freiTEXT | Tessa Schwartz

Fort

Ich höre sein Lachen, durch die verschlossene Tür des Wohnzimmers hindurch. Die anderen stimmen darin ein, laut, gewalttätig. Wenn die anderen gegangen sind, wenn er im Bett liegt, schläfrig vom Alkohol, werde ich das Wohnzimmer betreten. Ich werde vor dem Geruch, der Mischung aus Alkohol, Schweiß und ungewaschener Kleidung zurückweichen, meinen Atem anhalten, hineingehen, das Fenster öffnen und aufräumen. Während ich das tun werde, werde ich mich selbst sehen, wie ich ihm hinterher räume, und ich werde mich fragen, warum ich das tue. An der Garderobe hängen ihre Mäntel. Ihr Geruch nimmt den des Wohnzimmers vorweg. Ich nehme meinen Mantel vom Garderobenhaken, damit er nicht ihren Geruch annimmt. Ich stehe im Vorzimmer, meinen Mantel in der Hand haltend. Ich könnte ihn anziehen, die Haustür öffnen, sie leise hinter mir zuziehen und fortgehen. Ich stehe im Vorzimmer und weiß, dass ich nicht fortgehen werde. Es ist ein Wort ohne Ziel, ohne Ankommen. Fortgehen gibt es nicht. Ich stehe im Vorzimmer und der Geruch ihrer Mäntel nimmt mir den Atem. Ich öffne die Haustür, gehe zur Garderobe, nehme einen Arm voll Mäntel, versuche, sie von meinem Körper fernzuhalten, an ausgestreckten Händen trage ich sie vor die Haustür, lege sie auf den Boden, gehe zur Garderobe zurück, nehme die restlichen Mäntel, lege sie vor die Haustür. Die Garderobe ist jetzt sauber, und ich hänge meinen Mantel daran. Dann gehe ich ins Badezimmer. Ich drehe den Schlüssel von innen zwei Mal im Schloss herum. Ich setze mich auf den Badewannenrand. Ich beginne zu warten. Ich habe noch keine Angst.

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freiTEXT | Markus Anton

die idee ewigwährender erniedrigung in vier stockwerken

ende dann tatsächlich die idee ewigwährender erniedrigung und erneut sie flüstert kennst du die geschichte vom typen der aus dem fenster springt sagt wird schon gutgehen ich bin der luftwiderstand gegen den es anzukämpfen gilt ich schmeichle deiner haut erkälte dich und sie öffnet das linke fenster nur geht in die knie bläst schluckt küsst vier dann erinnerungen mindestens die farbe des himmels leuchtet nicht sekundenweise oder die kosmische expansionsrate ist deutlich größer als die wahrscheinlichkeit dich zu überleben und ich werde lernen schmerzen zu empfinden zitat anfang denn nur wer schmerz empfindet ist bereit die tragweite eines gedankens wie liebe zu begreifen zitat ende ich bin fertig mit euch rosengärten baumalleen oder dem geruch von sommerasphalt nach kurzen regenschauern haarmuskeln meiner haut oder urinstinkten euch hatte ich nie viel zu berichten drei und sie tänzelt streichelt und ich messe ihre zuneigung in kilometern pro stunde oder sie presst ihren atem in meine kleine menschenseele ich bin die fleischgewordene reproduktionswut meiner eltern bin ödipuss schwanzstück oder lenny mcleans rechter haken in der visage seines vaters zwei du bist ein guter junge auf die knie auf die knie oder was willst du dagegen unternehmen und ich täusche ohnmacht vor etwas mehr als ein feiner charakterzug der mich mein restliches leben lang begleiten wird ich kämpfe nicht mehr gegen dich an verprochen und ich sehe dich ein letztes mal vielleicht und sie schließt fürsorglich das fenster wird schon gutgehen eins und meinetwegen erkälte mich vorhang

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freiVERS | Martina Onyegbula

Nischen

In der Enge der Systeme
bleiben uns nur Nischen.
Du, wohl verankert
ziehst zielstrebig in die Zukunft
doch jetzt blickst du immer öfter
rechts und links nach mir.

Und wir schmiegen uns
in Wegkerben aneinander
und treffen uns flüchtig
auf Federkissen und versinken
hautwarm in Gruben
und füllen alle Lücken aus.

Wir zwängen hindurch uns
durch kleinste Spalten
unserer Tage und liegen beisammen
zwischen stillsten Fasern der Nacht
lagern in Rillen und Ritzen
in der Verdichtung der Zweisamkeit.

Wir finden uns zwischen Hemdsfalten
schlüpfen leise durch Knopflöcher
tauchen in sanften Hautmulden unter
flüsternd in unseren Nischen
und bleiben uns zärtlich hängen
in den Schlupfwinkeln unserer Lider.

Martina Onyegbula

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freiVERS | Julia Knaß

sein / stehen (eine irritation)

dieses Nichts zwischen uns scheint bedrohlich verschwommen : unumkehrbar schwimmen frei wie ?, während wir den staub der klassiker zwischen unseren zähnen zermahlen, lautet der current state of mind peripetie, das gefühl nahender finsternis verdrängen wir, indem wir über LEICHEN schreiben

sich mit tinder subkutan hyposensibilisieren : aber sie haben alle keine gesichter, sie haben alle keine gesichter! narrative miteinander, aber nie ineinander verweben – wie ein profi, du machst das schon wie ein profi!!! – seriell permutierend, „einzahl, mehrzahl, vielzahl, unzahl“ mit KÖRPERN nachspielen

unsere abgetreppten mauern schlussendlich doch bang hinuntersteigen : auf der suche nach etwas-zum-begehren; unter jeder unserer stufen befindet sich eine falltür und wir kippen hinein und kippen nach unten und kippen zurück hinauf und schließlich kippen wir nicht in-, sondern einander

Nichts steht
(mehr)
Nichts ist
(mehr)
zwischen uns
(mehr)

Julia Knaß

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freiTEXT | Max Klein

verästeltes nisten

klaustrophobische verfehlungen von formbildern inspiriert. unverfangen ungeniert in verbrüderten gesängen. verästeltes nisten wie brauchtum und brunst von willkürlichen vernünften. versetzt in satzungen von gewaltätigen gerüchen und gedeiht in gabelungen von liderlichem gebrüll. Eine klaustrophische topik von grüner utopie.

und meinen meine lüge wäre anderswo nicht die selbe.

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freiTEXT | Nathalie Rouanet

Lichtspiele

[Juni 1944, Paris-Aix mit dem Fahrrad]

Tiefblaue Nacht. Die Reifen surren auf dem feuchten Asphalt. Du bist nicht schläfrig, ganz wach vor Anstrengung, wachsam vor Angst. Du nimmst alle Geräusche, alle Düfte wahr: die nach Honig duftenden Spiräen, das Flattern einer Fledermaus, die feuchte Erde und das Summen des Dynamos. Du denkst an die Kinder, die du bald wiedersehen wirst. An ihre glänzenden Augen, wenn sie die Glaskugel sehen werden. Du denkst an diesen Koffer auf deinem Gepäcksträger. Was wohl darinnen sein mag? Hinter dir plötzlich ein Auto. Es wird nicht langsamer, es hupt und überholt dich, es fährt vorbei und davon. Wie ein Blitz aus Furcht und Schrecken. Du bleibst allein zurück im schmalen Licht deines Scheinwerfers. Es ist das Herz Frankreichs, hügelig und saftig grün. Die Wege und Felder sind durch gewundene Steinmauern getrennt. Die Tage sind diese ersten warmen Frühlingstage, noch vor der Hitze des Sommers, Anfang Juni vielleicht. Gestern hat es geregnet, die Gräben sind getränkt, die Weiden in Seen verwandelt. Der Farn ist dankbar. Es überkommt dich sehr langsam. Zuerst ist es nur ein Beben der Luft, dann siehst du drei kleine gelbe Punkte. Oder sind es vier? Motorräder oder Autos? Du schaltest den Dynamo aus und wirfst dich in einen Graben, hinter eine Mauer. Die Sachen im Koffer haben gescheppert. Dir bangt. Es dauert Minuten, Stunden, eine Ewigkeit. Du liegst im Dreck, in der Dämmerung, das Gesicht mit Kot bespritzt. Durchhalten. Keine Zigarette. Keine Glut, kein Rauch. Am Mittelfinger den flüchtigen Tabakgeruch schnuppern. Bloß nicht an die nassen Schuhe denken, an die angeschlagenen Knien. Das Warten ist schmerzhaft. Schwer der Kopf. Du denkst an die Glaskugel in deinem Rucksack. Der Eifelturm ist sicher ganz verschneit. Blendender Blitzstrahl, betäubendes Rattern, Todesangst. Und dann die Ruhe. Unheimliche Ruhe. Da zündest du dir eine Zigarette an und beginnst, die Schuhe schwergesogen, das Rad die Mauer entlang zu schieben. Über einen Feldweg erreichst du einen menschenleeren Weiler. Da ist das Ortsschild, da ist die Steinbrücke über dem Bach, dieser rauschenden Schlammstraße. Und da der Bauernhof. Es ist ein Steinhaus mit einem Schieferdach und einem Feigenbaum vor dem Eingang. Du kennst die Leute nicht, aber du weißt, dass du angekommen bist. Der bellende Hund, die offene Tür, die ausgemachte Parole. Die Bauernfamilie sitzt noch am Abendtisch bei gleißendem Licht. Es gibt noch heiße Suppe. Man macht dir eine Omelette, du bekommst ein Glas Wein. Du trocknest deine Schuhe am Kamin, der Koffer wird geöffnet. Stempel, Siegel, Stampiglien, Farbkissen, Prägeeisen, Siegellackstifte. Und unausgefüllte Ausweise, Urkunden, Formulare. Auftrag erfüllt. Du wirst das Fahrrad verstecken, in der Scheune schlafen. Am nächsten Tag geht es weiter, heiteren Gemütes. Du wirst mit dem ersten Sonnenstrahl aufstehen, am langen Eichentisch noch einen echten Kaffee nehmen, und eine große Scheibe Brot mit einer Spur Honig. Sanft wie die Morgenröte.

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freiVERS | Lütfiye Güzel

pinky Helsinki #1

der kurze weg zum bahnhof

ist
der längste weg der reise
was ich kenne

lasse ich zurück
& manchmal setze ich mich so hin
dass die stadt mich verfolgt

& manchmal setze ich mich so hin

dass ich ihr dabei zusehen kann

Lütfiye Güzel

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freiVERS | Lea Sauer

Schlaf ist eine bittere Körnung

3

Mein Kopf ist zu klein mindestens vier Quadratmeter oder Zentimeter von mir Spiegel mir von Bildflächen erscheinend als Hologramme ich nur Wetterleuchten verändert nur die Luft oder auch Nieseln auf Geländern kommt leise herein zwischen den Laken schleckt lieber nicht eure Augen voll süß-saurem Geschmack.

Lea Sauer

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freiTEXT | Vera Hohleiter

Tapgol Park

Ein Sportfest, was für eine dumme Idee… Kyu-ho fragte sich, wer wohl den Einfall gehabt hatte, dass ein Sportfest für die Angestellten der Firma eine passende Teambildungsaktivität war. Er zog die Baseballkappe tiefer ins Gesicht, denn er wollte vermeiden, dass ihn jemand auf der Straße erkannte. Diese alberne Sportjacke mit dem Unternehmenslogo war ihm peinlich.

Mürrisch stapfte er in Richtung U-Bahnhof. Er starrte vor sich hin, bis ihm plötzlich einige hundert Meter vor ihm eine vertraute Gestalt auffiel. Aus der Entfernung sah Kyu-ho nur den Rücken seines Vaters. In dem übergroßen Jackett wirkte sein Oberkörper so lang und so wuchtig, dass er überhaupt nicht mehr zu den dünnen kurzen Beinen passte. Eigentlich hatte Kyu-ho seinen Vater nur an dem viel zu großen Jackett erkannt, denn es war früher sein eigenes gewesen. Bereits vor Wochen hatte er es in der Altkleidertonne entsorgt. Sein Vater musste es wieder herausgefischt haben.

Offenbar war sein Vater ebenfalls auf dem Weg zum U-Bahnhof. Was er wohl vorhatte, wen er wohl traf, womit er sich den ganzen Tag die Zeit vertrieb? Seitdem die Firma seines Vaters in der Asienkrise bankrottgegangen war, befand er sich im ungewollten Ruhestand. Zwar versuchte er immer wieder, hier und da zu arbeiten, ließ sich in naiver Gutgläubigkeit auf zwielichtige Geschäfte ein und war dann wieder enttäuscht, wenn abermals eine Geschäftsidee geplatzt war. Kyu-ho hatte mit Anfang Zwanzig die finanzielle Bürde für die gesamte Familie übernehmen müssen – was ihm eigentlich nichts ausmachte, solange sein Vater sich von dubiosen Geschäftspartnern fernhielt. Ob er wohl wieder auf dem Weg zu so einer Scheinfirma war? Kyu-ho fragte sich, was so eilig war, dass die Angelegenheit seinen Vater so früh am Morgen aus dem Haus getrieben hatte. Der Anblick seines Vaters im Jackett auf dem Weg zur U-Bahn genügte, um ihn misstrauisch zu stimmen.

Am U-Bahnhof angekommen, bemerkte Kyu-ho, dass sein Vater den Bahnsteig der Linie 1 ansteuerte. Er selbst musste eigentlich die Linie 4 nehmen. Hin- und hergerissen, trat Kyu-ho von einem Fuß auf den anderen, tat so, als studierte er den U-Bahnplan von Seoul, während er nachdachte. Er überlegte, ob er seinem Vater noch ein Stückchen folgen sollte, weil er doch zu gerne gewusst hätte, was er im Schilde führte, oder ob er es aufgeben sollte und einfach, wie geplant, zum Sportfest der Firma gehen sollte. Vielleicht würde es niemandem auffallen, wenn er ein bisschen zu spät kam. Bei hunderten von Angestellten, konnte doch sowieso niemand den Überblick behalten…

Als er die U-Bahn der Linie 1 einfahren hörte, rannte er kurzentschlossen hinunter auf den Bahnstieg und sprang in letzter Minute in den Waggon, in dem sein Vater bereits auf einem Sitzplatz für Senioren saß. Sein Vater schien ihn gar nicht bemerkt zu haben. Vorsichtshalber versteckte sich Kyu-ho hinter einer Gruppe Teenager, sodass er nicht mehr im Sichtfeld seines Vaters war, er ihn aber dennoch im Blick behalten konnte. Von seinem Stehplatz aus beobachtete Kyu-ho seinen Vater aus den Augenwinkeln. Eigentlich unterschied ihn nichts von den anderen Senioren, die alle irgendwie verloren wirkten, zwischen all den Smartphones und den Bildschirmen, über die grell-bunte Werbespots und Musikvideos von blutjungen Popstars flimmerten. Die alten Männer mit ihren runzeligen, von Altersflecken übersäten Händen, ihrem schütteren Haar und ihrem resignierten Gesichtsausdruck wirkten wie Relikte aus einer anderen Zeit, die irgendwie nicht mehr in diese bunte optimistische K-Pop-Welt passten.

Nach wenigen Stationen erhob sich Kyu-hos Vater von seinem Seniorensitzplatz. Am U-Bahnhof Jonggak stieg er aus. Kyu-ho folgte ihm, trödelte aber absichtlich, bis er genug Abstand zu seinem Vater halten konnte. Von hinten wurde er mehrmals geschubst. Leute fluchten lautstark, weil sie fanden, dass er den Weg versperrte. Kyu-ho reagierte nicht auf die Beschimpfungen, sondern konzentrierte sich nur darauf, seinen Vater nicht aus den Augen zu verlieren.

Er folgte seinem Vater auf die Straße hinauf. Sie passierten den Jongno Tower. Kyu-ho hielt den Kopf gesenkt und versteckte sich weiter hinter seiner Baseballkappe. Er befürchtete, dass sich jemand, den er kannte, zu dieser Uhrzeit in Jongno aufhielt und vielleicht auf dem Weg zu einem Meeting war im „Top Cloud“, dem schicken Restaurant im 33. Stock des Jongno Tower.

Kyu-hos Vater bog nach links ab und schritt durch ein bunt bemaltes Holztor. Tapgol Park – Kyu-ho war noch nie dort gewesen. Niemand in seiner Altersgruppe verirrte sich dorthin. Es war ein Park, in dem sich hauptsächlich alte Männer zum Janggi spielen trafen, weil sie sonst nichts zu tun hatten. Kyu-ho fragte sich, warum der Park nicht längst als Bauland freigegeben worden war. Schließlich war im Zentrum von Seoul jedes unbebaute Fleckchen Gold wert. Man hätte einen eleganten modernen Wolkenkratzer auf dem Gelände des Parks errichten können.

Kyu-ho versteckte sich hinter dem Holzpfeiler einer Pagode. „Hey, Kleiner, hast du ein bisschen Zeit für mich?“, hauchte jemand von hinten in einer gekünstelten Stimme, die wohl verführerisch klingen sollte. Kyu-ho glaubte, einen leichten chinesischen oder vielleicht auch nordkoreanischen Akzent herauszuhören. Es war eine Prostituierte, die vom Alter her bereits weit jenseits der Menopause sein musste. Erst scheuchte er sie ungehalten weg, dann lief er ihr hinterher und drückte ihr einen 10.000-Won-Schein in die Hand und sagte, sie solle sich damit etwas zu essen kaufen. Einerseits bekümmerte es ihn, dass sich ältere Frauen so erniedrigen mussten, andererseits fand er es schamlos, dass sie einsamen Männern im Park auflauerten und versuchten, ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen.

Die Prostituierte hatte Kyu-ho abgelenkt. Für einen Moment hatte er die Spur seines Vaters verloren. Sein Blick wanderte durch den Park. Er sah sich die Gesichter der Janggi-Spieler genauer an, aber keiner war sein Vater. Er schlenderte ein bisschen an den Pagoden vorbei. Dann entdeckte er seinen Vater, der zusammen mit einem anderen alten Mann in schlechtem Englisch auf ein ausländisches Mädchen einredete. Kyu-ho fragte sich, wie das Mädchen wohl im Tapgol Park gelandet war. Es schien ihm ein so abwegiger Ort für eine junge Touristin. Dann entdeckte er, dass sie ein Buch, das wie ein Reiseführer aussah, in den Händen hielt. Die Haut der Fremden war leicht gebräunt, nicht so weiß wie die der Koreanerinnen, die sich vor jedem Sonnenstrahl versteckten, und sie hatte ein Gesicht wie ein Hollywoodstar, dessen Name Kyu-ho aber nicht einfallen wollte. Ihrem Aussehen nach konnte Kyu-ho nicht erraten, woher sie kam, vermutete aber irgendwo aus Nordamerika oder Europa, vielleicht auch aus Australien.

Kyu-ho ging ein bisschen näher heran, denn er wollte ein paar Fetzen der Unterhaltung aufschnappen. Er hörte, wie sein Vater nach dem Alter des Mädchens fragte und ob es verheiratet sei. Das Mädchen antwortete ihm betont langsam und freundlich und sagte, es sei 25 Jahre alt und nicht verheiratet. Daraufhin brachen Kyu-hos Vater und der andere alte Mann in schallendes Gelächter aus und wiederholten mehrmals das Wort „Single“, „Single“, „Single“, ... Das Mädchen kicherte ein bisschen und warf ihnen einen Blick zu, aus dem Kyu-ho herauslas, dass es die beiden alten Männer gleichzeitig lustig und lästig fand. Kyu-ho schämte sich ein bisschen für seinen Vater. Wie gerne hätte Kyu-ho die schöne Fremde aus dieser unangenehmen Situation befreit. Er hatte nur zu ihr hinübergehen müssen und ihr in korrektem Englisch erklären können, dass in der Generation seines Vaters kaum jemand Fremdsprachen sprechen konnte und dass man in dieser Generation jung geheiratet hatte, weswegen auf die alten Männer eine unverheiratete 25-Jährige wie ein übriggebliebener Weihnachtskuchen wirkte. Er hätte weiter ausführen können, dass junge Koreaner heutzutage ebenfalls immer später heirateten, hätte ihr dies und das über koreanische Kultur erläutern können und sie hätte ihm ein interessiertes Ohr geschenkt und wäre vielleicht mit ihm ins „Top Cloud“ essen gegangen und hätte ihm vielleicht sogar ihre Telefonnummer gegeben, … In seiner Vorstellung spann Kyu-ho die Geschichte weiter und weiter, bis ihm auffielt, dass das ausländische Mädchen längst gegangen war und dass sein Vater und der andere alte Mann mit einem Janggi-Spiel begonnen hatten.

Kyu-ho wandte sich ab, verließ den Park und machte sich auf den Weg zum Sportfest seiner Firma.

Vera Hohleiter

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freiVERS | Lea Sauer

Schlaf ist eine bittere Körnung

2

Bettkasten ein Paravent nackter Schlaf nur Schleim verbittert spätestens vier Uhr nachmittags horizontal eine Körnung im Kopf keine Luft Frische Schwüle an den Wänden an der Decke legt sich herab vor allem auf die Jochbeine drückt sich der Nachtdruck will nicht verschwinden.

Lea Sauer

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