freiVERS | Julia Knaß

sein / stehen (eine irritation)

dieses Nichts zwischen uns scheint bedrohlich verschwommen : unumkehrbar schwimmen frei wie ?, während wir den staub der klassiker zwischen unseren zähnen zermahlen, lautet der current state of mind peripetie, das gefühl nahender finsternis verdrängen wir, indem wir über LEICHEN schreiben

sich mit tinder subkutan hyposensibilisieren : aber sie haben alle keine gesichter, sie haben alle keine gesichter! narrative miteinander, aber nie ineinander verweben – wie ein profi, du machst das schon wie ein profi!!! – seriell permutierend, „einzahl, mehrzahl, vielzahl, unzahl“ mit KÖRPERN nachspielen

unsere abgetreppten mauern schlussendlich doch bang hinuntersteigen : auf der suche nach etwas-zum-begehren; unter jeder unserer stufen befindet sich eine falltür und wir kippen hinein und kippen nach unten und kippen zurück hinauf und schließlich kippen wir nicht in-, sondern einander

Nichts steht
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Nichts ist
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zwischen uns
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Julia Knaß

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freiTEXT | Max Klein

verästeltes nisten

klaustrophobische verfehlungen von formbildern inspiriert. unverfangen ungeniert in verbrüderten gesängen. verästeltes nisten wie brauchtum und brunst von willkürlichen vernünften. versetzt in satzungen von gewaltätigen gerüchen und gedeiht in gabelungen von liderlichem gebrüll. Eine klaustrophische topik von grüner utopie.

und meinen meine lüge wäre anderswo nicht die selbe.

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freiTEXT | Nathalie Rouanet

Lichtspiele

[Juni 1944, Paris-Aix mit dem Fahrrad]

Tiefblaue Nacht. Die Reifen surren auf dem feuchten Asphalt. Du bist nicht schläfrig, ganz wach vor Anstrengung, wachsam vor Angst. Du nimmst alle Geräusche, alle Düfte wahr: die nach Honig duftenden Spiräen, das Flattern einer Fledermaus, die feuchte Erde und das Summen des Dynamos. Du denkst an die Kinder, die du bald wiedersehen wirst. An ihre glänzenden Augen, wenn sie die Glaskugel sehen werden. Du denkst an diesen Koffer auf deinem Gepäcksträger. Was wohl darinnen sein mag? Hinter dir plötzlich ein Auto. Es wird nicht langsamer, es hupt und überholt dich, es fährt vorbei und davon. Wie ein Blitz aus Furcht und Schrecken. Du bleibst allein zurück im schmalen Licht deines Scheinwerfers. Es ist das Herz Frankreichs, hügelig und saftig grün. Die Wege und Felder sind durch gewundene Steinmauern getrennt. Die Tage sind diese ersten warmen Frühlingstage, noch vor der Hitze des Sommers, Anfang Juni vielleicht. Gestern hat es geregnet, die Gräben sind getränkt, die Weiden in Seen verwandelt. Der Farn ist dankbar. Es überkommt dich sehr langsam. Zuerst ist es nur ein Beben der Luft, dann siehst du drei kleine gelbe Punkte. Oder sind es vier? Motorräder oder Autos? Du schaltest den Dynamo aus und wirfst dich in einen Graben, hinter eine Mauer. Die Sachen im Koffer haben gescheppert. Dir bangt. Es dauert Minuten, Stunden, eine Ewigkeit. Du liegst im Dreck, in der Dämmerung, das Gesicht mit Kot bespritzt. Durchhalten. Keine Zigarette. Keine Glut, kein Rauch. Am Mittelfinger den flüchtigen Tabakgeruch schnuppern. Bloß nicht an die nassen Schuhe denken, an die angeschlagenen Knien. Das Warten ist schmerzhaft. Schwer der Kopf. Du denkst an die Glaskugel in deinem Rucksack. Der Eifelturm ist sicher ganz verschneit. Blendender Blitzstrahl, betäubendes Rattern, Todesangst. Und dann die Ruhe. Unheimliche Ruhe. Da zündest du dir eine Zigarette an und beginnst, die Schuhe schwergesogen, das Rad die Mauer entlang zu schieben. Über einen Feldweg erreichst du einen menschenleeren Weiler. Da ist das Ortsschild, da ist die Steinbrücke über dem Bach, dieser rauschenden Schlammstraße. Und da der Bauernhof. Es ist ein Steinhaus mit einem Schieferdach und einem Feigenbaum vor dem Eingang. Du kennst die Leute nicht, aber du weißt, dass du angekommen bist. Der bellende Hund, die offene Tür, die ausgemachte Parole. Die Bauernfamilie sitzt noch am Abendtisch bei gleißendem Licht. Es gibt noch heiße Suppe. Man macht dir eine Omelette, du bekommst ein Glas Wein. Du trocknest deine Schuhe am Kamin, der Koffer wird geöffnet. Stempel, Siegel, Stampiglien, Farbkissen, Prägeeisen, Siegellackstifte. Und unausgefüllte Ausweise, Urkunden, Formulare. Auftrag erfüllt. Du wirst das Fahrrad verstecken, in der Scheune schlafen. Am nächsten Tag geht es weiter, heiteren Gemütes. Du wirst mit dem ersten Sonnenstrahl aufstehen, am langen Eichentisch noch einen echten Kaffee nehmen, und eine große Scheibe Brot mit einer Spur Honig. Sanft wie die Morgenröte.

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freiVERS | Lütfiye Güzel

pinky Helsinki #1

der kurze weg zum bahnhof

ist
der längste weg der reise
was ich kenne

lasse ich zurück
& manchmal setze ich mich so hin
dass die stadt mich verfolgt

& manchmal setze ich mich so hin

dass ich ihr dabei zusehen kann

Lütfiye Güzel

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freiVERS | Lea Sauer

Schlaf ist eine bittere Körnung

3

Mein Kopf ist zu klein mindestens vier Quadratmeter oder Zentimeter von mir Spiegel mir von Bildflächen erscheinend als Hologramme ich nur Wetterleuchten verändert nur die Luft oder auch Nieseln auf Geländern kommt leise herein zwischen den Laken schleckt lieber nicht eure Augen voll süß-saurem Geschmack.

Lea Sauer

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freiTEXT | Vera Hohleiter

Tapgol Park

Ein Sportfest, was für eine dumme Idee… Kyu-ho fragte sich, wer wohl den Einfall gehabt hatte, dass ein Sportfest für die Angestellten der Firma eine passende Teambildungsaktivität war. Er zog die Baseballkappe tiefer ins Gesicht, denn er wollte vermeiden, dass ihn jemand auf der Straße erkannte. Diese alberne Sportjacke mit dem Unternehmenslogo war ihm peinlich.

Mürrisch stapfte er in Richtung U-Bahnhof. Er starrte vor sich hin, bis ihm plötzlich einige hundert Meter vor ihm eine vertraute Gestalt auffiel. Aus der Entfernung sah Kyu-ho nur den Rücken seines Vaters. In dem übergroßen Jackett wirkte sein Oberkörper so lang und so wuchtig, dass er überhaupt nicht mehr zu den dünnen kurzen Beinen passte. Eigentlich hatte Kyu-ho seinen Vater nur an dem viel zu großen Jackett erkannt, denn es war früher sein eigenes gewesen. Bereits vor Wochen hatte er es in der Altkleidertonne entsorgt. Sein Vater musste es wieder herausgefischt haben.

Offenbar war sein Vater ebenfalls auf dem Weg zum U-Bahnhof. Was er wohl vorhatte, wen er wohl traf, womit er sich den ganzen Tag die Zeit vertrieb? Seitdem die Firma seines Vaters in der Asienkrise bankrottgegangen war, befand er sich im ungewollten Ruhestand. Zwar versuchte er immer wieder, hier und da zu arbeiten, ließ sich in naiver Gutgläubigkeit auf zwielichtige Geschäfte ein und war dann wieder enttäuscht, wenn abermals eine Geschäftsidee geplatzt war. Kyu-ho hatte mit Anfang Zwanzig die finanzielle Bürde für die gesamte Familie übernehmen müssen – was ihm eigentlich nichts ausmachte, solange sein Vater sich von dubiosen Geschäftspartnern fernhielt. Ob er wohl wieder auf dem Weg zu so einer Scheinfirma war? Kyu-ho fragte sich, was so eilig war, dass die Angelegenheit seinen Vater so früh am Morgen aus dem Haus getrieben hatte. Der Anblick seines Vaters im Jackett auf dem Weg zur U-Bahn genügte, um ihn misstrauisch zu stimmen.

Am U-Bahnhof angekommen, bemerkte Kyu-ho, dass sein Vater den Bahnsteig der Linie 1 ansteuerte. Er selbst musste eigentlich die Linie 4 nehmen. Hin- und hergerissen, trat Kyu-ho von einem Fuß auf den anderen, tat so, als studierte er den U-Bahnplan von Seoul, während er nachdachte. Er überlegte, ob er seinem Vater noch ein Stückchen folgen sollte, weil er doch zu gerne gewusst hätte, was er im Schilde führte, oder ob er es aufgeben sollte und einfach, wie geplant, zum Sportfest der Firma gehen sollte. Vielleicht würde es niemandem auffallen, wenn er ein bisschen zu spät kam. Bei hunderten von Angestellten, konnte doch sowieso niemand den Überblick behalten…

Als er die U-Bahn der Linie 1 einfahren hörte, rannte er kurzentschlossen hinunter auf den Bahnstieg und sprang in letzter Minute in den Waggon, in dem sein Vater bereits auf einem Sitzplatz für Senioren saß. Sein Vater schien ihn gar nicht bemerkt zu haben. Vorsichtshalber versteckte sich Kyu-ho hinter einer Gruppe Teenager, sodass er nicht mehr im Sichtfeld seines Vaters war, er ihn aber dennoch im Blick behalten konnte. Von seinem Stehplatz aus beobachtete Kyu-ho seinen Vater aus den Augenwinkeln. Eigentlich unterschied ihn nichts von den anderen Senioren, die alle irgendwie verloren wirkten, zwischen all den Smartphones und den Bildschirmen, über die grell-bunte Werbespots und Musikvideos von blutjungen Popstars flimmerten. Die alten Männer mit ihren runzeligen, von Altersflecken übersäten Händen, ihrem schütteren Haar und ihrem resignierten Gesichtsausdruck wirkten wie Relikte aus einer anderen Zeit, die irgendwie nicht mehr in diese bunte optimistische K-Pop-Welt passten.

Nach wenigen Stationen erhob sich Kyu-hos Vater von seinem Seniorensitzplatz. Am U-Bahnhof Jonggak stieg er aus. Kyu-ho folgte ihm, trödelte aber absichtlich, bis er genug Abstand zu seinem Vater halten konnte. Von hinten wurde er mehrmals geschubst. Leute fluchten lautstark, weil sie fanden, dass er den Weg versperrte. Kyu-ho reagierte nicht auf die Beschimpfungen, sondern konzentrierte sich nur darauf, seinen Vater nicht aus den Augen zu verlieren.

Er folgte seinem Vater auf die Straße hinauf. Sie passierten den Jongno Tower. Kyu-ho hielt den Kopf gesenkt und versteckte sich weiter hinter seiner Baseballkappe. Er befürchtete, dass sich jemand, den er kannte, zu dieser Uhrzeit in Jongno aufhielt und vielleicht auf dem Weg zu einem Meeting war im „Top Cloud“, dem schicken Restaurant im 33. Stock des Jongno Tower.

Kyu-hos Vater bog nach links ab und schritt durch ein bunt bemaltes Holztor. Tapgol Park – Kyu-ho war noch nie dort gewesen. Niemand in seiner Altersgruppe verirrte sich dorthin. Es war ein Park, in dem sich hauptsächlich alte Männer zum Janggi spielen trafen, weil sie sonst nichts zu tun hatten. Kyu-ho fragte sich, warum der Park nicht längst als Bauland freigegeben worden war. Schließlich war im Zentrum von Seoul jedes unbebaute Fleckchen Gold wert. Man hätte einen eleganten modernen Wolkenkratzer auf dem Gelände des Parks errichten können.

Kyu-ho versteckte sich hinter dem Holzpfeiler einer Pagode. „Hey, Kleiner, hast du ein bisschen Zeit für mich?“, hauchte jemand von hinten in einer gekünstelten Stimme, die wohl verführerisch klingen sollte. Kyu-ho glaubte, einen leichten chinesischen oder vielleicht auch nordkoreanischen Akzent herauszuhören. Es war eine Prostituierte, die vom Alter her bereits weit jenseits der Menopause sein musste. Erst scheuchte er sie ungehalten weg, dann lief er ihr hinterher und drückte ihr einen 10.000-Won-Schein in die Hand und sagte, sie solle sich damit etwas zu essen kaufen. Einerseits bekümmerte es ihn, dass sich ältere Frauen so erniedrigen mussten, andererseits fand er es schamlos, dass sie einsamen Männern im Park auflauerten und versuchten, ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen.

Die Prostituierte hatte Kyu-ho abgelenkt. Für einen Moment hatte er die Spur seines Vaters verloren. Sein Blick wanderte durch den Park. Er sah sich die Gesichter der Janggi-Spieler genauer an, aber keiner war sein Vater. Er schlenderte ein bisschen an den Pagoden vorbei. Dann entdeckte er seinen Vater, der zusammen mit einem anderen alten Mann in schlechtem Englisch auf ein ausländisches Mädchen einredete. Kyu-ho fragte sich, wie das Mädchen wohl im Tapgol Park gelandet war. Es schien ihm ein so abwegiger Ort für eine junge Touristin. Dann entdeckte er, dass sie ein Buch, das wie ein Reiseführer aussah, in den Händen hielt. Die Haut der Fremden war leicht gebräunt, nicht so weiß wie die der Koreanerinnen, die sich vor jedem Sonnenstrahl versteckten, und sie hatte ein Gesicht wie ein Hollywoodstar, dessen Name Kyu-ho aber nicht einfallen wollte. Ihrem Aussehen nach konnte Kyu-ho nicht erraten, woher sie kam, vermutete aber irgendwo aus Nordamerika oder Europa, vielleicht auch aus Australien.

Kyu-ho ging ein bisschen näher heran, denn er wollte ein paar Fetzen der Unterhaltung aufschnappen. Er hörte, wie sein Vater nach dem Alter des Mädchens fragte und ob es verheiratet sei. Das Mädchen antwortete ihm betont langsam und freundlich und sagte, es sei 25 Jahre alt und nicht verheiratet. Daraufhin brachen Kyu-hos Vater und der andere alte Mann in schallendes Gelächter aus und wiederholten mehrmals das Wort „Single“, „Single“, „Single“, ... Das Mädchen kicherte ein bisschen und warf ihnen einen Blick zu, aus dem Kyu-ho herauslas, dass es die beiden alten Männer gleichzeitig lustig und lästig fand. Kyu-ho schämte sich ein bisschen für seinen Vater. Wie gerne hätte Kyu-ho die schöne Fremde aus dieser unangenehmen Situation befreit. Er hatte nur zu ihr hinübergehen müssen und ihr in korrektem Englisch erklären können, dass in der Generation seines Vaters kaum jemand Fremdsprachen sprechen konnte und dass man in dieser Generation jung geheiratet hatte, weswegen auf die alten Männer eine unverheiratete 25-Jährige wie ein übriggebliebener Weihnachtskuchen wirkte. Er hätte weiter ausführen können, dass junge Koreaner heutzutage ebenfalls immer später heirateten, hätte ihr dies und das über koreanische Kultur erläutern können und sie hätte ihm ein interessiertes Ohr geschenkt und wäre vielleicht mit ihm ins „Top Cloud“ essen gegangen und hätte ihm vielleicht sogar ihre Telefonnummer gegeben, … In seiner Vorstellung spann Kyu-ho die Geschichte weiter und weiter, bis ihm auffielt, dass das ausländische Mädchen längst gegangen war und dass sein Vater und der andere alte Mann mit einem Janggi-Spiel begonnen hatten.

Kyu-ho wandte sich ab, verließ den Park und machte sich auf den Weg zum Sportfest seiner Firma.

Vera Hohleiter

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freiVERS | Lea Sauer

Schlaf ist eine bittere Körnung

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Bettkasten ein Paravent nackter Schlaf nur Schleim verbittert spätestens vier Uhr nachmittags horizontal eine Körnung im Kopf keine Luft Frische Schwüle an den Wänden an der Decke legt sich herab vor allem auf die Jochbeine drückt sich der Nachtdruck will nicht verschwinden.

Lea Sauer

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freiTEXT | Susanne Pernkopf

Wird schon nichts gewesen sein

Es ärgerte ihn, dass er nicht mehr Tourist in seiner Stadt war. Deshalb spazierte er dieses Mal nicht über die Spabersbachgasse, sondern bog über die Albersgasse in die Morellenfeldgasse ein. Bei den Häusern kamen ihm keine Betrachtungen, er schaute nur. Als er aber zu den Fahrradständern von Haus Nummer 9 schaute, zog er seine Zigarette ganz schnell aus dem Mund. Seine linke Hand hörte auf mit der Fisherman‘s Friend Packung in der Hosentasche zu spielen und er blieb stehen. An dem Fahrradständer lehnten sieben Räder, eines ganz vorne. Es hatte keine Kotflügel, keinen Gepäcksträger und kein Licht.

Ein altes KTM Fahrrad.

Er schaute sich um und dämpfte seine Zigarette an einem Mistkübel aus. Das Fahrrad wurde vor allen anderen, ganz vorne platziert. Er steckte beide Hände in die Hosentaschen und betrachtete es. Beide Reifen hatten keine Luft. Ihm wurde warm. Die Lenkgriffe aus weißem Plastik. Der Griff für die Gangschaltung zeigte nach oben. Er drehte die Gangschaltung runter. Im Stand, das geht doch nicht. Er schaute sich um. Kein Mensch in der Morellenfeldgasse.

Er schaute auf die Fassade der Nummer 9, ein sanierter Altbau, ließ die Schultern hängen und ging weiter.

Hmmm, dachte er. Er zündete eine Zigarette an und ging stadtauswärts.

Aber warum war das Rad nicht abgesperrt?, sagte er, als er zuhause die Tür aufsperrte. Seine Freundin saß auf der Couch und las Wilhelm Tell. Wurde dein Fahrrad gestohlen?, fragte sie. Er stand vor ihr mit Jacke und Schuhen. Nein, nicht meins aber vielleicht ein anderes, sagte er. Ein Schönes?, fragte sie. Ein KTM, das war vor fünf Stunden, sagte er. Sie legte das Buch weg und zog sich die Schuhe an. Auf der Straße bot er ihr ein Fisherman’s Friend an. Es hatte nicht einmal Katzenaugen, sagte er.

Sie schaute sich das sanierte Haus an. Im ersten Stock waren neue Fenster, etwas verstaubt mit Wischspuren. Ein Porsche und drei Audis parkten vor dem Haus. Das KTM stand noch da. Sie legte ihre Hand auf den Sitz, der wackelte. Wer fährt mit einem wackeligen Sitz herum?, dachte sie und sagte er. Vielleicht hat es jemand kurz geparkt und das Schloss vergessen, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. Wenn das Kettenblech nicht so gepflegt aussehen würde, dann hätte ich es sofort mit genommen, sagte er. Aber schau mal, sagte sie, die Geschichte geht so: Das Haus hat neue Mieter, hier der Porsche und die Audis zum Beispiel. Die haben Elektrofahrräder, die im Innenhof stehen. Der Hausmeister hat ausgemistet und im Vergleich zu den neuen Rädern kam es ihm alt und rostig vor. Deshalb hat er es einfach rausgestellt.

Er lächelte und ging um eine Birke herum, aber, sagt er, wenn die Geschichte nicht so war und jemand sein Fahrrad sucht? Dann, sagte sie, werden wir erwischt und jemand kann uns diese Geschichte endlich erklären.

Susanne Pernkopf

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freiVERS | Lea Sauer

Schlaf ist eine bittere Körnung

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Hämmert Körper an Scheiben eine Furche zwischen Hitze oder Brocken Langeweile ausufernd aufgeworfen überall Fliegen auf dem Sehloch schwarz Schweiß in den Ellenbeugen brennt mir grell auf die Iris ein Bild ist eine Höhle zum Fallen darauf färbe ich Haare in Aubergine als Farbe erkennen kann ich mich nur vorgestellt zwischen Geräusch Temperatur in Dehnung Tropfen am Arm.

Lea Sauer

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freiTEXT | Kai Wieland

Schwarze Katzen

Der erste Zufall an jenem Tag war, dass der Nebel aufzog, als die Maschine ruhig über dem Hunsrück dahinglitt, und dann erschienen die endlosen Windkraftanlagen im diffusen Grau plötzlich wie Kreuze, die aus Grabhügeln ragten. Der zweite Zufall war, dass es ausgerechnet Herr Seibold war, der auf Platz 26F teilnahmslos aus dem Fenster starrte und diesen Umstand bemerkte, während er darüber nachdachte, was die Flugbegleiterin am Boden zu ihm gesagt hatte.

„Nachts sind alle Katzen schwarz“, hatte sie lachend zu ihm gesagt, nachdem er sich bei ihr nach seinem Gate erkundigt hatte. Was sollte das bedeuten? Ohnehin schon wurde er aus solchen Frauen, aus den jungen mit strahlenden, makellosen Zähnen, nur selten klug. Und wer wusste schon, worum die Gedanken einer Stewardess kreisten, wenn sie nicht in ihrem Element war, sondern erdgebunden, wie jeder andere gewöhnliche Menschenleib. Herr Seibold war Bestattungsunternehmer, weswegen er beim Anblick der Grabkreuze im kriechenden Nebel 10.000 Meter unter ihm nicht erschauderte. Allerdings war er mit seinen Gedanken auch woanders, eben noch immer bei jenen schwarzen Katzen, denn er meinte sich vage zu erinnern, dass das Sprichwort anders ging. Dennoch suchte er den Fehler bei sich selbst, er fühlte sich nicht sicher auf dem Gebiet der Redewendungen. Als Bestattungsunternehmer hatte er vorsichtig zu sein, mit einer Bemerkung wie „Wer anderen eine Grube gräbt …“ konnte man eine Lawine lostreten. Die meisten Menschen erwarteten, und das mit jedem Recht, wie Herr Seibold einsah, vollkommene Humorlosigkeit von dem, der ihre Angehörigen unter die Erde brachte. Und doch, gab es in seinem Beruf etwa nicht das morbide Pendant zur lachhaften Kundenbeschwerde oder zum hypochondrischen Patienten? Herr Seibold war Profi in einer von Profis dominierten Branche.

Die dritte Zufall war im Grunde nicht besonders erstaunlich, aber doch erstaunlicher als die beiden zuvor. Was ist auch bemerkenswert an etwas Nebel im Hunsrück oder an einem Bestattungsunternehmer, der Kreuze sieht und über Katzen nachdenkt, über Katzen, so  schwarz wie die Nacht.

Frau Schell, die vor Gate 55 mit geübt dahinhuschenden Fingern ihre Uniform richtete, nahm ihn kaum wahr. Sie konzentrierte sich auf die Glattheit ihrer Zähne, wenn sie mit der Zunge darüberfuhr, so wie immer, kurz bevor sie eine Maschine betrat. Über schwarze Katzen, oder über Katzen ganz gleich welcher Couleur, dachte Frau Schell eigentlich selten nach. Trotzdem war sie sensibel, was Farben anging. Sie verlor schnell die Geduld mit dem Mann im dunklen Anzug, und mit der hektisch Art, wie er seine Jackett- und Hosentaschen nach dem Ticket abtastete und sie dabei nach dem Weg fragte, unsicher, an welches Gate er überhaupt musste. Was die Menschen an Flughäfen so nervös machte, würde sie nie verstehen. Wo konnte man in solchen Zeiten sicherer sein als an Gate 55, zwischen Palma de Mallorca und Düsseldorf, zwischen Charles de Gaulle und José Martí. Wo sonst wusste man so genau, wohin ein jeder ging, und konnte so gleichgültig sein gegenüber der Frage, woher er kam? Sie mochte Flughäfen, war beinahe lieber dort, als an Bord einer Maschine. Und aus verschiedenen Gründen waren ihr Passagiere auch lieber als Menschen.

Anders als Frau Schell gehörte Herr Seibold zu jenen, die man schon vergaß, während man ihnen noch den Weg erklärte. An seinem äußeren Erscheinungsbild gab es nur zwei hervorstechende Merkmale, die einander jedoch neutralisierten. Seine enormen Segelohren wurden gemildert durch einen ungewöhnlich buschigen Backenbart, der in Herrn Seibolds ansonsten recht langweiligem Gesicht eine nicht weniger langweilige Symmetrie herstellte. Fast immer, wenn er mit Fremden sprach, schlug ihm eine untergründige Geringschätzung entgegen, die er fatalerweise seinem fehlenden Charisma zurechnete. Hätte sich Herr Seibold öfter rasiert und im Winter ein Stirnband getragen … er war gewiss kein faszinierender Redner, aber mit Anekdoten aus seinem Beruf hätte er die Leute durchaus faszinieren können. Natürlich verwehrte ihm das sein Berufsethos und die Angst davor, aus einem blöden Zufall heraus einen Angehörigen vor sich zu haben. Das konnte selbst einem Profi passieren.

Der dritte Zufall an diesem Tag war, dass Herr Seibold und Frau Schell sich an Bord derselben Maschine befanden, als diese über den Hunsrück schwebte und ihren Schatten auf die sich drehenden Kreuze am Boden warf wie eine verirrte Wolke.

Angesichts der Tatsache, dass Frau Schell als Bordbegleiterin arbeitete und Herr Seibold die Dienste ihrer Fluggesellschaft in Anspruch nahm, ist dieser Zufall also kein ganz und gar unglaublicher. Alltäglich war die Geschichte aber auch nicht, und Herr Seibold nahm sich vor, sie als unverfängliche Anekdote im Hinterkopf zu behalten.

Er bemerkte das bekannte Gesicht erst, als es ihm ohne ein Zeichen des Wiedererkennens, aber mit freundlicher Miene einen Kaffee anbot. Bei der Sicherheitseinweisung hatte er aus dem Fenster gesehen und die Männer in den gelben Jacken beobachtet, fasziniert von ihren unsichtbar koordinierten Bewegungen und Handlungen. Er erwartete nicht, an diesem Tag zu sterben, und er sollte Recht behalten.

„Milch und Zucker dazu?“. Ihre Stimme klang warm und freundlich, ganz anders als noch am Boden.
„Nein, danke. Ich trinke ihn … nein, danke!“

Er blickte ihr über die Schulter nach, und er fand, sie machte ihre Sache sehr routiniert. Eine ältere Dame mit kurzem grauem Haar schüttelte einige Reihen hinter ihm über ein zerknicktes Taschenbuch hinweg missbilligend den Kopf, und so drehte sich Herr Seibold eilig um und sah wieder aus dem Fenster. Noch immer überzog eine zähe graue Masse das Land.

Herr Seibold fühlte sich unwohl. Er hatte aus Nervosität vor dem Abflug zu viel gegessen, und er war nicht sicher, ob seine Hotelreservierung gültig war, denn eine Bestätigung hatte er nicht erhalten. Man müsse Urlaub machen, hatten seine Mitarbeiter gemeint, einen Tapetenwechsel brauche man von Zeit zu Zeit, und London sei eine Reise wert. Und wie so oft in seinem Leben setzte er den erstbesten Vorschlag exakt um, ohne eigene Bedürfnisse und ohne im eigentlichen Sinne überzeugt davon zu sein. Er hätte sich ebenso viel und ebenso wenig davon versprochen, nach Paris, Stockholm oder Podgorica zu fliegen. Nachts sind alle Katzen schwarz. Seine Stirn lag in tiefen Falten, als sich Frau Schell erneut an ihn wandte, um ihm einen Snack zu reichen. Ihm fiel erstmals auf, wie müde die junge Frau wirkte. Er bemerkte es nicht an ihrem Gesicht, das wie eh und je professionelle Frische ausstrahlte, sondern an der Art und Weise, wie sie sich bückte, um ihm das Käsecroissant über seine beiden Nebensitzer hinüberzureichen. Und dann war da noch der Ausdruck in ihren grauen Augen, die sich in den seinen lethargisch zu verlieren schienen, schlafwandelnd, gleichgültig.

Frau Schell hatte ein schlechtes Gedächtnis für Gesichter, was in ihrem Beruf, in dem sie sehr vielen Menschen begegnete, gewisse Vor- als auch Nachteile mit sich brachte. Herrn Seibolds größtes Problem mit seinem Beruf war, dass er die Gesichter nie wieder vergaß. Er hatte Frau Schell schon früher gesehen, es wurde ihm jäh bewusst.

„Salz und Pfeffer dazu?“

Herr Seibold war Purist. Er glaubte nicht an das Schicksal. Wenn man um die Dinge zu viel Aufhebens machte, forderte man Enttäuschungen geradezu heraus. Er beschloss, Frau Schell und ihre Katzen fortan zu ignorieren.

„Nein, vielen Dank“, erwiderte er. „Haben Sie eine Schlafmaske für mich?“
Frau Schell lächelte schwach. „Ach, wissen Sie...“

Eilig fuchtelte Herr Seibold mit einer ablehnenden Geste durch die stickige Luft. „Nicht weiter schlimm, der Flug dauert ja nicht mehr lange. Ich könnte wohl ohnehin nicht einschlafen, es ist alles so eng. So eng!“

Die junge Frau nickte freundlich und räumte wortlos seinen leeren Becher ab. Das enttäuschte Herrn Seibold, er hätte etwas mehr Schuldbewusstsein erwartet. Seiner Ansicht  nach gehörte es zu den Kernaufgaben einer Stewardess, sich für die Fehler ihrer Airline zu entschuldigen. So wie er sich wieder und wieder für Dinge entschuldigen musste, die nicht in seiner Hand lagen. Er hatte damals keinen Fehler gemacht, er war Profi. Er hatte sein Beileid ausgesprochen, und die grauen Augen hatten sich geschlossen und man hatte geschwiegen, und dann war Herr Seibold an die Arbeit gegangen.

„Es tut mir Leid.“ Er hatte es ernst gemeint. Aber eigenartigerweise machte das die Menschen nur noch wütender. Auf der Bordtoilette erbrach sich eine junge Frau mit bedauernswert langen Beinen, sie erbrach sich bereits seit über einer Stunde. Er konnte sie hören, während er an seinem Kaffee schlürfte. Sie waren mittlerweile über dem offenen Meer, und es gab nichts mehr zu sehen, er sehnte die Landung herbei. Würden sich ihre Wege dann trennen? Die seinen und die von Frau Schell? Oder würde sie auch seinen Rückflug am kommenden Sonntag begleiten, und sich wieder nicht an ihn erinnern, und von den Dingen reden, als seien sie ohne Bedeutung. Er war froh, nicht mehr jung zu sein.

Beim Verlassen der Maschine schenkte Frau Schell, die mit ihren müden Augen Position am Ausgang bezogen hatte, ihm eine Miniaturtafel Schokolade. Sie tat das mit allen Passagieren, Herr Seibold wusste das. Aber dennoch spürte er eine winzige Spur Vertrautheit, als ihre weißen Zähne ihn anstrahlten, und er verharrte einen Moment und suchte in ihrem Gesicht nach einer Erwiderung des Gefühls. Aber Frau Schell hatte ihren Blick bereits abgewandt. Ihr Gesicht schenkte ihm noch Aufmerksamkeit, aber die Augen suchten bereits nach dem nächsten leeren Augenpaar in der langen Reihe hinter ihm, nach dem nächsten verschwimmenden Stück Mensch, das sich schon im selben Moment wieder zu einem blinden Fleck zu verwandeln begann.

Kai Wieland

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