freiVERS | Fynn Bastein

Kuppelkirche

Wenn ich ganz genau hingucke,
läuft die Welt ein bisschen langsamer und Menschen steigen von ihren Fahrrädern,
als würden sie eine Kirche betreten.
Wenn ich ganz genau hinhöre,
ist es auch leiser.
In der Bibliothek wurden wir einmal ermahnt,
seitdem flüstern wir nur noch miteinander.
Manchmal flüstern wir so laut,
dass ich dich über einen ganzen Raum hinweg verstehen kann.
Du sagst du möchtest auch lernen wie man die Welt leise und langsam macht,
wie sie weich und sanft wird.
Es hilft
sich an Orte zu setzen, die sich nicht verändern,
die Augen zu schließen und die Vergangenheit vorbeilaufen zu lassen,
jeder einzelnen zu winken.
Es hilft
genau hinzuschauen,
so genau, dass die Grashalme vor deinen Augen verschwimmen
und du eigentlich gar nicht mehr genau guckst.
Es hilft
deine eigene Hand zu halten, als wäre sie eine andere.
Es hilft
Kirchen zu betreten, als würde man vom Fahrrad absteigen
und dort nicht zu flüstern
sondern nur in sehr lauten Räumen,
wenn man Schwierigkeiten hat sich zu finden.
Vielleicht hilft es auch die Zukunft vorbeilaufen zu lassen
und zu winken
aber nicht Hallo zu sagen.

 

Fynn Bastein

 

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Sigune Schnabel

Winterkind

Über eine Wiese
mit Frostblumen laufe ich, weiß,
dass nur der Wohnzimmerboden blüht.
Im dumpfen Licht wachsen mir Gräser
über den Kopf.
Bäume versinken im Nebel.
Auf ihrer Haut keimt Moos.

Ich bin ein Tier
und nähre mich vom Winter,
grase ihn ab und klinge
nach Landschaften und Eis.

Ich singe leise.
Mutters Stimme hält den Schnee zusammen.

 

Sigune Schnabel

 

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Michael Spyra

Der Mond im Fernsehapparat

Wie ein Ballon, ein Lampion, so schwebt er
mal mehr mal weniger und widerstrebt der
Tendenz zu fallen, Erdanziehungskraft
und trotzdem immer da, in Geiselhaft.

Der Fremde also, Fremdling und Begleiter,
mit Staub bedeckt, meteoritbeschneiter,
derselbe immer, Einzelgängermond,
wie eben schon und gleich noch mal betont.

Der Pockennarbige, im All ergraute,
der immer von derselben Welt beschaute,
das Accessoire aus einer andern Welt,
bewundert, abgemalt und angebellt,

gesichtet und besichtigt, überwunden,
die immer gleiche Bahn auf seinen Runden.
Die scharfe Sichel und das volle Rund,
von Swinemünde bis nach Swapokmund.

 

Michael Spyra

 

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Manon Hopf

ich suche ein trauer
wort für den ausbleibenden
schnee

das unvollständigkeits
erleben ob es mehr als drei
generationen braucht

bis der schnee schnee ist
von gestern eine neue semantik
gefunden

wurde für die augen ob
zukünftige fluten
das jahr abschließen können

mitreißen wie eine decke
weißer schnee this too is
water ob wir neue metaphern finden

für winter über wintern
wenn selbst unsere leichen
nicht mehr erkalten

wenn das frösteln wie eine erinnerung
über uns kommt beim öffnen
der brummenden kühlschranktür

ich weiß nicht wo ich über
wassern werde die hand
ins eisfach gelegt dort habe ich

eine leere
krippe aufgebaut neben
einer handvoll baby cheeses

 

Manon Hopf

 

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Torsten Siche

letztlich nutzlos die Kraft
in den Fingern die Melodie
klebt an den Lippen kostbar
wie Brausepulver einst
und immer übrig geblieben
als jede jeden zum Essen rief

keine Vögel kommen vorbei
trotz Herbst keine Not auf dem Spielplatz
hocken die Krähen im Sand zwischen den Fingern
zerrinnen die Krümel eine Spur hinter der Scheibe
verschwimmen die Lippen zum Sumpf
da wo einst Wärme war und Wimpernschlag

kein Igel im Laub kein Scharren
im Dickicht lauert kein Trost
von der Schaukel tropft es
Tränen zäh oder zögerlich
nichts drängt sich auf
oder will willkommen sein

kein getretener Hund streunt
vor deiner Tür klafft keine Wunde
kein Wimmern hinter der Wand
nur das Kinderlachen scheppert
im Fahrstuhl hinab

 

Torsten Siche

 

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Magdalena Resch

EINS

Blätter kitzeln einander
und tanzen im
Windestakt
durch den
Nebelnieselregen.
Ader für Ader.
Wie oben so unten.
So halten die vergrabenen
Wurzeln
die flatternde
Leichtigkeit
die mit einer
nadeldicken Ader
an der Starrheit des
Stammes hängt.
EINS.

 

Magdalena Resch

 

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Dörthe Huth

In Gesellschaft des Wassers

Du betest für Regen
in der Hoffnung
dass er singt
wie ein krächzender Vogel
während der Dürre des Sommers
im Tanz der Tropfen fühlt sich
das Leben leichter an
glaubst du
umschlossen von dumpfer Stille
halte ich das Gleichgewicht
und spiele toter Mann
mit geöffneten Augen
fixiere ich die Wolken
damit die Vorzeichen
nicht aus dem Blickfeld verschwinden
die schweren Wolken ziehen vorüber
Regen fällt nicht.

.

Dörthe Huth

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Helmut Blepp

Novizen

Leben verstehen
den Dunst durchschauen
lieben ohne Not
Frost aufhalten

Einfach zuhören
bei triefendem Himmel
sich zurücknehmen
angesichts der Trauergesänge

Dauer ruht
in den Irrwegen
zwischen Tag und Nacht
Hilfe im warmen Wort

Da draußen
suchen sie uns
und wir suchen mit
noch unbeholfen

.

Helmut Blepp

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Michael Pietrucha

Kleine Tode

I.
Dich über Worte aus Charakteren beugen,
die deinem Verstand ganz unbekannt sind
(wie Kanji).
Der Blick bricht
in kleinste Kaskaden
verfestigte Wasserfälle
Fontänen.
Baum um Baum anders,
ein Mischwald,
nur von Bestimmten für Bestimmte
gesetzt,
eine Augenweide mit Tuschezweigen.

II.
Umziehen oder Ausziehen,
doch noch in der Wohnung
sein.
Erinnerung für Erinnerung
(von dir),
Nutzgegenstand für Nutzgegenstand
abwägen
und von Hand zu Hand gereicht
sehen,
fühlen
wie viel du nicht brauchst und
übrig bleiben.

III.
Liebe machen,
lieben,
kommen und
deinen eigenen Körper wieder
anlegen können.

.

Michael Pietrucha

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Martin Dragosits

Es gilt

Sammelt Worte
In euren Taschen
Kalendersprüche
Textpassagen

Achtet auf die Nebensätze
Ihre Kinderreime
Körperhaltung
Ihren Blick dabei

Glaubt nicht
Es wäre übertrieben
Wenn ihr Kanten
deutlich seht

Zieht sie mit
Dem Finger nach
Malt sie mit dickem
Filzstift in die Luft

Seid bereit
Licht zu setzen
Weite
Unabhängig

Spielerische Elemente
Handbewegt
Über euren Kopf
Zu halten

Sammelt
Schwerelose Nahrung
Und bleibt
Sprungbereit

.

Martin Dragosits

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>