freiVERS | Sigune Schnabel
Im Meer sind Geschichten weicher als an Land
I Ursprung
In einer Maus werde ich wachsen.
Ich liege in ihrem Schoß
und rieche, wer ich bin:
Wind und Gras oder ein Tag,
der räuberisch verklingt.
Sie glauben, sie kennen mich
aus früheren Zeiten, aus Waldgebieten
und Nächten.
Ich lief durch die engen Schatten
ihrer Rufe, schlief
auf wilden Worten.
Bald werde ich ein neuer
Tag; doch verschwinden soll ich,
wo alte Geschichten
unter Zungen hausen.
Die Steine wissen vielleicht
noch von mir.
II Niemand kennt den Grund
Im Meer drehen sich die Zeiten
in die Tiefe.
Ich rieche den Atem der Steine.
Einst nahm sich der Staat Gewässer
und nannte sie sein Eigen.
Aber sie schwimmen davon
wie ich.
Überleben will ich in Wasserhöhlen.
Immer seltener möchte ich sprechen.
Am schönsten ist das Meer,
wenn es mich hält.
III Die Nacht fällt von der schwarzen Liste
In Laubwäldern heult der Wind
durch Bäume.
Kinder sprechen von Farbmustern.
Ihre Stimmen kann ich dunkel
von der Landschaft unterscheiden.
Das Leben ist schneller als ich,
überquert Flüsse und Gezeiten.
Mein Haus erzählt eine Geschichte.
Ich höre zu
und weiß nicht: Ist sie wahr?
Nie bin ich größer als ihre Worte.
Vielleicht stirbt sie vor mir aus.
Die Gräber kenne ich
und die Stille. In der Nacht
gehören alle Farben mir.
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10 | Sigune Schnabel
Ich habe eine Schneehaut bekommen
Ich weiß noch, wie sie zum ersten Mal überfror
und mich die Erde widerwillig trug.
Ich ging auf ihr spazieren.
Frostblumen blühten grau.
Als ich die Felder erreichte,
knackte die Stille
vor Kälte. Ich legte ihr die Hand
auf den Rücken,
aber sie schob mich fort.
Ob sie alleine weiterzieht,
fragte ich sie.
Ihr Körper nickte.
Ihr Gesicht war weiß.
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Sigune Schnabel
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freiVERS | Sigune Schnabel
Trägt jeder Körper eine Spur Verwegenheit
I Wurzeln
Es kann Jahre dauern, bis ich den Boden
erforscht habe, den Regen und die Nacht.
Wir reiben uns aneinander,
und es gibt Zonen, die noch nicht
ausgelotet sind nach all der Zeit.
Im Winter trägt meine Rinde
das Weiß des Anfangs,
eine Stille, die schneit,
schreit.
II Stamm
Ich gehe nicht auf dich zu.
Du legst die Hände
auf meinen Körper, weil Sätze
auf der Haut zerfallen.
Als Mutter noch Sprache war,
bin ich aus Gedichten geboren,
habe mich geschüttelt, bis die Worte brachen.
Du hast mich gesehen
im Wasserspiegel eines Sees.
Wir gehören der gleichen Familie an.
Die Fremde hat längst ihre Rinde gelassen.
III Astwerk
Ich will viele sein,
streife dich aus verschiedenen Richtungen.
Meine Haut spricht am schönsten
mit der Erde.
Wie du heißt, vergesse ich am nächsten Morgen,
und doch nehme ich drei Worte
mit zu mir.
Gemeinsam loten wir Berührungen aus.
Deine Augen sind aus Moos,
und die Landschaft ruft aus mir heraus.
Sieh mich vom Ursprung her.
Meine Geburt war leise.
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freiTEXT | Sigune Schnabel
Schuld
Ich bin schuld an dem Kälteeinbruch. Mir fällt es schwer, das zu sagen, aber ich muss der Wahrheit ins Auge sehen. Das pflegte schon Alba zu betonen, als ich noch mit ihr zusammenlebte. Alba war überhaupt sehr viel daran gelegen, den Verursacher zu finden, sei es von fauligen Äpfeln, verlorenen Socken oder zu viel Pfeffer im Essen. In den meisten Fällen war das einfach, denn außer uns beiden wohnte hier keiner. Es gab aber auch die weniger eindeutigen Bereiche. Mit „weniger eindeutig“ meine ich: Alba verspürte mehr Gewissheit als ich, dass der Schuldige bereits feststand, um nicht zu sagen: Es herrschte eine empfindliche Uneinigkeit, die ohne Weiteres nicht beseitigt werden konnte. Jedenfalls nicht, indem wir aufeinander zugingen. „Gespräch“ bedeutete nämlich, dass Alba redete und ich zuhörte. Hielt ich mich nicht an diese Regel, wurde der Zustand kritisch zwischen uns.
Warum also gerade ich für diesen Kälteeinbruch verantwortlich bin und nicht etwa Alba oder das Rotkehlchen vor dem Haus? Die Sache ist einfach, denn es gibt mehrere Indizien, die gegen mich sprechen. Ich werde nicht versuchen, mich zu verteidigen. Die Würfel sind gefallen. Wie sagt man so schön: Der Weise versteht, wenn die Zeit reif ist, Einsicht zu zeigen.
Am Wichtigsten ist die Tatsache, dass erst mit meiner Rückkehr aus Winterfeld der Frost sichtbar wurde; vorher, so hatte mein Nachbar beteuert, war die Wiese vor dem Haus nur vom Regen benetzt. Vielleicht, so könnte man einwenden, handelte es sich bloß um eine Korrelation, einen losen, zufälligen Zusammenhang zwischen den Erscheinungen. Auf Begriffe hat Alba immer großen Wert gelegt. Nie durfte der falsche über die Lippen kommen, besonders, wenn es sich um meine Lippen handelte, denn, da war sie sich sicher, von solchen Begriffen wurden sie wund. Falsche Wörter taten nämlich weh. Nicht nur in den Ohren. Sie hinterließen Verletzungen. Sichtbare. Auch auf der Haut. Alba war eine fürsorgliche Frau. Das sagte sie oft zu mir, weil sie dachte, ich würde es sonst nicht bemerken. Sie traute mir selten zu, dass ich auch ohne ihre Hilfe auf gute Gedanken kam, plausible Annahmen in meinem Kopf bildete. Soll ich ihr etwa verübeln, dass sie mir hin und wieder Hinweise gab?
Was die Temperatur betrifft: Alles spricht dafür, dass ich sie mit nach Hause gebracht habe. Wie das passieren konnte? Ganz einfach: Während der Fahrt fröstelte ich. Und zwar ununterbrochen. Hätte sich die Kälte zwischendurch davongemacht, auf einer Raststätte oder kurz vor der letzten Tankstelle, hätte ich noch argumentieren können, es handele sich um eine neue, mir fremde Kälte. Aber ich weiß, dass die anderen Recht haben. Schließlich hat sie kein einziges Mal von mir abgelassen. Die gesamte Fahrt über streifte sie meine Haut. Berührte mich unter dem Pullover. Gut, da kann sie vielleicht auch nicht so leicht hervorkriechen und sich davonmachen, schließlich trage ich meine Kleidung eng. Auf jeden Fall sprechen die Tatsachen gegen eine Korrelation.
Einen Punkt hätte ich fast vergessen: Ich habe immer einen kühlen Kopf bewahrt. Also versteckt sich die Kälte sogar in meinen Zellen. Alba glaubt das nicht, jedenfalls nicht die Sache mit dem Kopf. Sie meint, der Frost liege bei mir tiefer – im Übrigen ist sie deshalb ausgezogen –, aber auch sie irrt sich. Jedenfalls manchmal. Wichtig ist, sie nicht darauf anzusprechen. Sonst geht es heiß her. Und davon will der Kälteeinbruch nichts wissen.
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24 | Sigune Schnabel
Erziehung ist wie ziehen
Von Gott sollst du kein Bild machen.
Die Linsen verzerren seine Kanten,
verfärben die Schattierung im Gesicht.
Mutter steht
mit wehendem Handtuch
auf der Treppe.
Ich weiß von ihm
aus nebligen Geschichten,
suche im Gartenhaus
und zwischen Giersch.
Gib mir das Abendlied,
rufe ich,
damit ich dich besser verstehe.
Ich bin ein Erfinder.
Reiche es mir auf dem Silbentablett:
ein Klang überm Meer,
ein Wort,
das niemand kennt.
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Sigune Schnabel
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mosaik36 - Eine Wohnung mit Zukunft
mosaik36 - Eine Wohnung mit Zukunft
Winter 2022
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INTRO
Wir wohnen seit zehn Jahren im bedruckten Papier.
Literaturzeitschrift.
Eine Zeitschrift mit Zukunft.
Hier wollen wir alt werden.
Man macht das eigentlich nicht, aber wir hoffen auf Milde aufgrund unseres Alters: Wir haben uns für diesen Einstieg einer Textstelle von Pia Schmikl (S. 20) bedient und an unsere Situation angepasst. Es ist nämlich so, dass wir dieser Tage das zehnjährige Jubiläum der mosaik1 feiern. Und es ist auch so, dass wir traditionell lieber nach vorne als zurück blicken. Vor zehn Jahren haben wir das nicht gemacht: Niemand hat sich überlegt, was wir dereinst beim 10-jährigen Jubiläum wohl machen sollen. Und so feiern wir unseren ersten runden Geburtstag etappenweise: In dieser Ausgabe findet ihr ein paar wenige, ausgewählte Texte, die uns besonders in Erinnerung geblieben sind. Im Herbst werden wir mit euch allen gemeinsam ein mosaik-Fest feiern. Und dann fällt uns sicher noch weiterer Jubiläums-Schabernack in diesem Jahr ein.
Und gleichzeitig blicken wir weiter in die Zukunft – mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Es warten spannende Projekte auf uns: Bücher, Kooperationen und neue Ideen! Aber gleichzeitig hat sich auch nach zehn Jahren wenig an der prekären Situation des Projektes mosaik geändert. Wir arbeiten gerne und nur von Idealismus getragen – hinterfragen diese Praxis aber immer öfter und fragen uns, wie es weitergehen kann.
Bevor wir jetzt aber selber zum Partycrasher oder zur Spaßbremse werden, wünschen wir euch viel Freude mit dem neuen Heft. Aber nicht vergessen: „Lesen ist eigentlich asozial.“ (Stefanie Stegmann, S. 82)
euer mosaik
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Inhalt
Spezial: 10 Jahre mosaik
Stell dir vor, du kommst nach einer Lesung ins Gespräch: Was es bräuchte, wäre eine stärkere Förderung junger und neuer Autor*innen, am besten mittels einer Zeitschrift! Man beschließt die Gründung einer solchen. Gefühlt drei Tage später feiert man das 10-jährige Jubiläum.
Wir sind keine großen Freund*innen von Sentimentalitäten, aber wir erinnern uns in dieser Ausgabe sehr gern zurück, haben Wegbegleiter*innen des mosaik gefragt, an welche Texte sie sich erinnern, welche hängen geblieben sind – und präsentieren eine nicht repräsentative Auswahl auf den ersten Seiten. Nur original auf kariertem Papier (wie bei mosaik1). Viel Freude mit dem bisschen Nostalgie.
Wellengang oder Geflüster
Pia Schmikl – Ein Fisch kennt keine Angst vor dem Ertrinken
Georg Großmann – Altokumuli | Einige Pilzarten
Stefanie Nebenführ – Das Haus
Sigune Schnabel – Kindheit
Giovanna-Beatrice Carlesso – Der Hase rennt
dringende seelenstoffe
Elke Steiner – ich schenke dir mein natternhemd
Christina König – Gegenüber
Jimmy Brainless – Der Eiswürfel
Ronja Lobner – mein letzter rest
halb Wunschvorstellung
Leo Lemke – Der Wasserwandler
Signe Ibbeken – Kurz vor Glücksstadt
Hannah Beckmann – Dunkel, Linie, Dunkel
Vera Hohleiter – Fundstücke
Anja Bachl – Kaleidoskop
Kunststrecke von Ursula Wimmesberger
BABEL – Übersetzungen
Miklós Radnóti, geboren am 5. Mai 1909 in Budapest, war ungarischer Dichter jüdischer Abstammung. Sein Werk war beeinflusst von der tschechisch-ungarischen Avantgarde und dem französischen Expressionismus. Seine Tätigkeit als Handelskorrespondent im Unternehmen seines Onkels legte er 1930 nieder, um Ungarische
und Französische Philologie zu studieren. Im selben Jahr veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband ‚Pogány köszöntő – Heidnischer Willkommensgruß‘.
Der zweite Gedichtband wurde aufgrund des Vorwurfs der Obszönität verboten und brachte ihm beinahe eine Haftstrafe ein. In den frühen 1940er Jahren wurde er zur Zwangsarbeit eingezogen und schließlich nach Bor im heutigen Serbien deportiert. Bei einem Gewaltmarsch Anfang November 1944 kollabierte er nahe der österreichisch-ungarischen Grenze und wurde mit 21 anderen Mithäftlingen hingerichtet. Sein Leichnam konnte später in einem Massengrab identifiziert werden. Bei sich trug er ein Notizbuch mit seinen letzten Gedichten. Darunter den hier vorliegenden Zyklus ‚Razglednicák‘.
Miklós Radnóti – Homály / Dämmerlicht
– Két karodban / In deinen Armen
– Razglednicák / Razgledinicen
[foejәtõ]
Wo findet (denn eigentlich) Literatur statt? Im Kulturteil setzen sich diesmal gleich mehrere Texte mit möglichen, neuen und sinnstiftenden Orten der Literatur, von Lesungen, von Gesprächen über Kunst auseinander: Raoul Eisele bewandert den urbanen Raum, Hartmut Hombrecher und Martin Peichl beleuchten jeweils innovative Ideen und Umsetzungen von unabhängigen Lesereihen, Stefanie Stegmann berichtet im Interview von ihrer zwischen/miete – Lesungen in WGs!
Kreativraum mit Friedrich Rücker
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>> Infos, Leseprobe und Bestellen
21 | Sigune Schnabel
Hausordnung
Du sollst die Treppe nicht anfassen
mit deinen schmutzigen Schuhen,
Gedanken, Kopfstein-
pflastern über den Wunden.
Die Stunden der Nacht ausdehnen,
aber dich nicht daran anlehnen
in gesperrten Augenblicken.
Nicken musst du dem Nachbar zum Gruß
und leiser atmen,
immer ganz still-
stehen. Kein rasselnder Husten
im Brustkorb. Halte dich
an die Schweigepflicht
der Bronchien, Nasenflügel,
Luft in den Lungen.
Du sollst keine Menschen berühren.
Deine Haut ist eine dünne Wand,
dahinter ein Schrank mit Astlöchern.
Zerbrich die Jahresringe, sie wachsen
sonst über dich hinaus.
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Sigune Schnabel
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mosaik 33 - offene Rechnungen überall
mosaik33 - offene Rechnungen überall
ansonsten chronisch werden
- Tom Jan Putz – Warum wir nie mehr Fahrrad fahren
- Raoul Eisele – dabei die Worte abzuwägen
- Liona Binaev – Eine Frau die schläft
wozu wir aufgebrochen waren
- Nils Woitschach – naherholungsgebiet
- Thassilo Hazod – Schön ist das Wetter am Land
- Klaus Wieser – allerseelen
unter der falschen Sonne
- Sigune Schnabel – Fünf sein / Sieben sein
- Franziska Gänsler – Die Stare
- Seda Tunç – garten angehalten
- Andra Schwarz – Elephant in the room
Kunststrecke von euch: Postkarten-mosaik
BABEL – Übersetzungen
Schon immer stand der Mensch mit seinem Hang zur Übertreibung in der Weltgeschichte auf verlorenem Posten – und das Selbstmitleid, in dem er sich gut und gerne suhlt, kennt bisweilen keine Grenzen. Als gutes Mittel gegen Weltkrankheiten kann uns daher die Literatur dienen, speziell jene, die es aufs Vorzüglichste versteht, den Menschen als Schalk zu entlarven. So widmet sich unsere neueste Babel-Auswahl in ihrem ersten Beitrag einer ganz anderen Pandemie: der Dummheit nämlich. Diese ist bekanntlich unendlich. Genauso wie die Fülle an Sprachen und Promis, die diese Ausgabe schmücken: Griechisch, Russisch, Latein, Ungarisch stehen so neben Marcel Duchamp, Emily Dickinson, Eric Satie, Lew Tolstoi. Das Gegenteil von Dummheit machts möglich!
- Francesco Filelfo – An Maemus (Odae 1, 2) (Latein)
- Zoltán Lesi – Kedves Marcel Duchamp, / Lieber Marcel Duchamp, (Ungarisch)
- Ioulita Iliopoulou – KENO / NICHTS (Griechisch)
- Dimitry Strotsev – пчелы уверены […] / die bienen sind sicher […] (Russisch)
[foejәtõ]
„In Krisenzeiten denken wohl die meisten nicht zuallererst an Kultur, doch sollte sie nicht aus den Augen verloren werden.“ – Antonio Prokscha stellt fest, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Doch das letzte Jahr hat gezeigt, dass regional und international wenig selbstverständlich ist. Darum blicken wir in dieser Ausgabe in die Kulturszenen ausgewählter Länder, von den Niederlanden über Belarus bis China, von Osteuropa bis Zentralasien, um den Status der Kunst, Literatur und Zivilgesellschaft zu erfragen.
Kreativraum mit Katharina J. Ferner
04 | Sigune Schnabel
Urlaub am See
Alle Besucher gehen gebeugt,
ballen sich wie Wolken
über dem Boden.
Starre Blicke roden die Sprache
in Kehlen,
machen keinen Hehl
aus den fehlenden Linien
der Hände,
in denen sich einst Menschen verliefen.
Heute ist Tag eins
vor dem Komma,
bin ich berechnend
am Frühstückstisch,
verstecken sich Worte
neben Brot und Tee.
Wir gehen hinaus
durch Türen.
Am Rahmen hängt noch
die Farbe von Schnee.
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Sigune Schnabel
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freiTEXT | Sigune Schnabel
Die Zeit bleibt Kind
I
Es gab Menschen, in denen die Zeit schlief. Sie blinzelte morgens einmal in die Dunkelheit des Körpers, drehte sich um und schloss die Augen erneut. Der Atem ging so gleichmäßig und leis, dass ihre Anwesenheit aus den Köpfen verschwand.
Mit fünf Jahren hatte Johanna geglaubt, gänzlich von den Misslichkeiten des Lebens befreit zu sein. Damals hatte ihr Bruder eine eiternde Wunde auf dem Handrücken, die täglich versorgt werden musste. Johanna schaute angewidert zu, wie der Verband gewechselt wurde, und sagte sich im Stillen: Mir würde so etwas nicht passieren.
Erst als sie zur Schule ging, erkannte Johanna, dass die Zeit stärker war als sie. Ihre Großmutter ging ins Badezimmer und stellte den Fuß auf einem Hocker ab. Krampfadern überzogen das Bein vom Knie abwärts, schlängelten sich wie Flussbetten entlang und hatten beinahe die Dicke von Johannas kleinem Finger.
Sie hob ihr Kinderbein zu ihrer Großmutter empor und stellte es daneben. „Schau mal“, sagte sie und zeigte auf ihre Adern. Blau hoben sie sich vom Fuß ab. Ob sie einmal Krampfadern würden? Großmutter zwängte sich den Stützstrumpf über und antwortete: „Bestimmt.“
II
Später wurde die Zeit ein Strom. Je älter Johanna wurde, desto reißender stürzten die Jahre das Flussbett hinab. Früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, bewegten sie sich in feinen Wellen, und an manchen Stellen blickte Johanna bis zum Grund. Heute sah sie nur treibende Blätter und aufgewirbelte Gischt.
Damals bestand ein Tag aus einem riesigen Sack. Sie sammelte und sammelte, und immer blieb noch Platz. Nachts füllte sie den Rest in anderen Welten. Dann trat ein Mann aus der Tür der schlechten Träume, die sich in der Wand am Fußende ihres Bettes befand, bäumte sich auf und sprach mit finsterer Stimme: „Ich bin der Schokoladenfresser!“ Leider war Johanna nicht schlagfertig und mutig genug, ihm die Reste vom letzten Osterfest anzubieten. Ihr kam nicht einmal der Gedanke, dass sie selbst gar nicht aus Schokolade bestand und somit außer Gefahr war, gefressen zu werden.
Mit den Jahren wurden die Säcke immer kleiner, und die alten befanden sich schon so weit hinten, dass Johanna nicht mehr zu ihnen durchdrang. Nur manchmal, wenn sie müde war, geriet sie für Sekunden in einen Bereich zwischen Traum und Wachen, in dem Erinnerungen wohnten. Gerüche und Orte vereinten sich in diesem Moment. Ihre Füße befanden sich plötzlich auf Straßen, die sie als Kind entlanggelaufen war, in Ecken, die ihr gänzlich entfallen waren. In solchen Augenblicken merkte sie, dass ihr Leben in ihr ruhte. Sie waren ein müder Nachklang der einstigen Fähigkeit, die Welt mit allen Sinnen zu erleben. Ein Echo der Kindheit und zugleich ein Tor.
III
Früher schrieb Johannas Mutter jedes Jahr einen langen Brief an die Verwandtschaft. Die Kinder durften diese Seiten nicht lesen, wussten aber, dass es um sie ging, was sie wütend machte. Einmal fanden Johannas Bruder und sie Schnipsel im Papierkorb, die unverkennbar von einer Kopie stammten. Jeden einzelnen breiteten sie auf dem Wohnzimmerboden aus. Ihre Mutter störte sie nicht bei ihrer Tätigkeit, denn sie glaubte offenbar nicht an den Erfolg. Bei manchen Teilen sah man sofort, dass sie zusammenpassten. Dann gab es diese weißen Randbereiche, auf denen sich nur einzelne Striche befanden, die nahezu jeden Buchstaben fortführen konnten. Immer wieder probierten die Kinder aus, die Teile zusammenzusetzen. Am Ende schafften sie es. Es entstand ein Text.
Sekunden im Halbschlaf waren manchmal solche Puzzleteile. Mit viel Geduld ließ sich von ihnen einmal der Text der Kindheit ablesen. Das nächste Mal wollte Johanna ihn luftdicht in Flaschen verstauen und in ein Boot tragen, ihn vor dem reißenden Fluss schützen.
IV
Bei Paul war die Zeit kein Fluss. Schon früh rannte sie in seinem Körper auf und ab. Ein unbändiges Kind, das gegen die Zellen trommelte; das noch nicht gelernt hatte, Spuren zu verwischen und Scherben zu beseitigen. Manchmal erschrak es einen Augenblick, das Kind; vielleicht, weil ein Glas auf den Kacheln zersprang. Doch dann rannte es weiter umher, bis der nächste Gegenstand zu Bruch ging.
Manchmal sah Johanna vor sich, wir sie mit Paul durch den Sand lief. Die Sandalen baumelten in seiner linken Hand. Johanna trieb es immer weiter, bis zum hintersten Zipfel der Insel, an dem das Vogelschutzgebiet begann. Auf einmal war der Weg überflutet. Wellen umspülten ihre Fahrräder, die sie oben abgestellt hatten. Paul stieg ins knietiefe Wasser. Hinterher lachten sie, froh, dass sie sich rechtzeitig auf den Rückweg begeben hatten.
Wenn Paul auf dem Stuhl saß, wollte Johanna sagen: „Steh auf!“ Doch niemand konnte die Zeit in seinem Innern bremsen. Wie gern hätte Johanna ihn wie ein Fahrrad aus dem Meer gezogen.
V
Die Pflegerin schob ein großes Gestell heran. Sie musste aufpassen, dass es nicht anstieß. Dann ließ sie es herunter, gerade so tief, dass sie Paul daran befestigen konnte.
Als sie es wieder nach oben kurbelte, schwebte er in einer Schaukel. Zwischen den Armlehnen des Rollstuhls ließ sie ihn herunter, so passgenau, dass er in Sitzposition landete. Jedes Mal konnte Johanna nur zuschauen, wie die Zeit jede Regung von Paul nahm.
VI
Die Fähigkeit der Hingabe war abhandengekommen. Johanna schlüpfe in einen Raum, in den keine Berührungen reichten. Müdigkeit legte sich in ihre Sätze, ließ sie schwer werden und langsamer klingen. Sie versuchte, ihre Unsicherheit durch Verstand zu tarnen, zerschnitt ihr Leben in kleine Stücke und setzte es schlüssig zusammen, legte es auf einen Teller und sagte: „Sieht es nicht schön aus?“ Paul verzog das Gesicht.
VII
Johanna hatte gedacht, sie würden es schaffen, nichts zu erwarten. Nicht mehr zu spüren, wie sie dahinter verschwanden. Aber sie hatte sich geirrt. „Ich will dich noch einmal von vorne verlieren“, dachte sie und schaute aus dem Fenster. Sie saß an Pauls Bett und sah zu, wie er immer weniger wurde. Wie seine Hände, seine Stimme ihm entglitten. Sie hatte Angst vor seinem Verschwinden, denn es lag außerhalb ihrer Ordnung. Außerhalb der Regeln ihrer Welt. Es ließ sich nicht erklären und beherrschen. Geradezu absurd in einer aufgeklärten Zeit. Lag hier nicht das größte Versagen, wenn nicht sogar ein Verspotten aller Errungenschaften?
VIII
Seit Pauls Körper ihm entglitt, war Johanna aus dem Takt geraten. Bei jedem Versuch, sich zu halten, fehlte das Gerüst, die Grundlage. Also fiel sie in sich hinein, bis sie sich nicht mehr auffinden konnte, so tief. In der Leere tauchte ihr altes Leben wieder auf, als Nordlicht. Wenn sie danach griff, stürzte sie weiter, denn die Farben hatten keine Substanz.
Sie konnte Paul nur zusehen, wie sich etwas um ihn auflöste; nichts war mehr möglich, außer in den Leerstellen zu versinken.
Ein Teil von Paul hatte sich in Johanna verankert. Wo er sich lockerte, riss er etwas auf. Ihre Wurzeln waren wund geworden an der Luft. Wie lange war es her, dass sie die Grenzen zwischen sich verloren hatten? Dass sie sich überschnitten und ineinander rankten? Auch auf Johannas Seite starb etwas.
IX
Manchmal hielten sie sich am Immergleichen, denn es täuschte sie über das Ende hinweg. Ihr Denken beruhigte sich in dem Schein von Beständigkeit. Sie ahmten die Tage nach, als könnten sie so die Zeit anhalten. „Glaubst du nicht auch, dass sie hinter Gewohnheit verschwindet? Dass sie ganz still wird, wenn wir sie in einen Rahmen pressen?“, fragte Johanna, doch sie sprach es nicht aus.
Und sie dachte weiter: „Kennst du die Angst vor der Zeit? Eine Wohnung, ein Möbelstück aufzugeben, weil dann auch ein Stück von dir verschwindet; ein Abschnitt beendet ist, der aus dir herausfällt und eine Lücke hinterlässt? Du haftest noch daran, zu einem kleinen Teil, und fühlst, wie sich ein Loch in dir bildet, ohne diesen Gegenstand. Die Zeit zerstört dich zunächst nur langsam, doch du wirst immer kleiner, bevor du etwas Neues werden kannst. Nein, selbst das ist nicht von Bestand. Bald wird dir die Fähigkeit zu werden abhandenkommen. Bleibst du dann ohne dich zurück? Weißt du, was ‚ohne dich‘ bedeutet?“ Johanna wusste es nicht.
X
Manchmal nahm sie ein kleines Stück Leben und warf es in die Leerstellen. Doch es verlor den Glanz, wenn es so einsam und zerschnitten an der falschen Stelle lag.
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