freiVERS | Torsten Siche
andächtig
Vermoosung unter der Zunge
mehr als ein aufgestoßenes Gebet
zwischen den Seiten zittern
die Finger ein Lied herbei
ein Krächzen gespuckt statt Lobpreis
die Erinnerung splittert unter den Nägeln
schnell überwachsen die Spuren im Gras
noch knistert das Laub des letzten Jahres
unter den Schuhen erhebt sich der Gesang
wie fallen gelassen kurz nach der Geburt
Bruchstein unter Efeu vergessen
beim Näherknien bricht das Dickicht
unter der Stirn keine Melodie
kein Klageton
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
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freiVERS | Lukas Leinweber
Der Wald und lauter Bäume
Die Überzeugung liegt falsch
und holt sich ein steifes Genick
Die Meinung macht sich breit
und bleibt im Türrahmen stecken
Das Gefühl schlägt Alarm
und trifft wen im Gesicht
Der Menschenverstand steht goldrichtig
und weicht den Argumenten aus
Der Glaube fliegt hoch hinaus
und drunter vergammeln Tatsachen
Die Erkenntnis geht fehl
und wird in der Sackgasse heimisch
Die Wahrheit tanzt im Kreis
und ihr wird schwindelig dabei
Die Kritik kommt zu spät
und dafür bestraft sie das Leben
Das Denken fährt fort
und erholt sich von sich selbst
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
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freiVERS | I. J. Melodia
Es fehlt uns der Hunger
Wir schlafwandeln
durch die Langeweile
auf einem Weg aus Worten
die es nicht mehr gibt
Mir gingen die Synonyme aus
meine Metaphern verfehlten
blieben in der Kehle stecken
Unsere Tage streunen
durch den Regen
Wir pflücken Strandgut
aus der Stille
warum redest du von morgen
Verzeih mir
dass ich dich schon zuvor
geliebt habe
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freiVERS | Crispin Scholz
du hast auf der Parkbank gesessen
und gesagt, dass du mich interessant findest
und ich habe mich verliebt
zumindest schreibe ich das
wenn jemand fragt
meistens frage ich
kann ich vorbeikommen?
seitdem schreibe ich kongruente Gedichte
wo lyrisches Ich und Autor
beinahe
gleichzusetzen sind
ich zum Beispiel
finde Menschen die auf Lehnen von Parkbänken sitzen attraktiv
weil sie ein bisschen freier sind als ich
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freiVERS | Georg Großmann
Aubezki
(AUssenBEZirksKInd)
ich bin ein gemälztes Kind
ich bin ein in
Pappelschnee gewälztes Kind
ich bin ein Kind der Weiher
und Regenfälle
des regengewürzten
Betons
des sommerblüten-
verschmierten Betons
des straßenmalkreide-
geschminkten Betons
des straßenleuchthonig-
getönten Betons
ein Kind der bunten Betonburg
nahe Neu-
Florida
—
ich bin ein Faltenbalgkind
ein Algenkind
ein Fußball-unterm-Arm-Kind
ein Räuber-und-Gendarm-Kind
ein Kind der Flächen
und Schnittstellen
der Aufzugkabinen und
Stiegenhäuser
Kind der frisch gemähten Wiesenstücke
Kind des sonnenwarmen Rindenmulchs
ich bin ein Ekazentkind
ein Wohnhausanlagen-
ein Sportplatzanlagen-
ein Sprenkleranlagen-
ein Gegensprechanlagen-
Ge Ge Nsch ppprrrrrrrrrrrr *ech*-
Anlagen-
Kind
ein "Ich komm runter", "Na, ich darf nicht", "Ist Mustafa zuhause?"-
Kind
ein Neun Monate, Oaschfetzn, Ausrede-
Kind
ein "Stange rettet", "Schweineleben"-
"Zweimal berührt"-
Kind
ein "Mach ma Match?", "Ich spiel Verein" "unser Ball is besser"-
Kind
ein "Ich muss heim, sagt meine Mama"-Schlüssel-
um-den-Hals-
Kind
ein Kind der Pyramiden
Pappeln
—
ich bin ein Wasserwaldkind
ein Feuchtwiesenkind
ein Kind der Auen
Kind des Dschungels
der hohen rauschenden
Blätterfassaden
Kind der duftenden
Wolkenbrüche
ich bin ein Donaumastenkind
ein Windschutzstreifenkind
(ein Kind der Flächen)
Kind der Felder und geraden
Straßen
Kind der sich auflösenden Stadt
ich bin ein Tretbootkind
ein Freibadkind
Freifahrtkind
Zweiradkind
Kind der stridulierenden
Fahrradspeichen
Kind des Immer-Geradeaus
Kind des In-Alle-Richtungen-Laufens
Kind der empfundenen Freiheit
ich bin ein Kind des Komprimierten;
der Minigolfplätze und
Kleingartenvereine
bin ein Kind der Ausdehnung;
ein Kind der Satellitenstädte
ein Kind der Industriegeschwüre
der brennenden Backsteinburgen
der von Rohren umschlungenen Schlösser
der speihenden Schlote und
stählernen Stelzenhäuser
ich bin ein Kind der begehbaren Nacht
bin ein Außen-
Kind, ein
Zirkuskind
Bezirkskind
Außenbezirks-
kind
Au-
Bez-
Ki
Kind
der Peripherie
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freiVERS | Melissa Tara Nielsen
Portugal
Hast du gelächelt
als ich mein Shirt ausgezogen habe
Sonne auf meinen Brüsten
Musik aus der Küche
Wein auf deiner Zunge
Qualm aus deinem Mund
Hattest du das
Universum im Blick
Sind meine Sommersprossen
auf dich heruntergefallen und
in deinen Bauchnabel getropft
Hattest du Haare
auf deiner Brust
meine oder deine
Hattest du deinen Gürtel noch an
deine Jeans
Wie lange
Wellen von der Küste
Hattest du
Schweiß auf deinen Lippen
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freiVERS | Lise Reingruber
ein gestrandeter wal
meeresblau das wasser
in der badewanne
ein gleitender sockenfussel
gleich einem schwarzen vogel
um meinen körper
planlos schwebend
irgendwann dann
das badewasser ablassen
und liegen bleiben
mein körper schwer
immer schwerer — am ende
ein gestrandeter wal
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freiVERS | Sebastian Sokołowski
der kern
ich habe mit meiner vermutung
recht behalten
die rückseite des mondes
birgt keine geheimnisse
keine zu erforschende prähistorie
die der mantel des vergessens deckt
die nackte kraterlandschaft
in unmittelbarer nähe
der endlosen leere
sagt niemandem was
wie die olympischen weltenlenker
die längst kein teufel mehr
fragt wer original
wer abbild ist
ich schreibe den ersten satz
niemals so dass
der leser unbedingt
den zweiten lesen will
es findet sich immer
jemand der das körnchen
wahrheit verzerrt
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freiVERS | Mark Monetha
Streifzug durch Athína
Das Ferne sieht er mit inniger Vertrautheit an
je ferner das Schiff am Hafen der Horizont
und auf steinerner Mauer
Jahrtausende Marmor
gestreifte Katze im Schatten bald
Füße im Staub, bald Nase
Hinten im Hof der Bleiwurz
gewachsen durch Fensterläden
Parterre ein alter Hellas
zugewachsen die Stirn
die Lippen am Krug
sitzt er da
Grün ist es, grau und pastell
entlang der Straßen
Orangenbäume in Frucht
dass sie fallen und platzen:
brechen in süßem Saft
Das Pflaster poliert
von Sohlen Dekaden
Gedanken Jahrhunderte
achtsamen Fußes
drei Stockwerke hoch
die Wandmalerei:
ein Mädchen mit Vorschlaghammer
Die Wäsche frisch
auf dem Balkon
vor grauen Läden: hier wird gelebt!
mit allen Gliedern
Fremde Füße im Park
darin Olivenbäume
in silbergrünem Glanz
und Rascheln im Strauch
Von den Hügeln das Meer
weißer Teppich, Mosaik,
die Häuser gelegt auf das Land
und das Meer voller Blau
voller Meer
so nah das Fremde das Ferne
dass es wandert schon
in den Glanz zweier Augen
dahinter
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freiVERS | Moritz Reiffers
Gletschermusik
Die aneinander vorbeistreichenden
Ineinander sich verschiebenden
Gegeneinanderschlagenden noch
Vom ewigen Schnee halb bedeckten
Schrillflächen des Gletschers schillern
Erstarrt im schnellen Licht. Kein Geräusch
Noch. Später
Zirpt wohl alles immer schon knirscht schnarrt
Schurrt und plätschert unsichtbar
Hinter uns her hoffnungslos
Langsam durch die ungeatmete Luft.
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