freiVERS | Ralph Stieber
musikkörper
ich höre die neunte sinfonie von beethoven
die er selbst nicht mehr hören konnte
aber spüren die vibrationen des basses
der vor 200 jahren über den boden
der konzerthalle wanderte und unter beethovens
füßen bebte durch die haut das fleisch seiner beine
an den knochen entlang kriecht über die wirbelsäule klettert
bis in sein herz hinein da wo musik uns treffen muss
damit wir tanzen wollen
selbst den jubel und applaus nach dem ersten satz
kann der komponist nicht hören eine der sängerinnen
aus seinem orchester dreht ihn um zum publikum
erst dann sieht er was er nicht hört irre gesichter
verzerrt zu fratzen wie karnevalsmasken klatschende
hände ihre hintern durch die sinfonie von den stühlen
gerissen sie wissen nicht warum sie ausrasten warum
tanzt ihr nicht fragt der mann das junge paar
in der story von raymond carver warum tanzt ihr
nicht und das runde schwarze stück vinyl dreht sich
die nadel senkt sich und nach einem knacken und einem
knistern erklingt musik und sie beginnen zu tanzen
im garten in einem kleinen amerikanischen vorort in
einer zeit in der fassaden frisch gestrichen waren tanzt
es ist egal was die leute denken tanzt
zu beethoven zu blues zu rap zu punk tanzt
je mehr ihr tanzt desto weniger tot fühlt ihr euch
je mehr ihr tanzt desto mehr fühlt ihr euch tanzt
zum song der jazz band in der bar wo die worte
der sängerin getragen werden von teppichen
gestrickt aus schwingungen die durch die luft segeln
wie papierschiffchen auf einem meer aus basswellen
die das publikum schwemmen mit klängen es packen
und forttragen aufs offene meer spürst du es fragt sie
und wenn du es nicht fühlen kannst dann singt sie
vielleicht nicht für dich
mein gehörloser cousin strich damals mit seinem finger
über meine cd sammlung mein gehörloser cousin
hat nie das zwitschern eines vogels gehört mein gehörloser
cousin der so voller wut war damals auf alles eingeschlagen
getreten alles zerstört hat grashüpfer käfer katzen
mein kettkar das kind unserer nachbarn 10 jahre später
auch seinen eigenen körper 10 jahre später
auch sein eigenes kind vielleicht weil alle anderen
um ihn herum hören konnten und er nicht
wusste warum er nicht
als teenager bestand mein leben zu 70 prozent aus musik
wie unser körper zu 70 prozent aus wasser besteht wie
muss ein leben ohne musik sein für meinen gehörlosen
cousin ohne musik ist das leben ein irrtum sagt nietzsche
und hat den größenwahn wagners mit jeder note verschlungen
sein eigener verstand zu einem irrgarten verwachsen in dem
seine gedanken umherirren wie muss es sich anfühlen
musik nicht hören zu können mein gehörloser cousin
hat nie den anfang der mondscheinsonate gehört
nie das rauschen des meeres und nie die stimme
eines menschen durch ein telefon am anderen ende
der welt gehört du hörst die musik nicht aber spürst
du sie fragen ihn meine hände und meine lippen die
stumm die worte formen jedes wort ein beat
und ich drehe den lautstärkeregler weiter mehr bass
bis zum anschlag mein gehörloser cousin nickt bewegt
seinen kopf seine hände steigen auf wie zwei jungvögel
die lernen zu fliegen und jetzt um seinen kopf herum flattern
sein körper füllt sich mit musik musik fließt durch seine füße
musik durchströmt seinen körper die vibrationen des basses
bringen die härchen auf seiner haut zum tanzen mein
gehörloser cousin daniel tanzt zu the clash ich habe noch nie
jemanden so tanzen sehen zu london calling es war
als hätte der song nur darauf gewartet dass er dazu tanzt als
hätte die band den song für ihn nur für ihn geschrieben
und wenn du ihn nicht fühlen kannst dann singe ich
vielleicht nicht für dich
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freiVERS | Ferenc Liebig
Meldebescheinigung
Der Junge ist damit beschäftigt,
seine Ausweisnummer an ein Gedicht zu hängen,
Zahl für Zahl den Begriff Herkunft abzutragen,
als wäre er ein Fluss und seine Heimat ein Felsen,
denn von Liebe und Tod redet es sich leichter,
von den Gewissensbissen, die nur aufwühlen
und keinen Trost verteilen,
von grasbewachsenen Berührungen,
die am Handtuch enden,
sei getrocknet, schreibt er,
du missverständliche, verschwitzte Achsel,
sei endlich, schreibt er,
du überforderte, schiefe Schulter.
Er beendet das Gedicht mit der Zeile
und doch findet sich überall Glück darin
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freiVERS | Chrischa Oswald
Was bleibt
nach den Sommern
in den Auslagen
ist immer das Blau
Augen liegen am Boden
und ich sammle sie
mit meinen Sohlen
wie süße Beeren
Was bleibt
nach den Sommern
ist immer das Blau
Und der Blick
der sich umstülpt
nach innen
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freiVERS | Mina Herz
bau mir ein haus
bau mir ein haus
in meinem körper aus glas
deine finger sollen die nägel
in meinem atem sein
bau mir ein haus
unter meinen nackten sohlen
dein lächeln soll der hammer
auf meinen knien sein
bau mir ein haus
für meine brüchigen arme
dein schweigen soll der zement
auf meinen handflächen sein
werde mein haus
bette mich in dir
wo mir bis zuletzt
alles fremd bleiben soll
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freiVERS | Jan-Eike Hornauer
Ausblenden
Selenskyjs Schreie werden langsam stumm.
Denn wer will sie bloß immer weiter hören?
Ein neuer Schrei, der findet schon sein Publikum.
Doch Dauerschreien, ach, das kann nur stören.
Selenskyj rührt uns so nicht länger an.
Sein Schrei verharrt ja bloß im Ewiggleichen.
Wie man die Grenzen nur nicht sehen kann!
Und halfen wir nicht schon? Das muss auch reichen.
Selenskyj, ach, ist keiner, der versteht:
Er schreit ja weiter wirklich voll und ganz!
Aus Notwehr greifen wir zur Ignoranz.
Selenskyj wird von uns auf still gedreht.
Wir sehen bald nurmehr den lauten Schrei.
Und denken uns – vielleicht – noch ›Munch!‹ dabei …
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freiVERS | Philipp von Bose
Die kleinen Triebe
fast wie abdrücke der jungen jahre
liegen triebe zugewandt im wachstum meiner
hände
aus der nähe angesehn scheint ein lichter wald
(aus dem stumpf und all dem warten) kraftvoll aus sich selbst
zu gehen
selbst im schatten diesem kalten haus
treibt sie der wunsch von zeit geführt
die decke grün
dem licht zu geben
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freiVERS | Clara Dobbelstein
Das Nest
Sogar in meine hellsten Träume
Wirfst Du Dein grünes Schattenbild.
Und Deine Hände fahren durch das Laub
Wie früher – (damals beinah zärtlich) –
Durch Hecken meines Haargeästs.
Dein Griff wiegt schwer auf Lorbeerhaut,
Umschnürt wie Efeutaue meine Zweige,
Drückt mir die Luft aus den Organen.
Dein Kuss versickert als ein Bach
Im Labyrinth der Rindengänge.
Du warst schon immer halb ein Specht.
Doch als ich noch kein Lorbeer war,
Da ließ ich Dich in meinem Mund
Und meinen angewärmten Worten
Auch manchmal wie in einer Heimat nisten.
Ich baute Dir den Unterschlupf,
Die Welt blieb hinter einem Vorhang.
Durch meine Blätter blickst Du nicht
Nach draußen in die weite Ferne.
Du wartest immer weiter auf den Einlass.
Du pochst beharrlich, flehst und bittest –
Doch diesmal gibt es keine Tür für Dich.
So richte Dich im Schweigen ein
Und spanne Deine Blicke bis zum Morgen.
Vermische Deinen Schatten mit dem grünen Tag,
Und nicht mit mir und meinen hellen Träumen.
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freiVERS | Anna Lena Bercht
Zukunft
Zukunftsangst
Zukunftsangstunterdrückung
Zukunftsangstunterdrückungsstrategien
Zukunftsangstunterdrückungsstrategienmüdigkeit
Zukunftsangstunterdrückungsausbruch
Zukunftsangstkonfrontation
Zukunftshandeln
Zukunft
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freiVERS | Rosen de Almeida
alle tage
-1-
kochen
putzen
kissen sein
und was weh tut
den kopf den rücken die füsse nicht
anfassen
in der nacht steigt der pegel
ich dreh
den hals
und es knirscht
bis ich
im sand
eine position finde
in der ich von den zumutungen der alpen
träume
-2-
in der frühe lüften
bedeutet die nacht hereinzulassen
und damit die einladung sich vom tag
abzuwenden
vom aftershave des nachbarn
vom rauch der frühschicht
vom müden trab
der ersten
die den bus
noch erwischen
wollen
ich schüttle
kissen
decken
und mich aus
auf
-3-
auf einmal
schlägt der wind das fenster
zu
der rabe erschrickt
und fliegt davon
die wolken
bauen
türme
im letzten licht
während
das spülwasser
kalt
wird
ich schaue
in den himmel
dann
in jeden topf:
die
gurken kommen, der
basilikum
-4-
die nacht schaut zum fenster rein auf das sich
re
gen
trop
fen
ge
legt
ha
ben
wie
schup
pen
eines müden falters
es gibt nicht viel zu sehen: ein bett
ein lichtkegel
pantoffeln
ein ladekabel,
ein glas mit medizin
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freiVERS | Fabian Lenthe
Wie lange wir wohl
Geradeaus hätten fahren können
Während wir einander geküsst hätten?
Und ich denke dabei an das Kleid
Und ihre Haare
An den Fahrtwind
Und die Zigarette
Die sie sich anzündete
Als wir knapp zweihundert fuhren
Dann fragt mich jemand
Ob dies die Linie
Richtung Friedhof sei
Und ich antworte ja
Und sehe auf die Uhr
Und sage
Kommt in zwei Minuten
Und wie immer
Beginnt es zu regnen
.
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