4 | Yvonne Koval

winterschlaf

heute geht's mir nicht so gut
die nabelschnur zieht an mir
zieht mich runter, macht mich
rund & unerträglich, ewig
bis der winter vorrüber

also sag wenn du alleine
wenn du unter menschen
punsch & geschenke
& spaß haben willst

dann können wir mich einpacken
mir ein kleines nest bauen
wo ich winterschlaf halte
während deiner freude
& drei jahreszeiten lang

so warte ich, & kann die zeit
an zwei händen abzählen
bis du zurückkehrst
& mich auspackst
als ob ich zerbrechlich
& all das da drinnen

nach einem winterschlaf
das sagt die forschung
geht es tieren gar nicht gut
ihre hirnaktivität
sei dann gleichsam der
nach tagelangem schlafentzug
(ich hoffe, es geht schnell zum schluss)

nur dazwischen ganz unscheinbar ein widerspruch
mein winterschlaf : ein schlafentzug
(ich dachte, eines folgt dem anderen)
hauptsache ist wohl, dir geht's gut

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Yvonne Koval

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3 | Sarah von Lüttichau

Ein Tag im Dezember

„Kennst du die Serie mit dem Drachen, wo …“

„Ich mag diese Drachengeschichten nicht, Drachen sind doch immer nur Stellvertreterprobleme, da macht man sich was vor, ganz klar.“

Das Wetter ist schon wieder auserzählt und ein anderes Thema will mir nicht einfallen, ich schweige, mache mich klein, ziehe die Schultern hoch, die Arme dicht an meinen Körper und beiße in den Apfel, den ich schon seit einer Weile in der Hand halte. Es dämmert bereits. Wir sitzen immer noch auf der Schaufensterbank, unsere Rücken jetzt kalt im Neonlicht. Und er tut mir leid. Ich werde gleich aufstehen und nicht wieder kommen. Manchmal ist es zu schwer, eine Idee in die Wirklichkeit zu holen.

Auf der gegenüberliegenden Straße hat sich eine Plane vom Baugerüst gelöst und flattert im Wind, schlägt gegen das Eisengerüst. Er umschließt seinen Pappbecher mit beiden Händen, atmet schwer und ich frage mich, ob er das auch merkt, dass es da nichts gibt zwischen uns. Ich kann seine Gesichtszüge nicht lesen, nicht mehr. Die Falten, die grauen Haare, es ist immer noch merkwürdig, ihn so zu sehen.

Die Linden haben längt keine Blätter mehr, mit ihrer dunklen Rinde zeichnen sich ihre Umrisse klar von den umstehenden Altbauten ab. Eine Elster schreckt auf, ruft schnalzend laut und wir drehen synchron die Köpfe.

Dann wird es Zeit. Ich beuge mich nach vorne und werfe den Rest vom Apfel in den Mülleimer neben uns und wische meine klebrigen Finger an meiner Jeans ab.

„Ok“, sage ich und er nickt.

„Du hast ja meine Mail Adresse“ und ich frage mich, warum ich das sage, nur um irgendwas zu sagen. Er nickt und schaut noch mal kurz hoch, nickt zum Abschied, wie ein Fremder.

Ich gehe die Straße runter. Die Autos sind so dicht geparkt, dass ich kaum hindurch passe, um die Straßenseite zu wechseln. Ich verstehe, warum das so ist, dass es in der Stadt immer zu wenig Platz gibt und ärgere mich trotzdem. Um mir eine Packung Lakritz zu kaufen, gehe ich in den nächsten Kiosk. Die Verkäuferin ist freundlich, sie wünscht mir einen schönen Abend, lächelt und ich lächle auch. Die Sonne verschwindet zwischen den Häuserschluchten, die Luft wird kalt und klar. Ich setze mich auf die Bank an der Bushaltestelle und reiße die Verpackung auf. Das Lakritz klebt sofort zwischen meinen Zähnen und ich versuche mit der Zunge die Stückchen zu lösen. Mein Telefon vibriert in der Tasche.

EVA: Und wie war es?

          DU: Ach, wie immer :(

EVA: :(

          DU: Dann halt nicht, ist auch nicht schlimm

EVA: Bist du sicher

          DU: ja, schon

EVA: Väter halt …

          DU: Lass uns später telefonieren

          DU: ?

EVA: !

          DU: jetzt Bahnhof, melde mich später

Ein Plastikgeräusch lenkt mich ab. Neben mir eine junge Frau, die umständlich ihre vollen Einkaufstaschen von der einen in die andere Hand manövriert, um ihr Portemonnaie aus der Tasche zu holen. Der Bus kommt.

Wir steigen ein und die Busfahrerin hat tatsächlich so eine rote Mütze auf. Ich frage mich, ob sie dass muss, ob das vorgeschrieben ist. Ich zeige ihr meine Fahrkarte und setze mich auf einen Platz am Fenster. Es ist dunkel und die Weihnachtsdekorationen leuchten in den Schaufenstern des gegenüberliegenden Einkaufszentrums. Menschen in viel Kleidung und mit vielen Taschen schieben sich aneinander vorbei, wollen rein, wollen raus. Mein Atem kondensiert an der Glasscheibe, verzerrt die Lichter und ich wische mit dem Ärmel meiner Jacke darüber. Ich suche die Packung Lakritz und esse weiter. Als der Bus anfährt, lehne ich meinen Kopf an, schließe die Augen. Dann fällt mir auf, dass es das erste Mal seit Jahren ist, das mich das alles nicht traurig macht, dass da nichts ist und ich muss lächeln.

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Sarah von Lüttichau

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2 | Georg Großmann

Mühlviertler Nacht

ich befinde mich in den
gestapelten, fest
verzahnten
polyedern, bin
im haus, draußen;
der dreikant-hof, huf-
schläge, leere, die weite,
der wald, der den hof nachts
belauert

drinnen; das wasser, der
saugmund der
abwasch, das
spülkasten-rauschen

draußen; das gluckern der jauche
im hochbehälter, die sprache des blasenschlagenden
dunkels

draußen läuft mein drinnen
mein kochwasser
mein zahnpastaschaum
meine ausscheidung in
den gärenden teich
während sich jemand daneben
versteckt hält und atmet und
hört und weiß, dass ich
da bin, im haus und mich sieht
in den fenstern
und lächelt

und hechelt
und herschleicht
und blicke von draußen
nach drinnen wirft
aus dem weiten
dunkel heraus in die aus-
geleuchteten polyeder

auf mein bildschirm-
beflimmertes
gesicht

.

Georg Großmann

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1 | Avy Gdańsk

Wortgewand

Alle Wangen sind mit Aufregung bemalt. Ich stecke im Atemgefieder der Menschen fest, es ist zu warm, ich kann mich nicht bewegen. Der Bus ist ein Schiff, die Straße schwappt darunter hinweg. Wir schwanken, der Seegang wirft uns alle aus der Bahn. Quer durch die Sitzreihen segeln Gespräche, eine Gruppe verstreut auf getrennten Plätzen. Zersprengt in Einzelheiten. Ich weiche den zungrigen Mündern aus, ihrem groben Gelärm auf dem Gang, schlage den Kragen ums Kinn. Unsere Köpfe und Schultern im Spiegel, wir sind ein Renoir auf den Scheiben. Die anderen Busse kurze Raupen mit stämmigen Fühlern, die Straßenbahn eine singende Nacktschnecke. Immer wieder fahren sie an uns vorbei und wir passieren lichtgefüllte Fenster, Lebensraum. Das Murmeln der Menschen ein Bienenstock. Mein schwerer Kopf versinkt im Summen wie in einer Kissenhülle. So sprechen die Dämmermenschen: vorbei an den Herzkapillaren. Eine nadellose Sprache, untauglich zum Blutgewinn. Ich wetze meine Worte, will zur feinsten Ader.

Immer weiter geht die Fahrt, immer mehr Ummantelte stürzen heraus, nur ein Falter steigt zu. Unter den wartenden Laternen schwebt eine milde Abendkälte, bei jedem Öffnen der Türen huscht davon etwas herein, ein kühlender Streif über Augen und Wangen, ein Spätherbstschweif. Er fächelt mir Erinnerung um die Nasenflügel, bald ist es Zeit, Endhaltestelle. Ich stehe allein im Bus, Stiefel fest auf dem Boden, die Teerwellen reitend. Wir gleiten durch die Kurven, im Bauch der Schlange bin ich ein schlingernder Schatten in lichttriefenden Innereien, ein Dunkelförmiges unter zuckendem Glas.

Mit Wucht spuckt sie mich aus, ein Ruck brusteinwärts, mein Fuß setzt sich auf unbekanntes Land. In meinen Schritten weiß ich zu gebieten, laufe mal wie Herrin, mal wie Herrscher, die Straßen voll von nichts als meinem Trittlaut. Frei ist nur, wer kein Wohin erfragt.

Das Blattgold der Alleen schimmert auf der Straße, ich schleiche nun, werde zu Lautlosem, bin ein Wanderer zwischen den Fenstern, der sich in der Nacht versteckt, sich anpasst an die Vorwelt – die Gegend vor verschlossener Tür. Auch ein anderer streift durch die Vorwelt, ein Jäger, der Fallen aufgespannt hat in den Lücken zwischen den Mülltonnen, unter den Außentreppenstufen, in den Gittermustern der Gartentore: Netze aus Schwärze, in denen sich jeden Abend ein paar Blicke verfangen, ein paar Unglückliche in den Abgrund fallen mögen. Füllen sich die Netze mit dem Sehnen der Menschen, nährt er sich davon, liefert er das Eingesammelte irgendwo ab? Oder breitet sich die Schwärze in ihnen aus, füllt sie an wie melancholische Plätzchenformen? Was auch immer sein Zeil ist, nie mangelt es ihm an Beute, denn die Augen treibt es nach draußen. Keiner kann es lassen, den Blick auf Wanderschaft zu schicken, weit fort aus dem Gefängnis des Schädels. Die Sehnsucht hört nie auf, immer suchen die Menschen die Welt mit den Augen, und was sie sehen, gibt ihnen Bedeutung, zeigt eine Lesart der Welt. Wie außen, so innen. Aber wenn alles nur ein Spiegel ist – ich passiere eine Tür mit einem Schild in Fraktur, „Familie ist die Heimat des Herzens“ – dann Gnade den Dämmermenschen. Jemand, der sich so an vermeintlich bedeutungsschwere Worte klammert, weil er selbst der Tiefe entbehrt, dem ist auch das Meer nur ein blauer Streifen, ein Urlaubsmotiv, und selbst das muss er nachbearbeiten, damit es den Anschein von etwas erweckt – etwas, das ihm fehlt, das er sucht und das er niemals finden wird.

„Ja, ein unerträglicher Gedanke – die armen Menschen.“

Ich fahre herum und neben mir steht der Jäger, deutet auf das deprimierende Schild, entfaltet ein weiteres Netz. Das spannt er zwischen den Grashalmen des Vorgartens, ein verschachteltes, viellagiges Leporello, das unbemerkt den Garten ziert, der ausartend mit Schildern dekoriert ist.

„Menschen, die Sprüche wie Schutzschilde aufstellen, empfinden einen großen, wenngleich dumpfen Seinsmangel.“

Er pocht gegen ein Blechschild mit der Aufschrift „Mein Haus, meine Regeln“.

„Jeder klammert sich an Worten fest, an irgendwelchen Zitaten, die einen an etwas erinnern sollen oder in etwas bestätigen. Sinnstiftung eben.“

Wieder holt er ein Netz aus der Tasche und beginnt es zu ziehen und zu formen, dehnt das unendliche Nichts.

„Aber wer die Worte noch nie verstanden hat, für den bleiben sie tot, und das ist wirklich allein. Siehst du?“

Erneut zeigt er auf ein Schild neben einem Vogelhäuschen, unter dessen Vordach er sein Netz anbringt. Geknicktes Origami, vernetzte Vorwelt. Seine geschickten Finger spannen das Netz von dort unter dem Schild weiter, zwischen dem bedruckten Holz und dem Baumstamm dahinter, schnippen prüfend mit dem Mittelfinger dagegen, es federt sacht. Das Holz des Schilds ist noch nass von vergangenem Regen, unter der industriell aufgedruckten Schnörkelschrift „A house is made of walls & beams - A home is made of love & dreams“ klaffen die Risse immer weiter auseinander.

„So viel Fremdsprachen, besonders bei Leuten, die keine beherrschen“, sagt er, in seinen Taschen nach neuen Netzen wühlend. „Weiter weg kann man von der Welt nicht sein. Wer nicht mal die Worte richtig kennt, die sie beschreiben – selbst, wenn es nur Plattitüden sind – an dem treiben die Füllhörner vorbei, ohne ihren Reichtum auszuschütten.“

Mit niedergeschlagenen Lidern fingert er ein weiteres Netz aus der Tasche, macht sich unter einem letzten Schild zu schaffen, hier ist die Leere richtig angebracht. Schlicht „Happiness“ auf einer spiegelglatten Oberfläche.

„Ein Wunsch, eine Bitte, eine Beschwörungsformel? Glauben die Leute, wenn sie sich so ein Wort in den Vorgarten stellen, werden sie glücklich? Und was für eine Art Glück soll das sein?“ Er beäugt das Schild neugierig, bringt seine formbare Falltür an. „Wer zaubern mag, muss Opfer bringen. Wer die Welt aufschließen will, muss die Wünschelrute ins eigene Herz stechen.“

Wir treten zurück, bestaunen das Werk von der Straße aus. Ich staune, der Jäger begutachtet vielmehr. Die taschenbesetzten Lagen seiner Überhänge flattern, als der Nachtwindhund vorbei prescht. Er wirft uns aus dem Gleichgewicht, so wenig Halt ist in den blättrigen Schlaufen der Herbstluft – beide landen wir auf den Hosenböden. Mantel und Überwürfe breiten sich um uns aus, wir überdisteln das Grau des Asphalts.

Durch meine fransigen Knie hindurch setzt sich gleichmütig der Bürgersteig fort, zwischen den Gittern des Gullis verschwinden weitere Netze in der Tiefe. Das ganze Gebiet ein fallengespicktes Revier, zappendustere Lauerbeutel überall. Meine Finger spitzen sich ihnen zu, wollen in den Strudel tauchen, nach dem Nichts greifen. Ich drücke sie gegen den rauen Boden und frage den Jäger, wie viele der Schildbürger ihm ins Netz gehen.

„Nicht viele“, meint er mit halbgesenkten Lidern, unter denen die Pupillen klaffen wie zwei Schlüssellöcher. „Sie sehen nichts. Wer Hände hat, der koste, wer Lippen hat, der taste, habe ich jedes Mal in den Abend geflüstert. Man kann das auf viele Weisen verstehen, und jede davon ist nützlich. Aber sie verstehen gar nichts.“

Mit scheuchenden Bewegungen streift er sich den Staub von den Beinkleidern, macht aber keine Anstalten aufzustehen. Ob es ihm gefällt, am Boden zu sein? Auch ich bleibe sitzen. Welche Leute ihm denn dann in die Blickfalle tappen, will ich wissen. Er erwidert: „Was denkst du?“

Weil ich nicht weiß, wohin die Fallen führen, was dort gefangen und eingesammelt wird, kann ich keine Antwort sagen.

„Übergehende Augen aller Art“, beginnt der Jäger, „fallen dort hinein. In meinem Netz entspinnt sich die Welt, die diesseits davon nicht möglich ist, aber mit allen Fäden fest an der hiesigen hängt. Ein Quallenstoff, ein Schwebeteil mit hundert lockenden, hundert begierigen Armen.“

Seine Beschreibung gibt mir Rätsel auf, und er fragt mich verstohlen: „Willst du einen Blick hineinwerfen?“

Ich biete ihm an, ihn stattdessen beim Wort zu nehmen, beim zottigen Wortpelz, sein flackerndes Fell zu halten und ihm nachzusteigen in den goldenen Mund der Morgenstunde, hinter die Mauer aus sonnigen Zähnen.

Doch er verneint – noch brauche er mich hier – und hängt mir den Mond an, eine fliegende Fußfessel, damit mein Schritt schleppend wird und er mich langsam leuchtend erblickt, sobald ich näherkomme. Ich aber, Gestirnshäftling, entsinne mich meiner Zungenspitze und steche eine Silbenader an. Die Blätter steigen vom Boden wie Nebel, heben sich hundertfach empor, ein fuchsschnäuziger Schwarm nach Norden. Die Luft eine bauchige Laubstaude, Dächer stoßen sich an der Errötung. Wie singende Schnabelschuhe tragen mich die Blätter, von meinen Lippen tropft das Zauberwort. Horchte jemand hin, so könnte er es hören.

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Avy Gdańsk

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