlich wirke ich tatsächlich nicht depressiv, denn so fühle ich mich ja auch gar nicht. Aber krank fühle ich mich sehr wohl, zu krank jedenfalls, um einfach weiter zu funktionieren, zu krank, um mich in Meetings zu setzen und Tabellen zu pflegen, zu krank, um in jedem verdammten Kollegengespräch eine Rolle zu spielen und im Grunde ausschließlich Lügen von mir zu geben aus karrieretechnischen Gründen und aus sogenannter Höflichkeit.

Doch obwohl ich überzeugt davon bin, auf diese entscheidende Weise sehr wohl krank zu sein, oder sogar komplett untauglich für die zur Rede stehende Arbeit, weiß ich ad hoc nicht, wie ich ihr das alles klarmachen soll. Schlagartig wird mir bewusst, dass es das war − ich soll tatsächlich wieder zur Arbeit, zu diesen Arschlöchern, die mich belogen und ausgenutzt haben und die ich dafür und für noch viel mehr verachte. Und gehe ich nicht mehr hin, bleibe ich bei mir und meinen Gefühlen, wie es ja eigentlich allseits empfohlen wird, gerade von den Psychologen, dann werde ich noch einmal gefeuert, fristlos und selbstverschuldet dieses Mal, und damit bekomme ich dann kein Geld mehr, weder vom Arbeitgeber noch vom Arbeitsamt. Ich brauche aber Geld, denn jeder braucht Geld.

Um mein Schicksal vielleicht doch noch abzuwenden, starte ich einen zweiten Anlauf, versuche der Ärztin klarzumachen, dass ich wirklich, wirklich psychisch nicht in der Lage dazu bin, nur noch einen einzigen Tag bei dieser Firma zu verbringen. Aber sie bleibt hart und sagt, es tue ihr leid, sie könne mir nicht helfen. Da ist mir plötzlich alles egal und ich sage ihr laut in ihr maskiertes Gesicht, dass mich trotzdem nichts mehr zurück in dieses Büro bringt, niemals! Und während ich das ausspreche, weiß ich, dass es auch wahr ist. Ich werde dort nie wieder hingehen, Punkt!

Sie sagt, das sei meine Entscheidung, ich müsse natürlich dann mit den Konsequenzen leben. Und obwohl sie damit recht hat, will ich sie für diesen Hinweis ohrfeigen, denn in diesem Moment ist sie für mich nichts weiter als eine Systemhure, eine kleinliche, paternalistische, selbstgerechte Fotze, die von nichts eine Ahnung hat und mir nur weitere Steine in den Weg legt mit ihrer gottverdammten Korrektheit.

***

Ich verlasse die Psychiatrie mit einem sonderbaren Gefühl von Leichtigkeit. Bis ich meiner Freundin am Abend von der neuen Sachlage berichte, bin ich schwerelos. Für ein paar Stunden kann ich auf alles scheißen, auf die Gnaden der Psychiater, und auf die Gnaden des Arbeitsamtes, und auf die Gnaden meines Arbeitgebers sowieso. Alle können mich mal, ich bin ein freier Mann, solange ich meine Lage nicht weiterkommuniziere und sich lästige Fragen und Hinweise bezüglich der Zukunft einstellen, mit deren Eintreten ja immer zu rechnen ist.

Obwohl das Gespräch keine halbe Stunde gedauert hat, bin ich total erschöpft, darum muss ich jetzt schnell wieder Kraft finden. Und dafür gibt es nur einen Weg: Koffein und Kohlenhydrate, hauptsächlich Zucker, in rauen Mengen. Ich laufe Richtung Fluss, bis ich eine Bäckerei mit Sitzmöglichkeit finde, bestelle mir einen Kaffee, eine Brezel und ein Teilchen. Kaum sind Teller und Tasse leer, kommt kurz das totale Tief, so wie es immer kommt, wenn ich etwas esse. Und wie immer will ich nichts weiter als die Augen zu schließen und davonzudriften, will die Augen nie mehr öffnen, mich einfach nur fallenlassen und nie mehr zurückkommen. Aber wie immer drifte ich nirgendwohin, schon gar nicht für immer. Stattdessen zahle ich und laufe weiter, sodass die Prozesse meines Organismus, befeuert durch die Bewegung und den Sauerstoff in der Luft, wieder ordentlich anlaufen.

Ich bin nicht einmal drei Häuserblocks weit gekommen, da bin ich plötzlich energiegeladen und wach, viel wacher als am Morgen, und ich merke mit jedem Schritt, wie die Vorfreude darauf wächst, gleich mit brennenden Muskeln totes Gewicht zu bewegen, auch wenn das keiner von mir je verlangt hat.

***

Im Fitnessstudio ist niemand, nur die besenstieldünne Ein- und Aus-Check-Frau. Ich klappere meine Übungen ab und zwischen den Sätzen schlendere ich zwischen den Maschinen hindurch, zum Spiegel und zurück. Noch ein Schluck aus der mitgebrachten Plastikflasche, an der Getränkestation aufgefüllt mit uringelber Flüssigkeit, Geschmack Multivitamin, dann geht es weiter. Unter Ächzen ziehe und drücke ich weiß lackierte Hebel, alles ein himmelschreiendes Symbol für den Betrieb der Lebensmaschine, die genauso schwerfällig ins Leere läuft wie das alles hier. Mit jedem Hub nimmt meine Zucker- und Fatalismuseuphorie ab. Freiheit kostet. Sie kostet ein wenig Mut, ein wenig Konsequenz, ein bisschen mehr an Disziplin, vor allem aber kostet sie Geld. Der Preis der Freiheit ist im Wortsinne ein Preis. Damit mich alle Ämter und Institutionen ab sofort in Ruhe lassen, damit mich die Psychiater, das Arbeitsamt und mein Chef am Arsch lecken können, muss ich zahlen, und zwar mit meinem Erspartem. Ich überschlage meine Fixkosten. Das Geld wird schnell dahinschmelzen in diesem teuren Land. Die Freiheit, so teuer sie auch erkauft ist, sie hat bereits jetzt ein Verfallsdatum. Um dieses hinauszuzögern, muss ich ab sofort jede Ausgabe genau abwägen, dabei will meine Freundin doch ein Auto anschaffen und neue Möbel, damit wir endlich ein Leben führen, das unserem Alter und unserer Schicht entspricht. Und in den Sommerurlaub wollten wir auch. Das alles geht jetzt nicht mehr und das wird ihr gar nicht gefallen.

Nachdem ich fertig bin, gehe ich auf Zehenspitzen durch den Duschraum, in dem die Pfützen des Tages einen Ekelparkour gebildet haben. Und an der Decke hat sich schwarzer Schimmel breitgemacht, noch nicht dramatisch, aber eigentlich von einem Ausmaß, das Einschreiten nötig machen würde. Zwischen den Keimen und Sporen dusche ich heiß und trockne mich dann mit meinem rauen Mikrofasertuch ab, das ich hasse, weil es nicht über die Haut gleitet, sondern den Körper in einer störrischen, stockenden Art trocknet.

***

Ich schließe die schwere Holztür auf und gehe durch den Gang mit den Briefkästen in den Hinterhof. Der Geruch des Dönerladens, den wir unten im Erdgeschoss haben, schlägt mir entgegen. Auf der Terrasse vor der Ladenküche steht der Betreiber. Er wohnt im ersten Stock. Ich sage ihm hallo und frage ihn, wie es ihm geht, und wie immer sagt er: „Muss!“ und wie immer findet er das eine gewitzte Antwort. Und wie immer verstehe ich ihn gut, weil ich ja sehe, dass es für ihn tatsächlich immer nur muss mit dem Laden und den drei Kindern. Er fragt, wie es mir geht, ob ich viel Arbeit habe. Ich lüge ihn an und sage: „Ja, immer Arbeit!“ und er wiederholt: „Immer Arbeit, immer Arbeit!“ Er lacht mit herzlichem Galgenhumor und ich komme mir vor wie ein verschissener Simulant, aber schon auf der Treppe ist das Gefühl weg. Mir kommt seine Tochter entgegen, die kleine Elin, und ihr Bäuchlein ist noch runder geworden, scheint mir. Ihr lila T-Shirt mit der Giraffe spannt genauso wie ihre geblümten Leggins, und ich denke, dass sie bestimmt immer nur Döner isst, weil die Eltern ja keine Zeit haben, was Richtiges zu kochen.

Ich bin noch vor meiner Freundin zu Hause. Der Mixer kreischt ohrenbetäubend, als ich mir einen Proteindrink mit Bananen und Kreatin zubereite. Gerade als ich den Deckel abschraube, kommt sie, und das Erste, was sie sagt, ist, dass die Küche aussieht wie Sau. Ich sehe mich um und sie hat Recht, und ich verstehe ihren Ärger, in den sie sich sogleich weiter hineinredet, von wegen, ich habe doch den ganzen Tag Zeit. Ich finde ihn dann mit einem Schlag übertrieben, diesen Ärger, und belle zurück, sodass wir uns streiten, noch bevor sie abgelegt hat. Ich verziehe mich ins Wohnzimmer und schlürfe den Bananenshake vor dem Fernseher.

Sie kommt dazu und ich sehe sofort, dass ihr Ärger nicht abgeklungen ist. Im Gegenteil, sie fragt in einem Tonfall nach dem Abendessen, der schon klarmacht, dass sie weiß, dass ich nichts eingekauft und demnach auch nichts gekocht habe. Da es noch keine sieben ist, sehe ich das nicht als Problem an, und genau das sage ich ihr, aber sie ist nicht meiner Meinung und ich muss mir eine weitere Tirade über geregelte Mahlzeiten und ihre Verdauung anhören. Und wie als Gegenschlag, obwohl das unsinnig ist, erzähle ich ihr, dass ich nicht mehr krankgeschrieben bin und zurück zur Arbeit soll, was ich aber nicht tun werde. Sie ist kurz wie vom Donner gerührt und erfasst meine Worte nicht gleich, dann fragt sie nach und ich erörtere ihr die Situation genauer mit all ihren Folgen. Eine Weile ist sie still, dann rastet sie aus, nicht, weil ich ab sofort die Arbeit verweigern will, sondern, weil ich überhaupt gefeuert wurde, weil ich bisher bei jeder Stelle Probleme gemacht habe, ja, letztlich, weil ich so bin, wie ich bin.

Ich lasse sie all das sagen, bleibe einfach sitzen und trinke den Bananenshake, und als ihr auffällt, dass ich nicht reagiere, bricht sie in Tränen aus und wimmert „Ich kann nicht mehr, ich will mich trennen!“

Ich stehe auf und nehme sie in den Arm, komme ins Schwadronieren darüber, warum alles halb so wild ist und warum ich für nichts etwas kann, weil das System und so weiter, und irgendwann beruhigt sie sich, auch wenn ich nicht glaube, dass es wegen meiner Worte ist. Zur Aufmunterung und auch weil es jetzt wirklich langsam etwas spät fürs Einkaufen und Kochen ist, hole ich beim jugoslawischen Restaurant gegenüber Hamburger mit Pommes, denn die hat sie gerne.

Vor dem Fernseher essen wir die Burger, die eigentlich viel zu salzig sind und mit all der Sauce und den aufgeweichten Salatblättern im Grunde auch überhaupt nicht gut schmecken, was wir aber jedes Mal wieder vergessen. Wir reden wenig.

Als in der Serie, die wir schauen, jemand ein Bier bestellt, bekomme auch ich Lust auf Alkohol und kündige an, mir heute mal einen Drink zu machen, so als wäre das eine völlig spontane Idee, etwas, was ich mir heute ausnahmsweise mal gönne.

In der Küche betrachte ich das Sortiment Flaschen, das ich in den letzten Monaten zusammengekauft habe, es sind mittlerweile so viele, dass meine Freundin um die Stabilität des Regals besorgt ist. Und um mich natürlich. Ich überlege, ob das mit dem Drink wirklich eine gute Idee ist. Die Ärztin hat gesagt, es sei am wichtigsten, nicht jeden Tag zu trinken, und wenn es nur kleine Mengen sind, sondern immer mal ein, zwei Tage Pause zu machen. Ich bin mir sicher, dass ich vorgestern nichts getrunken habe, und ich freue mich, denn damit ist ja alles in Ordnung. Ich greife zum Four Roses, denn heute muss es nichts Besonderes sein, einfach ein Old Fashioned mit zwei Spritzern Angostura und anderthalb CL Zuckersirup, ein einfacher Drink für normale Tage.

Ich rühre den Whiskey dünner und kehre ins Wohnzimmer zurück, betont beschwingt, so als könnte ich die Stimmung einfach wegfedern. Sie wirft nur einen schnellen Blick auf mein Glas und spart sich den Kommentar für gleich auf, wenn ich mir den zweiten mixen werde.

***

Gegen elf geht sie sich bettfertig machen und ich bleibe sitzen, da ich weiß, dass die Müdigkeit noch lange nicht kommen wird. Bevor sie sich ins Schlafzimmer verabschiedet, nimmt sie mir noch ein paar Versprechungen ab, denn es müsse sich jetzt wirklich etwas ändern, und wie immer bin ich ganz Ohr und stimme allem zu.

Dann bin ich allein mit der Nacht und schaue eine Polit-Talkshow. Die Leute auf den Stühlen ernsthaft und ungebrochen reden zu hören, zu sehen, wie sie ganz diejenigen sind, die sie sind, jeder einzelne ein bestimmtes Individuum mit gefestigten Ansichten und Werten, macht mich fassungslos, denn ich selbst kann mir nicht vorstellen, auf so einem Stuhl zu sitzen und als bestimmter Mensch eine bestimmte Meinung zu haben.

Es wird erst eins und dann zwei und drei, und die Müdigkeit kommt nicht, zumindest nicht diejenige, die man Bettschwere nennt. Mein Kopf ist müde, aber das ist er immer, das ist ganz egal. Der Körper, die Nerven, sie müssen müde werden, und das ist das Problem.

Als ich es nicht mehr aushalte, allein in der Nacht zu sitzen, ohne Trost spendenden Ort für meine Gedanken, alles immer nur Vergangenheit und nie Zukunft, gehe ich leise ins Schlafzimmer und lege mich neben sie, doch auch hier kommt die Müdigkeit nicht. Als sie doch kommt und ich endlich wegdämmere, bekomme ich Harndrang und muss wieder aufstehen. Und danach ist sie wieder weg, die Müdigkeit, und ich schlafe erst gegen fünf richtig ein, wie so oft. Wieder ein Tag.

 

Moritz Pohl

 

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freiTEXT | Lina Leonore Morawetz

Voralpen

Vor einigen Wochen fuhr Salma, Studentin der Zeitgeschichte, frühmorgens mit dem Zug in die österreichischen Voralpen zu den Dörfern Trattenbach, Puchberg, Otterthal.
Trattenbach, Puchberg, Otterthal, wie Wittgenstein, dachte sie.
Der Gedanke an den österreichischen Philosophen, er hatte in den Dörfern Trattenbach, Puchberg und Otterthal unterrichtet, entkam ihr im Dämmerschlaf und flatterte nun durch die Sitzreihen der alten Zuggarnitur wie ein aus der Hand gerutschtes Vorlesungsmanuskript.
Der Zug ruckelte, Salma blinzelte, ihr wurde warm. Sie öffnete ihre Kapuzenjacke, stand auf und zog das Zugfenster gegen den Widerstand der Schienen am polierten Griff fest hinunter. Für einen Moment blieb sie in der frischen Luft stehen als flöge ihr mit dem Wind auch die Zukunft entgegen.
Später warf sie einen verstohlenen Blick auf die Frau, die ihr gegenüber saß und von den ersten Sonnenstrahlen beleuchtet wurde. Sie schien zu schlafen, zumindest waren ihre weichen Augenlieder zusammengekniffen. Salma schätzte sie auf das Alter ihrer Mutter, aber außer dem Alter hatte sie kaum etwas mit ihrer Mutter gemein.
Die Frau trug schwere Stiefel und ihre Mundwinkel zuckten leicht nach unten, weißes Haar fiel wirr über ihre Schultern. Ihr Kopf sank langsam Richtung Zugfenster, als wollte sie mit geschlossenen Augen in die vorbeiziehenden grünen Wiesen eintauchen. An ihrem rechten Ohrläppchen blitzte zwischen den weißen Haarsträhnen ein großer glänzender eierschalenfarbener Perlenohrring, der das Neonlicht des offenen Abteils spiegelte.
Salma riss sich von dem Glänzen los und sah zur anderen Seite aus dem Fenster, wo sich im Tau des späten Sommers entlang der Gleise dunkles Waldgras neigte und in krummen Obstbäumen vor einer Handvoll weißgetünchter Bauernhöfe unzählige rote Äpfel in der Morgensonne leuchteten. Meine Mutter habe ich noch nie so angesehen, dachte Salma, ließ aber ihre Gedanken bald im Schatten der Hügel und Wälder zurück. Das Blau des Himmels sprach von Veränderung.
Während die Gegend an ihr vorbeizog wie ein langer verschlungener Satz, fiel Salma, überwältigt von der Welt und vielleicht auch vom Perlenohrring, zurück in ihren Dämmerschlaf.
Nicht nur Mütter, dachte sie nun aber doch wieder, während sie in den unsicheren Schwebezustand des Halbschlafs glitt, haben ein untrügliches Gespür für die Schlaf- und Wachzustände ihrer Töchter, auch ich spüre noch die kleinste Regung meiner Mutter bis in die innerste Faser meines Körpers, und das Schlimmste ist —
Die Frau räusperte sich. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und muss gesehen haben, wie Salma blinzelte, sich in ihrem Sitz aufrichtete und schnell auf ihr Handy schaute. Aber sie schien nicht vor zu haben, sie zu fragen, wohin sie unterwegs war, sondern blickte stattdessen hinaus auf die inzwischen zerklüftete Berglandschaft. An ihrem filigranen, mit Sommersprossen gesprenkelten Handgelenk trug die Frau eine rote Plastikarmbanduhr mit weißem Ziffernblatt und eckigen Zeigern.
Abgesehen vom Blinzeln und vom Ablesen der Uhrzeit von ihrem Handy (acht Uhr einundfünfzig) hatte Salma nichts zu tun und sank wieder in ihren Sitz zurück. Als sie kurz darauf die Sommersprossen der Frau und dann die rote Armbanduhr bemerkte, stellte sie verblüfft fest, dass die Uhr ihrer Nachbarin fünf Minuten nach neun Uhr anzeigte. Plötzlich war Salma hellwach.
Die Uhr der Frau ging fast genau zehn Minuten vor.
Eindeutig zu viel, um einfach nur ein bisschen falsch zu gehen, fand sie.
Neugierig folgte sie dem Blick der Frau, die mit glänzenden braunen Augen durch die Spiegelung des Fensters nach draußen starrte und gebannt auf die rundlichen grünen Gipfel und langen Täler schaute.
Weit in der Ferne schwebte im blauen Himmel über einem bewaldeten Bergrücken eine kleine wattige Wolke.
Wie das Leben eines Menschen löste sich die Wolke nach einer kurzen Weile zuerst in weiße Büschel und dann in Luft auf.
Der Waggon ruckelte, die Frau wurde von einer Überleitstelle jäh aus ihren Gedanken gerissen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und musterte dann interessiert Salmas abgetretene Bergstiefel, die an der Sitzbank direkt vor ihr standen, und räusperte sich ein weiteres Mal ziemlich laut. Salma hatte sich eben hinuntergebeugt, um ihre Schuhbänder zusammenzubinden. Ihr streng gescheiteltes langes braunes Haar fiel leicht nach vorne und verdeckte ein wenig ihr Gesicht.
Als sie sich wieder aufrichtete, tauschten die Frauen einen Blick aus, ein graues Tier, das für einen Moment zwischen ihnen hin und her lief, bis es sich schließlich schwerfällig auf den scheinbar soliden Zugboden fallen ließ.

 

Lina Leonore Morawetz

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freiTEXT | Sarah Veronika Niklowitz

Nachtruhe!

Der Sonntag hängt noch in den Knochen, ist es wirklich schon Montagabend? Augenblicke zuvor lief der Abspann des Tatorts, wieder nicht richtig hingesehen, das Warten auf diese eine Nachricht geht schließlich schneller, wenn man immer wieder die zuletzt gewechselten Worte liest, analysiert, liest, den Fehler in den eigenen Worten sucht, im Hintergrund ermitteln Boerne und Thiel. Sicher macht ihnen meine Unaufmerksamkeit nichts aus, doch hin und wieder spüre ich ermahnende Blicke, die sich über den großen Bildschirm in meinen Kopf telepathieren. Sie verurteilen meinen Blick auf den kleinen Bildschirm in meiner linken Hand, ein Versuch von „Mir doch egal“, der kläglich scheitert, denn mir ist viel egal, aber nicht die Finger, die diese Nachricht tippen. Welche Nachricht?, fragt Thiel mit heiserem Lachen und für einen mikroskopisch kleinen Moment starren wir uns an. Ich kneife die Augen zusammen. Mistkerl, was fällt dir ein, dich lustig zu machen über eine Liebeskranke. Geht’s hier überhaupt schon um sowas Großes wie Liebe oder die Angst nicht herausfinden zu können, ob dieser Zustand hätte eintreten können? Wann genau wurde der gemütliche Sonntagabend mit Verbrechen und Schnittchen auf dem Sofa von diesem Trauerspiel aus Starren und Seufzen abgelöst?

Montag, es ist Montag, nein es war Montag, aber er ist ausgefallen. Diese Woche gab es keinen Montag. Was wie Musik in den Ohren der meisten Menschen klingt, die ein halbwegs geregeltes Leben führen, habe ich einfach verpasst. Schuld ist eine Sonntagnacht, die keine war. Nächte sind entweder ruhig oder berauschend, per Gesetz, doch diese war einfach nur laut und gleich in welchem Rhythmus ich sie auch abzuschütteln versuchte, sie blieben. Bilder, Stimmen, Gedanken, Szenen, von denen ich mir nicht mehr sicher bin, ob sie wirklich so geschehen oder das Produkt meiner Geisteskrankheit sind. Eine rauschende Party, Rotkäppchen-Korken knallen zu schlechter Musik, sie feiern, als gäbe es kein Morgen.

Nachtruhe!, schreie ich, es ist Nachtruhe! Ich erschrecke selbst davor, wie kleinkariert ich klinge, aber ich will doch nicht mehr als Ruhe. Stattdessen schweißgebadete Tumulte in zart geblümter Bettwäsche, nicht die von der guten Sorte. Ich gebe auf, Position Fünfundneunzigeinhalb erzielt nicht den gewünschten Effekt. Ein Seufzen, ich richte ich mich auf, schiebe den Vorhang zur Seite und wickle die Decke um die Schultern. Salz aus Schweiß und Tränen vermischt sich mit Aprilfrisch-Wäscheperlen-Duft. Nicht ein Licht im Plattenbau gegenüber. Ein Gefühl der Unmöglichkeit macht sich in mir breit, wie kann es sein, dass diese Stadt schläft? Ich möchte sie wachrütteln und weine ihr ins Ohr, du hast mich vergessen, wie kannst du einfach schlafen ohne mich! Das ist nicht real, diese Situation kann nicht echt sein. Ich träume. Es ist nur ein böser Traum, gleich mache ich die Augen auf und sehe Lichter in den Fenstern gegenüber, höre eine Autotür im Parkhaus unter meinem Fenster, gleich… tiefschwarze Stille. Das Einzige, was eingeschlafen ist, sind meine Beine, ich knie seit zwei Stunden auf dem Bett vor meinem Fenster und starre nach draußen, wo nur der Fernsehturm sein rotes Nachtlicht in die Dunkelheit sendet.
Ich werde wütend auf meinen Nachbarn, der immer, wenn ich schlafen könnte, viel zu laut ist und jetzt möchte ich ihn wecken und ihm sagen, er soll verflucht nochmal seine hässliche Musik einschalten, damit ich nicht verrückt werde. Morgenrot erwärmt meine rechte Gesichtshälfte. Licht und Schatten passieren wieder. Mülltonnen werden unsanft über den Hof gezogen, das penetrante Piepsen eines Rückwärtsgangs lässt mich erleichtert in die Kissen sinken. Endlich Ruhe.
Montagabend, Panik macht sich breit. Was erwartet mich in der Nacht nach einem Tag, der nicht stattfand? Melatonintabletten, abgelaufen, also lieber eine mehr mit zimmerwarmem Leitungswasser in den Körper schicken, mit True-Crime und buntem Flimmern für Ruhe sorgen, das Beste hoffen.

 

Sarah Veronika Niklowitz

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freiTEXT | Paul Hoban

Der Fingerhut

Ich könnte ihn abschneiden. Nutzen tut er nicht mehr. Seit dem letzten Sommer. Er sieht passabel aus, die Narben sind kaum sichtbar. Aber nutzen tut er nicht mehr. Also weg damit. Nur wie viel? Die Frage ist nicht nur ästhetischer Natur. Die Frage ist vor allem eine praktische. Wie jeder anderer meiner Finger sollte auch dieser, der rechte Ringfinger, nur einen einzigen Zweck erfüllen. Sie alle als Gefüge zu betrachten, das ist heutzutage nicht mehr haltbar, und es würde mein Dilemma auch nur unnötig verkomplizieren.
„Hallo, können Sie uns endlich helfen?“
Lass sie reden, sie verstehen nicht. Langsam. Weniger Worte, weniger Gedanken. Einer nach dem anderen. Finger, Ringfinger. Ab. Wie viel? Genau, da waren wir. Wie viel spielt keine Rolle. Taub ist jede Kuppe. Seit dem letzten Sommer. Auch jetzt wird es langsam heiß.
„Papa, mach, dass wir reinkommen, ich muss Pipi und du hast versprochen, dass wir dieses Mal“ –
Hör nicht hin, sie haben Zeit, du hast Zeit, Zeit spielt keine Rolle. Sechzig oder siebzig sind heute schon hineingestürmt, dein Tagessoll ist längst erfüllt. Also zurück. Wohin? Zurück zum Dilemma. Ab – wie viel? Man muss vieles berücksichtigen. Zwei Kuppen sind noch funktional, doch eine? Du wirst sagen: Es gibt doch noch die anderen Finger! Hörst du nicht zu? Jeder einzelne hat seine Aufgabe. Der Zeigefinger juckt den Bart. Der Mittelfinger drückt die Knöpfe. Der kleine Finger achtet auf die Windrichtung. Der Daumen –
„Sie da, wenn Sie Mittagspause haben, dann schicken Sie gefälligst jemand anderen! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, und die hinter uns mit Sicherheit genauso wenig!“
Ich betrachte den Daumen. Einen habe ich noch. Der andere wurde abgekappt. Mehr oder weniger sauber einmal durch. Das war vor drei Sommern. Letzten Sommer dann fast derselben Vorfall, diesmal nur der Ringfinger. Merkwürdig, ich weiß: der Ringfinger ist drangeblieben. Ist jetzt taub, doch hat dem Metall standgehalten. Der Daumen, viel dicker, viel stärker, war direkt ab. Ich habe ihn noch, in einer Dose mit Watte. Ich öffne die Dose nur selten, trotz aller Pflege ist der Geruch nicht der beste. Trotzdem hat auch er eine Funktion, der Daumen in der Dose, ich diskriminiere nicht zwischen Fingern an der Hand und Fingern in der Dose. Der Daumen in der Dose ist vielleicht sogar wichtiger als der an der Hand, denn –
„So, jetzt reichts.“
Ich drehe mich und schaue aus dem Fenster meines Häuschens. Ein Mann hebt ein kleines Mädchen über das Drehkreuz, wirft sie fast. Das Mädchen fängt sich, als habe sie es genauso schon tausendmal getan. Ich hebe die Fensterscheibe und betrachte den Mann vorm Drehkreuz.
„Na, und wer hebt jetzt Sie drüber?“
Er schaut mich böse an.
„Machen Sie mir jetzt die Tür auf oder nicht?“
Ich grinse.
„Wir haben bezahlt, Freundchen!“
Ich stehe auf, gehe nach draußen, öffne mit dem Schlüssel die Tür neben dem Drehkreuz und schließe sie hinter mir. In meinem Nacken spüre ich den Blick des Mädchens.
„Sie wollen also wirklich, dass ich durch das Drehding gehe, ja?“
Ich gehe zum Drehkreuz, grabe mit dem Schuh unten den Schlamm und Kies weg, der das Kreuz blockiert.
„So, jetzt können Sie gleich – nicht so schnell!“
Ich hebe den linken Zeigefinger. Der rechte wäre missverständlich, der linke gebietet dem Wüterich ausdrücklich Einhalt.
„Sie warten kurz, ich gehe zurück in mein Häuschen, dann schalte ich sie frei. Solche Hast wie Ihre hat mich schon mehr als einen Finger gekostet.“
Der Mann schaut verwirrt, ich zeige ihm den Daumenstummel an der rechten Hand. Er staunt. Ich lächle und gehe zurück ins Häuschen und schalte ihn durch. Dann drehe ich mich wieder um. Die wenigen Sekunden, bis der nächsten Parkbesucher an die Scheibe kommt, könnten reichen, um endlich zu entscheiden, was aus dem rechten Ringfinger wird, wie viele Kuppen er behält. So oder so braucht er eine neue Funktion – ziehen wird er schwerlich können, drücken gebührt dem linken Mittelfinger, jucken und pulen und die Windrichtung erspüren und den Lärm der Großstadt dirigieren, all das ist belegt. Was also bleibt übrig für die eine oder für die beiden tauben Kuppen?
„Hier, das ist für dich. Damit dir nicht langweilig wird.“
Ich drehe mich zum Fenster. Das kleine Mädchen, auf den Schultern ihres Vaters, hält mir einen kleinen, silbernen Gegenstand entgegen, auf dem sich ein paar Sonnenstrahlen sammeln. Ich hebe die Scheibe, öffne meine gute Hand und schiebe sie hindurch. Das Mädchen legt den Gegenstand hinein. Es ist ein Fingerhut. Ich grinse.
„Es gab letzten Sommer ein Mädchen, das sah fast genauso aus wie du – die hat mir auch etwas geschenkt, aber erst, nachdem sie mir etwas genommen hatte.“
Das Mädchen neigt neugierig den Kopf zur Seite.
„Willst du wissen, was sie mir genommen hat, bevor sie mir die Haarspange gegeben hat, die sie vor meinem Häuschen gefunden hatte?“
„Was ein Spinner“, meint der Vater mit Blick auf meine Glatze und wendet sich mit dem Mädchen auf den Schultern ab.
„Ich will es wissen, Papa“, schreit das Mädchen, „sonst pinkel ich dir auf den Kopf!“
Ich muss lachen und auch der Mann kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Er seufzt und kommt mit seiner Tochter zurück an die Scheibe.
„Also?“
Der Mann und das Mädchen betrachten mich erwartungsvoll. Ich will gerade sagen, was das Mädchen letzten Sommer mir genommen hat, als der Blick des Mannes auf meine schlechte Hand fällt, die mit vier Fingern. Er öffnet den Mund, das Mädchen betrachtet mich weiter erwartungsvoll. Ich halte sie noch ein paar Sekunden hin, dann grinse ich und sage:
„Das erzähle ich dir nächstes Mal. Jetzt macht ihr euch erstmal einen schönen Tag und ich suche eine Aufgabe für diesen schönen Fingerhut, in Ordnung?“
Das Mädchen zögert, dann nickt es. Ihr Vater schnaubt, dann wenden sie sich beide ab. Die nächsten Parkbesucher schauen ungeduldig. Ich werfe einen Blick auf den rechten Ringfinger, dann auf den Fingerhut. Nein, so schnell geht’s nicht. Das muss in Ruhe überdacht werden. Ich lege den Fingerhut zu meinen Zeitungen und der Dose mit dem Daumen und den anderen Dosen, dann drehe ich mich zurück zum Fenster.

 

Paul Hoban

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freiTEXT | Lilly Roß

Räume und andere Befindlichkeiten

Ich sitze mit einer großen Gruppe Menschen in einem großen Raum. Wir sitzen an einem leicht zu großen Tisch und trinken ein leicht zu großes Bier. Ich wurde von der Gastgeberin zu ihrem Geburtstag eingeladen. Eine liebe Geste, eine Nettigkeit, und sie ist auch die Einzige, die ich hier kenne. Ich schaue mich um. So viel Raum.

Wir sitzen seit zwei Minuten am Tisch, da bemerke ich, wie strategisch ungünstig mein Sitzplatz ist. Ich habe sofort bei der Begrüßung analysiert, wer heute Abend die Gespräche und damit indirekt den ganzen Abend leiten wird. Welche Personen auffallen, ohne auffallen zu wollen, welche Personen diejenigen sind, bei denen andere sagen, der ganze Raum würde sich erhellen, wenn sie hineinkommen. Diese Personen, die einfach wirklich cool und lustig sind und die ich insgeheim beneide. Diese von mir vorab identifizierten Personen sitzen mir jetzt gegenüber. Die Gespräche laufen schon, es wird gelacht, sich kennengelernt, sich verbunden. Warte, war das gerade ein erster Insider? Wow, sind die gut. Ich sitze gegenüber und lächle höflich. Mein Sitzplatz ist nah genug, um alles zu hören, doch zu weit weg, um mich zu beteiligen. Denn dazu müsste ich etwas lauter sein, reinrufen und vor allem den richtigen Zeitpunkt dafür finden. Und was würde ich dann sagen? Ich spreche oft nur, wenn ich angesprochen werde, weil sich alles andere wie Aufdrängen anfühlt. Nach fünf Minuten aber ahne ich, dass ich heute keinen einzigen Satz sagen werde, wenn ich diesem Prinzip treu bleibe. Denn hier wird nicht viel gefragt. Hier werden Worte ausgetauscht, als wären es Ping-Pong-Bälle, und wer dabei sein will, ja, was eigentlich? Der muss es eigentlich einfach nur machen. Also das Dabeisein. Eine andere Regel gibt es nicht, und ich kann es nicht fassen, dass mir schon dieses schmale Regelwerk zu anspruchsvoll ist.

Ich merke, dass ich ihn irgendwie verpasst habe, diesen Moment zum Dabeisein. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich von Minute zu Minute mehr in die Überflüssigkeit abrutsche, oder ob ich schon mit ihr in Begleitung hergekommen bin. Wieso wurde ich eingeladen? Ich versuche, mich davon zu überzeugen, dass ich irgendeine Qualität besitzen muss, die die Gastgeberin an mich denken ließ, als sie diese Gruppe aus Menschen zusammenstellte. Also praktisch eine Daseinsberechtigung. Aber falls sie existiert, ist sie vor lauter Schüchternheit derartig weit in mir versunken, dass ich sie nicht mehr greifen kann. Immerhin scheint niemand zu bemerken, wie furchtbar ich meine sozialen Fähigkeiten gerade in Szene setze und wie sehr ich mich dafür schäme, auch an diesem Tisch zu sitzen, so als wäre ich vom Kellner einfach falsch platziert worden. Das ist das Gute an der Situation: Alle sind zu sehr miteinander beschäftigt, um mich zu sehen. Außerdem ist in diesem Raum sowieso kein Platz für Befindlichkeiten. Doch dann frage ich mich, wie groß ein Raum denn sein müsste, um auch meine Gefühle darin platzieren zu können.

Nach etwa einer Stunde, die ich in meiner Beobachterrolle verbringe und tapfer an meinem Bier nippe, wandelt sich meine Scham in Wut. Das passiert jedes Mal. Ständig ertappe ich mich dabei, wie ich antworten will, wie mir was Witziges einfällt, wie ich eine Frage stellen möchte und ich dann zu langsam bin. Ein Scheitern an Langsamkeit ist sehr frustrierend. Denn während ich noch überlege, wie ich meine Worte formulieren und aneinanderreihen will, hat schon jemand anderes geantwortet. Laut und schallend. Ich merke, dass hier kein Raum ist für leise Stimmen und schon gar nicht für Schlafmützen. Dies ist ein Raum der Schnellen und Lauten, derjenigen, die problemlos in den Abend gefunden und mich seitdem nicht einmal mehr angeschaut haben. Ich möchte gerne sagen: „Ey, könnt ihr vielleicht etwas von eurem Raum abgeben? Nur kurz? Ihr habt doch schon so viel davon, überall. Diese laute, schnelle Welt ist doch viel mehr eure als meine.“ Aber das wäre mir peinlich. Denn strenggenommen nehmen sie mir meinen Raum ja nicht weg. Es ist ja eher so, dass wir alle den gleichen Raum betreten haben. Nur dass ich wie gesagt diesen Moment am Anfang verpasst habe. Und alle anderen danach. Und so bleibt da eben oft diese kleine Wut übrig, die sich an niemanden so richtig richten lässt, aber immer für noch ein bisschen mehr Distanz statt Nähe sorgt. Oft wünsche ich mir eine metaphorische Hand, die mir gereicht wird. Jemand, der daran glaubt, dass ich was zu sagen habe, ohne dass ich es vorher beweisen muss. Der mich vor dem Ertrinken rettet, oder weniger dramatisch gesagt, der mich einfach wieder ein bisschen anbindet an das Außen. Aber gut, wir sind ja hier keine Sozialarbeiter*innen, sondern privat hier.

Ich glaube, ich fahre nach Hause. Bin die, die als Erste geht. Wenn mir das als langweilige Eigenschaft attestiert wird, würde ich manchmal gerne sagen: „Ich bin gar nicht müde! Das war gelogen. Ich bin einfach sehr überflüssig.“ Und großflächige Überflüssigkeit kann schon mal auf die Stimmung schlagen. Ich würde prinzipiell ja schon länger bleiben, aber die räumlichen Gegebenheiten sind dafür heute nicht ideal. Schwer zu erklären. Liegt mitunter an einer strategischen Fehlentscheidung direkt am Anfang des Abends.

Auf der Heimfahrt schlägt meine Emotion ein drittes Mal an diesem Abend um, diesmal in Selbsthass. „Ah, hallo“, sage ich innerlich. „Nett dich hier zu sehen.“ Ich bin nicht überrascht, denn natürlich kommt der Selbsthass oft dann um die Ecke, wenn es im Außen an Schuldigen mangelt, aber eine Situation sich eben trotzdem scheiße anfühlt. Also gebe ich vorerst mir die Schuld, um zumindest diese Frage für heute zu klären. Als ich dann im Bett liege, gucke ich mich um. Viel weniger Raum, aber endlich groß genug, um ihn einzunehmen und meine Gefühle in ihm zu platzieren. Es ist ein schöner Raum, bunt und gemütlich. Ich finde ihn sehr einladend und frage mich oft, wieso er so selten besucht wird.

 

Lilly Roß

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