24 | Sigune Schnabel
Erziehung ist wie ziehen
Von Gott sollst du kein Bild machen.
Die Linsen verzerren seine Kanten,
verfärben die Schattierung im Gesicht.
Mutter steht
mit wehendem Handtuch
auf der Treppe.
Ich weiß von ihm
aus nebligen Geschichten,
suche im Gartenhaus
und zwischen Giersch.
Gib mir das Abendlied,
rufe ich,
damit ich dich besser verstehe.
Ich bin ein Erfinder.
Reiche es mir auf dem Silbentablett:
ein Klang überm Meer,
ein Wort,
das niemand kennt.
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Sigune Schnabel
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23 | Christoph Laible
Weihnachten ist nicht später
Karl ist ganz aufgeregt, als Papa die Haustür öffnet.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa.
Er schleppt die Einkaufsackerl ins Haus. Auf der Stirn eine tiefe Falte.
Karl klopft gegen die Küchentür und Papa öffnet sie. Es riecht nach Blaukraut und Knödeln.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa und rührt in den Töpfen, aus denen es dampft und zischt. Die Falte auf der Stirn noch tiefer.
Karl klopft gegen die Küchentür, aber Papa öffnet nicht. Also geht er hinein.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später.“ Er schiebt drei Bleche mit Keksen in den Ofen. Die Falte auf seiner Stirn kommt Karl nun unendlich tief vor.
„Es ist schon dreimal später!“ Karl stampft auf den Boden.
„Was ist denn so wichtig?“ Papa seufzt.
Vor dem Fenster liegt ein Vöglein.
„Oje“, sagt Papa.
Papa holt einen Schuhkarton und sie bringen das Vöglein ins Warme. Sie decken es mit einer Serviette zu und warten, aber das Vöglein rührt sich nicht. Als Karl weint, macht das Vöglein: „Piep.“
Papa holt eine Pinzette und gibt ihm Brotkrümel. Das Vöglein frisst. Bald riecht Karl Verbranntes.
„Die Kekse!“, ruft Karl.
„Später. Lass es erst fressen“, sagt Papa. Die Falte auf seiner Stirn ist verschwunden.
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Christoph Laible
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22 | Sarafina-Abena Yamoah
Schnee im Kopf
Wir sind die bauchige Schneekugel, die kaputt geht, Glassplitter wie Eiskristalle, aber schneien tut es ja nur da, wo die Wärme fehlt, wo Minusgrade an der Tagesordnung sind und bei uns schneit es in unsere Köpfe hinein, egal ob Winter oder Sommer, im Winter fällt es nur auf, weil da die Welt hinter dem Glas genauso aussieht wie hier drin
Manchmal erschreckt man sich, wenn man jemanden sieht, der einem zu sehr ähnelt und wer in der Glaskugel sitzt, sollte auch besser nicht mit Schneekugeln werfen Eiskristalle zeigen nämlich in alle Richtungen und können sich auch in angefrorene Herzen bohren, sie nutzen dafür die gleichen Widerhaken, die dafür sorgen, dass geliebte Menschen in unseren Gedanken so lange überwintern dürfen, wie es ihnen gefällt
So viel Winterschlaf kann doch kein Mensch halten, aber du bist schon so lange zwischen meine Schädelplatten gepresst wie die gelbroten Rosenblätter, die ich zum Abschluss bekam, die irgendwann anfingen das Buch mit Schimmel zu befallen, aber du bist so trocken, als hätte ich dich falsch herum an meine Wand im Kinderzimmer aufgehängt, darauf gewartet, dass du sorgsam vor meinen Augen stirbst
Aber hier lebt es sich wie unter einer Schneekugel und wem sag ich das, du selbst hast hartnäckig an ihrer Zerstörung gearbeitet, aber wie wir zueinanderstehen, blieb stets ein Kippbild, als würde jemand durch ein Kaleidoskop blicken: wir sind beide doppelt gebrochen und können einander deswegen nur spiegeln
Und die Eiskristalle tun ihr Übriges: Wenn es sich ausgeschneit hat, ist noch niemand bereit für den Frühling, jedes Jahr dieselbe Prozedur, dieselbe Tortur dieses Einsehen, dass der Kopf nicht mit den Blumen von draußen auftaut, dass es dort kalt und windig bleibt, wo Eiskristalle und braunmatschiger Schnee den Ton angeben; auch eine Schneekugel, deren Glaskuppel zerbrochen ist, bleibt eine Schneekugel.
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Sarafina-Abena Yamoah
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21 | Katharina Forstner
Beweisführung
Es ist bewiesen: Frankreich existiert
mit seinen Banlieues der großen Stadt,
wo grenadineverklebte Zungen weiche Worte schlingen,
das Trottoir bestreikt von Autos und Cafés.
Es existiert - ich habe es gesehen –
wie meine Zehen unter schwarzen Socken
das Strafgesetzbuch
und die Einsamkeit.
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Katharina Forstner
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20 | Susanne Sophie Schmalwieser
kurven (Studie zum Ende einer Geschichte)
blätterspiegel
gold und braun dahingeschwunden
monatliche lippensteife stoff und haare
zuckerverklebt ein martinshorn
blau der mund macht mich strg+d. löschen
ist übung wie alles andere, der karlsplatz
zerrüttet vom geräusch eines stehenden helikopters in der luft
die strassen ausgestalten mit nur einem
hauch, das licht ist mir egal geworden
den teil eines geruches vernehmen und ihm bekanntschaft heucheln
und dann wieder weihnachten
wieder dejavus und das vergehen feiern
wieder einmal bin ich eine zu wenig
(eine zu viel)
du bist mir wie ausgedacht gewesen
einen winter und ein paar stunden lang
(immer ist es der herbst der mich menschlich spült)
einmal im jahr will ich tauber sein oder das wozu ich mich verstümmelt fühle
als hätte man den kopf falsch herum an die wirbelnerven angewebt
wenn mein bruder mich fotografiert finde ich mich hässlich und ihn einen verräter dass er mich zwingt zu sehen wie er mich kennt.
(das gesicht so verzogen als hinge ich schief)
ich zapple wie du; das tappen des fusses
sieh wie wir im selben
schatten wohnen oder einmal
wieder einmal kurz von gewohnheit geklebt
mich nicht lösen können. dich nicht
behalten ist übung wie alles andere
die halbe familie schreibt meinen namen anders
(im handy der tante ein Z erspähen wo ich es nie geschrieben habe)
wieder fast winter doch wärme gemessen (zu lange zu wahr)
wieder fast winter und ich bedenke die grossmütter ein glas sturm ein abend ein essen und so wohlsam verwirrt bin ich von dir gewesen, ein fiebriges kalt über meine finger
zwerchfellknoten; ich frage mich nicht mehr wer an mich denkt
was hat man mir abgeschnitten mit der nabelschnur
ausser einer mutter die mein räuspern nicht erkennt
oder die hinkende silhouette am ende einer strasse
ich störe mich erst seit ich an meiner hässlichkeit gezweifelt habe
das goldene kleid sitzend, sässe ich nicht in ihm
(einmal sind alle meine kleider rot gewesen und der körper darin seltener entrückt)
neujahr in new york
die schwester schwitzend im
krankenhausbett für fünfhundert dollar die heilung
mir ist als wäre ich als einzige von einer alten zeit als rest geblieben
kinderklagen
die einen mit offenen händen die anderen mit offenem hals
wohlsam warmsein nur in splitterstücken
einer wirklichkeit.
keine eisblumen jenseits der
jugend durchrumpelt vom klirren einer menschheitsgeschichte
(deine eigene familie sind ja auch einmal menschen gewesen)
ein auto am anfang der kurve
sein ende im schilf
(wer hat gerufen und wen gebremst)
ein cafe namens soul, dein gesicht so verzogen
und deine seele im wetterwind kurz vor oslo verglüht
du fehlst dir selbst am meisten
in marokko lassen sie uns keine feuerwerke sehen
gefährlichkeiten gemessen in soldatengruppen marschierend
durch die hotelallee fakultative prohibition
programmepos
ein strassenspiegel biegt uns wanderende in kurven
der weg zur kirche einmal sorgloser zwischengesang
später bewegungsweise gezittert
verzittert die zweisame zeit vor dem ende der kurve das flutlicht das quietschen das brechen und bersten als letzte gemeinsamkeit
kerzen und die meisten kreise um die sie sich drängen sind runder
wenn du bis zehn zählst ist dann alles nur ein traum gewesen
oder jedes jahr ein neuer diese paar tage in frieden
und wer meint den denn schon zu verdienen, zwischen den zu seltenen beweinungen der vertrockneten grabkränze, letzte gedanken erbrechen im röhricht
einen abschied aus worten haben wir nie gebaut;
nur jedes jahr zum festtag ein paket in gold-rote bänder gewickelt und gestanden dass wir uns genug sind.
(wie reproduzierbar das glück doch ist,
heute versuche ich wie ein kind es abzupausen
mein bleistift bricht
und eine stille über mich herein.)
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Susanne Sophie Schmalwieser
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19 | Marlene Schulz
Kompa, Frau Mirjami und Herr Ernst
Ich bin Kompa und eine Katze. Mein Herr, er hört auf den Namen Ernst, nennt mich so. Seine Frau, Mirjami, hat den Namen für mich ausgesucht, als sie noch in unserem Haus wohnte. Sie fand mich auf dem Kompost als meine Augen noch geschlossen waren – daher mein Name – und fütterte mich.
Ja, Sie haben recht, ich habe eine schwierige Kindheit hinter mir, aber ich habe es geschafft, wie Sie sehen.
Herr Ernst redet sehr viel – er unterrichtet in der Schule – und Frau Mirjami hatte eines Tages genug davon. Jetzt redet Herr Ernst mit sich und seinen wechselnden Besuchen. Manchmal setzt er sich neben meinen Schlafplatz, wenn ich ruhe, und beginnt zu sprechen. Das ist mir äußerst unrecht und mir bleibt nichts anderes übrig, als aufzustehen und meine Ruhestätte zu wechseln.
Herr Ernst redet wirklich sehr viel an einem Tag und auch noch, wenn es dunkel wird. Er gibt sich bei einem Thema, das er begonnen hat, selbst Stichworte für das nächste, das er direkt anschließt. Seine Besuchsmenschen, ich habe das mehrfach beobachtet, sind auf der Lauer und warten auf eine Pausierung in Herrn Ernsts Gespreche, um auch etwas sagen zu können, aber den wenigsten gelingt das. Sie müssten unhöflich sein und ihre Worte über seine legen, aber die meisten wollen das nicht. Herr Ernst hat zu allem etwas zu sagen.
Er ist vielseitig begabt. Er wäre gerne ein ruhmreicher Maler. Handwerklich begabt ist er durchaus, auch an seinem Fahrrad kann er Kleinigkeiten selbst reparieren und bei der letzten Wahl hat er sich für eine Partei aufstellen lassen, die wie eine Farbe heißt, und wurde zu meiner großen Überraschung gewählt. Ich hätte ihn, das sage ich nur Ihnen, nicht gewählt. Herr Ernst hat zu zu vielen Dingen eine Meinung. Dennoch: Ich bin überzeugt, dass sein Wissen zwar breit ist wie ein Ozean, dafür aber nur tief wie eine Pfütze.
Ich habe beobachtet, wie er das mit dem Sprechen regelmäßig mit seinen Besuchsmenschen macht. An einer Stelle ihres Redebeitrages gibt er ihnen recht, nickt sogar auffällig stark, und setzt dann seine Referate an.
Was Herr Ernst nicht macht, ist kochen. Das hat er an ungefähr 260 Tagen im Jahr Frau Mirjami überlassen und weitere 105 Tage waren sie zum Essen ins Restaurant oder zu anderen Menschen in deren Wohnung oder Haus gegangen. Für einen konservativen Menschen stellt das keine Ungewöhnlichkeit dar, aber Herr Ernst möchte gerne ein fortschrittlich denkender, emanzipierter Mann sein. Sie könnten Frau Mirjami befragen, was diese dazu sagt, oder es sich selbst zusammenreimen. Für so klug halte ich Sie.
Herr Ernst hat durchaus liebens- und lobenswerte Seiten. Er reinigt den Ort meiner Hinterlassenschaften regelmäßig, gut, gelegentlich dürfte es gründlicher und häufiger sein, aber ich möchte nicht kleinlich sein. Für meine Mahlzeiten sorgt er ebenfalls, bürstet mein Fell, was eine Wohltat ist, vor allem, wenn ich haare, und er nimmt mich sogar mit auf Reisen. Er besitzt ein Haus in den Bergen. Wir fahren drei bis vier Mal im Jahr dort hin. Eine mehrstündige Fahrt ist von Nöten, die er abends zuvor mit Nahrungsentzug für mich ankündigt. Er möchte, dass ich die Fahrt möglichst gut ertrage und keine Übelkeit aufkommt. Mir wäre es lieber, er würde nicht so viel herumüberliegen, stattdessen etwas zügiger fahren und Zeiten hohen Verkehrsaufkommens meiden. Das nimmt er sich zwar jedes Mal vor, sagt so etwas wie: Morgen fahren wir noch vor Anbruch des Tages los, aber dann muss er noch dringend Dinge erledigen, die schon seit Wochen, gar Monaten liegen und es wird – so bin ich es von ihm gewohnt – doch Mittag, bis wir loskommen.
In den Ferien liest mir Herr Ernst häufig aus den Büchern vor, die er liebt. Sachbücher über Bienenzucht oder Hühnerhaltung – die soll ja jetzt wieder zunehmen – auch Ausstellungskataloge, Bildbände, Kunstkritiken zu berühmter Malprominenz, Reisebücher sind auch dabei. Und dann sagt er so etwas wie: Ach, Kompa, schau dir diese Landschaften an und stell dir vor, wie ich sie male. Er verspricht dann, mir auch ein Plätzchen darin einzuräumen. Bis jetzt hat Herr Ernst sein Versprechen noch nicht halten können.
Das Fahrradfahren liebt er ebenso und ich bin sehr beglückt, dass er mich auf diesen Fahrten nicht mitnimmt. Frau Mirjami hat einmal mit ihm zusammen die Alpen auf dem Zweirad überquert. Kurz danach zog sie aus und weg. Ihr neuer Wohnort entzieht sich meiner Kenntnis. Glauben Sie mir: Zu meinem großen Bedauern.
Herr Ernst spricht noch mehr, wenn er am Abend beginnt zu trinken. Ich habe beobachtet, dass er bei einer bestimmten Menge mehr redet. Wenn diese Menge noch größer wird und er beispielsweise für einen Entleerungsgang den Raum verlässt, kommt er deutlich ins Schwanken. Nimmt er dann noch mehr alkoholisches Getränk zu sich, wird er stumm, seine Haltung am Tisch wirkt labil, sein Kopf fällt zur Brust und er beginnt zu weinen. Er weint einige Zeit für und vor sich hin bis sein Kopf auf den Tisch fällt, er die Arme darunter überkreuzt und beginnt mit offenem Mund zu schlafen. In solchen Momenten schwanke ich, ob ich wirklich bei Herrn Ernst bleiben mag. Sein Selbstmitleid kann abstoßend sein.
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Marlene Schulz
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18 | Carolina Reichl
Die Wunschlosen
Du sagst, es ist spät. Ich schaue auf die Uhr, die du mir vor Jahren geschenkt hast, auf der Innenseite hast du mir was eingravieren lassen. Numquam retro. Niemals zurück.
Es ist nachts, zwei Uhr einundzwanzig. Meine Augen sind ausgetrocknet, zu lange habe ich auf den Bildschirm geschaut. Fünf Stunden, 39 Minuten, um genau zu sein.
Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, darauf zu achten, wie viel Zeit ich für was brauche. Sechs Stunden Schlaf, 43 Minuten im Bad (morgens und abends zusammen), zehn Stunden in der Arbeit. Die restliche Zeit kümmere ich mich um deinen Kater Morli, in der Hoffnung, dass er sich irgendwann von mir berühren lässt, und gehe zu deinem Grab. Mindestens zweimal die Woche pflege ich es. Die Leute sollen schon von der Ferne sehen, dass dein Grab am schönsten ist, damit sie merken, dass du wichtig bist.
Ansonsten habe ich keine Hobbys, ich mache den Haushalt und bereite meine Patientengespräche vor.
Ich bin effizient.
Wenn ich mich entspanne, fühle ich mich faul.
Nur wenn ich nach Hotels schaue, kann es passieren, dass ich mich für Stunden verliere. Ich plane eine Weltreise, darunter ein zweiwöchiger Aufenthalt in Peru. Ich recherchiere nach den besten Unterkünften, Ausflügen, Lokaltipps und Reiserouten, bis ich so erschöpft bin, dass ich nicht mehr kann. Ich schließe den Laptop, ich bin voller Adrenalin. Ich stelle mir vor, wie das wohl sein wird. Peru, Island, Litauen, Japan, Indonesien, Australien, Hawaii, L.A., New York. Wissend, dass keiner von diesen Urlauben jemals für mich stattfinden wird.
Aber warum, du würdest doch gerne verreisen, sagst du. Es hätte nichts geändert, wenn du bei mir geblieben wärst.
Mein Handy vibriert.
Unsere ältere Schwester Katrin schreibt, ob ich nächsten Samstag zu ihr komme.
Wegen Weihnachten.
Ich seufze.
Schön wieder ein Jahr vergangen.
Katrin hält den Gedanken nicht aus, dass ich den 24. Dezember alleine verbringe oder so wie vor zwei Jahren den ganzen Tag an deinem Grab stehe. Zu groß das schlechte Gewissen. Beim Weihnachtsfest selbst will sie mich aber nicht dabei haben, nicht dass ich die Stimmung runterziehe, ich soll am Vormittag kommen.
„Till ist mit den Kindern einen Baum aussuchen“, sagt sie. Sie öffnet einen Prosecco. Wie eine Sanduhr bei einem Saunadurchgang markiert die Flasche unser gemeinsames Zeitfenster, das anzeigt, wie lange ich noch durchhalten muss, bis ich wieder verschwinden kann.
Ich schenke ihr eine Orchidee, Pralinen und ein Buch, das sie vermutlich niemals lesen wird. Sie sagt, das wäre nicht nötig gewesen. Es ist nicht leicht, jemanden zu beschenken, der schon alles hat.
„Für dich“, sagt sie und hält mir einen Reisegutschein entgegen. Letztes Jahr Wizz Air, dieses Jahr Tui. Ich bedanke mich, doch ich greife ihn nicht an.
„Freust du dich nicht?“, fragt sie.
„Doch. Ich kann ihn nur nicht annehmen.“
„Warum nicht?“
„Du weißt doch, dass ich Morli nicht alleine lassen kann.“
„Er kann bei mir bleiben.“
„Die Kinder würden ihn stressen. Außerdem muss ich auf meine Patienten schauen. Mir wäre nicht wohl dabei, ein Wochenende nicht erreichbar zu sein.“
„Du arbeitest zu viel.“
Sie hat recht, meinst du. Ich schüttle den Kopf.
„Wann warst du das letzte Mal auf Urlaub?“
Ich zucke mit den Schultern, als wüsste ich es nicht. Es sind drei Jahre, elf Monate und zwei Tage, seitdem du tot bist.
„Hast du kein Fernweh?“
„Ich glaub, ich brauch das Reisen nicht mehr“, sage ich.
„Blödsinn!“, ruft Katrin. „Mit ihr wolltest du noch eine Weltreise machen! Du warst immer so gern unterwegs und jetzt dreht sich alles nur noch um deine Psychopraxis!“
Katrin hält nichts von Psychotherapie. Sie glaubt, dass das Geldabzocke ist, dass die Leute nur an ihren Profit denken, wenn sie sich am Leid der anderen bereichern. Sie findet, mit seinen Problemen muss jeder selbst fertig werden; es bringt nichts, seine Sorgen immer wieder durchzukauen. Man muss weitermachen, sich auf das Gute konzentrieren, dann wird das schon.
„Und sonst?“, fragt Katrin. „Hast du irgendwas vor? Irgendwelche Pläne für die Feiertage?“
Ich schüttle den Kopf.
„Ich bin wunschlos.“
„Aber glücklich bist du nicht.“
Katrin trinkt den Prosecco aus und spricht mit ernster Stimme weiter: „Ich mach mir Sorgen um dich.“
Sie will wissen, was mich hier hält.
Ob es wegen dir ist?
Warum ich nicht loslassen kann?
Ihre Lippen bewegen sich weiter, aber ich höre nichts. Ich sehe deinen ausgetrockneten Mund, Katrin, wie sie dir den Speichel weg tupft. Ich sehe mich dir winken, euch sagen, ich hätte einen Notfall, einer Patientin geht es nicht gut. Ich verlasse das Krankenhaus, steige in ein Taxi und fahre zum Flughafen, ohne Gepäck buche ich dort den nächstbesten Flug, es geht nach Athen. Ich steige in den Flieger, ich komme an, ich lasse mich in einen Klub bringen, ich trinke, bis ich nicht mehr gerade stehen kann. Ich unterhalte mich, ich lache, ich tanze, ich mache alles, was du nicht mehr machen kannst. Ich habe Spaß, ich denke nicht an dich.
„Geht’s dir gut?“, fragt Katrin.
Mein Gesicht ist nass und salzig. Meine Haut glüht. Ich dachte, ich würde um dich trauern und dann würde es mir besser gehen, doch stattdessen bekomme ich jedes Jahr einen neuen Reisegutschein, den ich verfallen lasse und anstatt dem Rauschen der Wellen höre ich immer wieder die dröhnende Partymusik des Klubs und Katrin, die mich am nächsten Morgen anruft und sagt, du wärst friedlich eingeschlafen.
„Was ist?“
Ich kann nicht antworten, nicht denken, ich habe das Gefühl zu zerfallen, ich falle –
„Du warst sicher zehn Minuten weg.“
Katrin sagt, dass ich zu viel alleine bin und mehr auf mich schauen muss. Sie hätte mich mehrmals gerüttelt und meinen Namen geschrien, ich wäre am Boden gelegen und nicht ansprechbar gewesen.
Ich soll mir die Feiertage nehmen und mich entspannen, meinst du.
Ihr übertreibt.
Nach den Feiertagen gehe ich wie gewohnt zur Arbeit.
Numquam retro.
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Carolina Reichl
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17 | Silke Gruber
Landvermessung
Dein Blick
spuckt grobe
Gebirgskettensilhouetten
aufs offene Gelände
Meiner schlägt
statt Grenzpflöcke
seine erbärmlichen Haken
ins längst vermessene Feld
Vor Freunden
sprechen wir synchron
von: Lot, Kataster,
Waffenruhe
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Silke Gruber
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16 | Anne Büttner
Ein Recht schaffender Mensch
„In der Tat würde ich es begrüßen, würde man Sie überfahren." Sowas! Kein verkehrstaugliches Rad, geschweige denn reflektierende Kleidung, aber bei Rot über die Ampel brettern! Als würden Lichtsignalanlagen nur zum Spaß aufgestellt. Leider ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Raser wie gewünscht überfahren würde, um diese Uhrzeit nicht gerade hoch. Tatsächlich ist sie wohl ähnlich gering, wie das Risiko, aus dieser Entfernung von ihm erfasst zu werden. Trotzdem will er sich darauf nicht verlassen. Denn wenn es dann mal kracht, erwischt es ja doch meist die Falschen. In diesem Fall also ihn: Herbert Marotzke.
Eigentlich ist Herbert Marotzke kein Schwarzmaler. Aber in Anbetracht seiner ordnerfüllenden Aufzeichnungen über Fehlverhalten seiner Mitmenschen, scheint ein rücksichtsvolles Miteinander ja kaum mehr möglich. Würde ihn nicht wundern, würde das komplette Wertesystem in 20, 30 Jahren wegen Nichtgebrauchs gestrichen. Sollten sie doch alle machen, dann. Dann wäre er sowieso nicht mehr und es ihm auch egal. Aber bis es soweit ist, denkt er nicht daran, Einschränkungen seiner Lebensqualität hinzunehmen. Weder durch Mensch, noch durch dessen Getier. Wie etwa dem Vierbeiner im Nachbarhaus: Statt der zu duldenden 15 Minuten täglich, kläfft das Tier in Summe ordnungswidrig oft doppelt so lang, wie das detaillierte Protokoll belegt, das Marotzke hierzu seit Wochen führt. Sicher kann auch er sich Schöneres vorstellen, wie er seinen wohlverdienten Ruhestand verbringen könnte. Aber früher oder später würden sich seine Mühen auszahlen. Was Recht ist, muss schließlich Recht bleiben. Man stelle sich nur mal vor, was das gäbe, wenn alle machten, wie sie wollten. Nichts Gutes gäbe das, soviel steht mal fest. Ob nun wirklich jedes Regulativ sinnvoll ist, ließe sich sicher diskutieren. Aber solang es sie gibt, hat man sich eben daran zu halten. Punkt!
Er weiß, dass so viel Konsequenz nicht immer auf Gegenliebe stößt. Häufig noch nicht mal auf Verständnis. Wer wird schon auch gern auf eigenes Fehlverhalten hingewiesen? Etwa darauf, dass sich die behördliche Genehmigung für eine Sitzreihe vor dem Café eben auch nur auf eine Sitzreihe vor dem Café erstreckt und nicht auf einskomma. Oder darauf, dass Parken bei abgelaufener Parkuhr vielleicht nicht ihn, den arglosen Fußgänger Herbert Marotzke interessiert, sicher aber das von ihm darüber informierte Ordnungsamt. Oder das innerstädtische Alkoholverbot: Wer mag schon daran erinnert werden, dass auch ein „Prüfung-bestanden-oder-Antrag-angenommen-oder-abgelehnt-Sekt“ nichts anderes als Alkohol ist und damit ebenso unter dieses Verbot fällt. Oder wer wird schon gern belehrt, dass das Bedienen an über fremder Leute Zaun hängendem Obst ebenso wenig erlaubt ist, wie das Pflücken steuerfinanzierter Anpflanzungen im öffentlichen Raum. Wenn das alle machten. Dann sähe das hier aber ganz schnell ganz anders aus. Und ganz sicher nicht schöner. Mit dieser geht-mich-nichts-an-Mentalität ist doch niemandem geholfen.
Herbert Marotzke jedenfalls ist nicht bereit, solche Missstände hinzunehmen. Auch nicht die weniger offensichtlichen, wie Laubvorkommen auf dem Gehweg, wo, anders als oftmals angenommen, die Räum- und Verkehrssicherungspflicht eben nicht erst bei Schnee und Eis greift. Warum ausgerechnet er angegangen wird, wenn er entsprechendes Tätigwerden empfiehlt, noch häufiger ausdrücklich erbittet, ist Marotzke unbegreiflich. Wehe, es stürzt wirklich mal wer. Die will er sehen, die dann noch immer meinen, er übertreibe oder solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.
Dabei sind diese Angelegenheiten ebenso seine, wie sie die der anderen sind. Schließlich ist auch er Fußgänger, ist Nutzer öffentlicher Räume und Verkehrsmittel, ist Steuerzahler, ist Verbraucher, ist Bürger, Einwohner, Anwohner, ist statistisch geführter Pro-Kopf-Haushalt, ist Kunde, Patient, Entleiher, Mieter, Nachbar, Gefährdeter, Betroffener, Parzellenbesitzer, ist Mitmensch und vor allem nicht bereit, vermeidbare Abstriche an seiner Lebensqualität zu dulden. Oder an der Lebensdauer, wie es wegen des Radrowdys von eben zu befürchten stand.
Diesmal würde sich das Amt nicht aus der Verantwortung stehlen können. Mit Beschwerden oder Anregungen allein brauchte man denen ja nicht kommen. Wollen die gar nicht hören. Können die nichts mit anfangen. Das kennt Marotzke schon: Zu abstrakt wären seine Schilderungen. Da seien ihnen die Hände gebunden oder der Ermessenspielraum zu weit oder zu knapp oder der Feierabend zu nah oder oder oder. Selbst Untätigkeitsklagen beeindrucken da niemanden. Zumindest hatte keine der bisher von ihm angestrengten etwas bewirkt. Dieses Mal aber führte an einem Tätigwerden kein Weg vorbei. Schließlich handelte es sich dieses Mal um eine ganz konkrete Gefahr für Leib und Leben.
Sobald er ein Lineal zur Hand hat, wird Herbert Marotzke seinen Aufzeichnungen eine Spalte „Fortbewegungsmittel ohne Motor“ hinzufügen und dann multiplizieren, was zu multiplizieren war. Da kam einiges zusammen. Allein im letzten Monat war an selber Stelle im Zeitraum zwischen 23.30 und 3 Uhr, bei gleichbleibender Anzahl an Fußgängern (1 Herbert Marotzke), ein eklatanter Anstieg motorisierter Fahrzeuge zu verzeichnen. Sein Risiko, wochentags bei einem nächtlichen Rundgang erfasst zu werden, lag hier inzwischen um ein 0,8faches höher, als zu Beginn seiner Erhebungen. Und jetzt dieser radelnde Rowdy. Herbert Marotzke würde den neu berechneten Gefährdungsfaktor farbig markieren - in Hypertonierot.
In vier Stunden öffnet die Straßenverkehrsbehörde. Keine Minute später stünde er bei Frau Kutschera auf der Matte, um ihr seine aktualisierten Aufzeichnungen vorzulegen. Vier Ordner umfasst die Causa Schlönzdorfstraße 7a mittlerweile:
Ordner I mit Inhaltsverzeichnis, Sachverhaltsdarstellung, Flurkarte, Skizzen, Fotos. Ordner II und III mit sämtlichen hierzu von ihm angefertigten Protokolle, Tabellen, Diagramme, Auswertungen sowie Prognosen und Ordner IV mit einem Konzept zur Verkehrsberuhigung sowie dem Sachwortregister, das er noch um notwendige Einträge (unmotorisierte Gefährder, leiser Tod, Dunkelziffer) ergänzen würde.
In Anbetracht der Lage bliebe Frau Kutschera gar keine andere Möglichkeit, als unverzüglich tätig zu werden und das Verfahren für die Umgehungsstraße einzuleiten, die, neben dem Missachten von Parkmindestabständen im Kreuzungsbereich, der Mängelleistung der Straßenbeleuchtung in der Friedhofsgasse und dem Stutzen des Straßenbegleitgrüns auf ein ansprechendes Maß, eines seiner meistvorgetragenen Anliegen war. Jedenfalls in diesem Quartal.
„Herr Marotzke, so früh schon. Guten Morgen.“ Dass man an der Pforte seinen Namen gleich parat hat, überrascht ihn. Schließlich war er zwei Wochen nicht mehr hier gewesen und sein letzter Anruf auch schon ein paar Tage her. „Sie wollen sicher zu Frau Kutschera. Da muss ich Sie enttäuschen. Sie ist heute nicht im Haus.“ „Dann melden Sie mich bitte bei Herrn Bedrich. Der ist doch noch Frau Kutscheras Vertretung?" „Das tut mir leid, Herr Marotzke, Herr Bedrich ist ebenfalls nicht ..." „Ja dann melden Sie mich eben bei der Person, die in einem solchen Fall die Vertretung übernimmt. Frau Gwisdek? Herr Kuperny?" Kopfschütteln. „Hören Sie, Herr Marotzke. Ich würde Sie bitten, einfach nächste Wo ..." „Nein, Herr Marotzke hört jetzt nicht. Herr Marotzke wird auch nicht einfach nächste Woche wiederkommen. Ich sag Ihnen, was Herr Marotzke wird: Herr Marotzke wird jetzt hier Platz nehmen und solang sitzen bleiben, bis er mit einer zuständigen Person gesprochen hat." „Aber, Herr Marotzke, das bringt doch nichts." „Das sehen wir ja dann." Heute würde er sich nicht wieder vertrösten lassen. Die Aktenlage duldete keinen weiteren Aufschub. "Entschuldigung? Herr Marotzke?" Herbert Marotzke kennt den Mann nicht, der vor ihm steht. „Und Sie sind?" „Die Pforte hat mich informiert. Herr Marotzke, ich möchte Sie bitten, am Montag wiederzukommen. Sie werden heute hier kein Glück haben." „Hören Sie, Herr ...", Herbert Marotzke wirft einen Blick auf das Namensschild und die Funktion des ihm Unbekannten. "Hören Sie, Herr Schulz. Zum einen hatte ich hier bisher noch nie Glück, sonst würde ich mir wohl kaum noch Weg und Mühe machen müssen. Zum anderen hatte ich ausdrücklich um ein Gespräch mit einer zuständigen Person und nicht mit dem Wachdienst gebeten." „Wie gesagt, Herr Marotzke. Wegen eines Seminars zum Umgang mit schwieriger Kundschaft ist heute hier nur Notbesetzung."
Ein Seminar zum Umgang mit schwieriger Kundschaft? Ja, wunderbar! Endlich würde sich all den uneinsichtigen Verbotsmissachtenden und Genehmigungsausnutzenden mal angenommen. Offensichtlich hatte sein Engagement, hatten seine Eingaben, seine Beschwerden und Rundschreiben, sein Sich-nicht-abwimmeln-lassen, seine lückenlose Dokumentation, seine Untätigkeitsklagen, und ja, auch sein Lautwerden hin und wieder, doch etwas bewirkt oder zumindest angestoßen.
"Gut, dann komme ich Montag wieder. Punkt acht Uhr bin ich da." „Natürlich sind Sie das." Herbert Marotzke nickt. Natürlich ist er das. Vorausgesetzt, dass er in Anbetracht der akuten Gefährdungslage dann noch ist.
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Anne Büttner
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15 | Jens Röhling
Schnee
Ich habe Pfeifen aus Weidenästen geschnitten
habe Brücken und Dämme gebaut
bin über Gräben gesprungen
habe auf Blumenwiesen getanzt
ohne Angst vor Zecken
Ich habe Spielkarten gegen Fahrradspeichen schlagen lassen
und bin damit durch die Siedlung gefahren
Bin über Baustellen geschlichen
und habe einen Hammer geklaut
der unachtsam im Kellergeschoss vergessen gewesen
Bin von Bäumen gefallen
und in Brennnesseln
mit Loch im Kopf beim Arzt gesessen
und doch wieder heraufgeklettert
Und all das habe ich vergessen
Ich habe Bier getrunken
das achtlos am Kiosk verkauft
und Grashalme geraucht
Salpeter mit Zucker vermischt und
im Erdhügel brennen lassen, dass es schien wie ein Vulkan
Ich bin heimlich auf dem Güterzug mitgefahren
und habe mich von meinen Eltern wieder abholen lassen
zweihundert Kilometer entfernt
Ich habe einen Bergbach gestaut, der drei Tage
danach bei Unwetter über die Ufer getreten ist
und die Straße weggespült hat, auf der ich
5 Minuten zuvor noch gefahren bin
und mich lange gefragt, ob es meine Schuld war.
Und all das habe ich vergessen
Ich bin in der Dunkelheit durch glitzernde Wellen geschwommen
nackt, mit den anderen, die ich seit zwei Stunden kannte
habe mit dem Mädchen geschlafen am Strand
das mich in die Arme geschlossen und geküsst hat
bis wir untergingen
und weiter
durch den Sand gewälzt, dass wir wie panierte Backfische
glücklich nebeneinander lagen
um uns ein letztes Mal in die Augen zu schauen
und uns nie wieder zu sehen
Ich bin stehen gelassen worden wegen einer Runde Schnaps
und saß lange enttäuscht in Dünen
bis zum Morgengrauen einsam sehnend
nach diesen grünen Augen.
Und all das habe ich vergessen
Nach und nach hat sich meine Sprache verloren
Worte abgetrennt wie Gliedmaßen
zunächst nur die Nägel
in mechanischer Geste, gar nicht wahrnehmend
dann Fingerkuppen, Unterarme
jetzt schmerzhaft aber unausweichlich
Bis zuletzt nur ein Torso aus Pragmatik
ganz zu Staub zerfiel
die Asche verwehend
um die Frage nach mir
im Raum stehen zu lassen
Ich greife in den dreckigen Schnee
knete daraus einen Ball
und werfe ihn gegen das Schild am Straßenrand
Ich treffe nicht
und weiß doch noch, wie es war.
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Jens Röhling
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Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen: