freiTEXT | Adrian van Schwamen
Sommersprossen
„Was kostet die hier?“, wollte Clara wissen und reichte einem in sein Buch vertieften alten Mann eine Puppe über den Flohmarkttisch. Der Mann schien das kleine Mädchen im dichten Gedränge vorbeilaufender Schnäppchenjäger jetzt erst bemerkt zu haben. Er richtete sich in seinem Klappstuhl auf. Sein Blick wanderte von seinem Buch über die Puppe hin zu dem Mädchen.
„Die verkaufe ich dir nicht.“
„Warum legen Sie sie dann hier hin, wenn sie nicht verkauft werden soll?“, fragte Clara trotzig.
„Oh, sie soll verkauft werden“, sagte der alte Mann und lehnte sich im Stuhl nach vorne. „Aber ich werde sie nicht dir verkaufen.“
„Warum nicht?“
„Nun ja“, begann der alte Mann, „sie passt doch gar nicht zu dir.“
„Aber ich finde sie schön“, sagte Clara und strich mit ihrer sommersprossengesprenkelten Hand durch die blonden Haare und über die gleichmäßig gewebte Haut der Puppe.
„Und ich finde die hier schön, Moment…“, sagte der Mann, zog einen Karton unter dem Tisch hervor und begann darin zu kramen.
„Hier ist sie!“, sagte er und legte eine weitere Puppe zwischen sich und das Mädchen. Es war eine dieser Porzellanpuppen, wie Clara sie schon oft bei ihren Großeltern in einer Vitrine gesehen hatte. Sie hatte flammend rotes Haar und ihre Haut war mit hellroten Punkten übersät. Ihre kleine Jeanslatzhose war bereits stark ausgeblichen und ausgefranst.
„Die ist alt. Und hässlich“, protestierte Clara.
„Keinen Tag älter als ich“, sagte der Mann und schenkte Clara ein knittriges Lächeln. „Und bei hässlich muss ich aber ganz stark widersprechen.“
„Sie ist fleckig“, sagte Clara.
„Du bist auch fleckig“, erwiderte der Mann.
„Rote Haare, Sommersprossen, sind des Teufels Artgenossen“, singsängelte Clara und nahm die Porzellanfigur vorsichtig in die Hand.
„Wo hast du denn so einen Blödsinn her?“, fragte der Mann und warf seine Stirn in etliche Falten.
„Das sagen sie in der Schule manchmal zu mir.“
„Wer?“
„Die anderen.“
„Ach, was wissen die anderen schon?“, sagte der Alte und winkte ab, als wolle er einen aufdringlichen Gedanken verscheuchen. „Die kennen vermutlich nicht die Geschichte von Lylithia, der Kriegerkönigin.“
Clara schaute den Mann herausfordernd an.
„Kennst du denn die Geschichte?“, fragte er schließlich.
„Nein“, erwiderte Clara.
„Das gibt’s doch nicht! Na, dann nimm Platz und hör mal zu“, sagte der Mann und wies auf einen kleinen Schemel, der einem Karton mit alten Platten als Podest diente. Clara wuchtete den schweren Kasten auf den Boden und setzte sich.
„Also, die ganze Geschichte von Lylithia wäre lang genug, um für Stunden darüber zu sprechen. Lange vor unserer Zeit, sogar noch lange bevor die Ägypter an den Bau der Pyramiden denken konnten, war Lylithia die Königin vom inzwischen versunkenen Kontinent Greadria. Sie war der erste Mensch, der es geschafft hatte, die unzähligen kriegerischen Stämme, die den Kontinent bevölkerten, miteinander zu versöhnen und zum Frieden zu bewegen. Von der Stadt Genephilaes aus, die sie selbst gegründet und der sie zu ihrer Größe verholfen hatte, herrschte sie liebevoll, aber konsequent über das Land. Ihr Weg dahin war allerdings kein leichter. Unzählige Kämpfe hatte sie austragen müssen, um sich Respekt zu verdienen in einer Gesellschaft, die sich am besten in der Sprache der Gewalt verstand. Und jeden Sieg hatte sie mit einem kleinen Brandmal auf ihrer Haut bezeugt, um sich stets selbst vor Augen rufen zu können, wie weit sie gekommen war. Zunächst noch an Stellen, die niemand sehen konnte, hatte sie irgendwann auch auf Beine, Arme und schließlich ihr Gesicht ausweichen müssen, um jeden einzelnen Sieg auf die gleiche Weise wertzuschätzen. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht war ihr Körper schließlich fast gänzlich mit den kleinen Malen überzogen, und jedes Einzelne erzählte eine eigene Geschichte.
Diese Male, so erzählt man sich, gab sie weiter an ihre Tochter, die bereits mit einem mit kleinen Punkten gesprenkelten Körper auf die Welt kam. Und auch deren Töchter besaßen die Male der Kriegerkönigin Lylithia. So wurden sie Generation um Generation weitergegeben. Manchmal weniger ausgeprägt, einige kamen mehr nach ihren Vätern, und manchmal dann wieder so deutlich, wie es bei dir der Fall ist. Das auf deiner Haut sind nicht irgendwelche Flecken, es sind die Geschichten von den großen Taten Lylithias, getragen durch die Zeit auf der Haut ihrer Nachfahren, um diese daran zu erinnern, wozu sie in der Lage sein können.“
„Das haben Sie sich doch ausgedacht“, sagte Clara und sprang vom Schemel auf.
„Wenn du das denken möchtest“, sagte der alte Mann und hielt Clara die Puppe entgegen. „Möchtest du sie dennoch haben?“
„Sie bekommt heute nichts“, sagte die Stimme einer Frau, die plötzlich neben ihnen aufgetaucht war. „Kinder, die sich prügeln, bekommen nichts. Komm, dein Vater sucht auch schon nach dir.“
„Du hast dich geprügelt?“, fragte der alte Mann.
„Nein…“, sagte Clara.
„Aber du warst kurz davor. Entschuldigen Sie, dass sie Sie belästigt hat“, sagte die Frau und schob Clara sachte vor sich her.
„Einen Moment!“, sagte der alte Mann und beugte sich über den Tisch. „Dann nimm wenigstens das, es ist ein Geschenk. Deine Mutter sollte nichts dagegen haben.“
„Ein Stift?“, fragte Clara.
„Den kannst du gleich Zuhause nutzen, um deine Entschuldigung an Damian zu schreiben“, sagte ihre Mutter, nahm den Stift und steckte ihn ihrer Tochter in die Manteltasche.
„Dafür wird er sich nicht eignen“, sagte der Alte an Clara gewandt, „Er schreibt in einem Karamellton, in etwa wie die Farbe deiner Flecken.“
Bevor Clara sich weiter darüber wundern konnte, wurde sie von ihrer Mutter davongezogen.
„Aber pass auf“, rief ihr der Mann noch hinterher. „Die Farbe geht nicht wieder ab!“
*
„Sie hat was getan?“, schnaufte Claras Mutter zornig ins Telefon und wandte sich um. „Ulrich, unsere Tochter hat Damian heute die Nase gebrochen.“
„Ist Damian nicht zwei Köpfe größer als sie?“, fragte Claras Vater und schaute von einem laut arbeitenden Laptop auf. „Wahnsinn Schatz, wie hast du das denn geschafft?“
„Mit der Faust“, erwiderte Clara. Auf einem hohen Hocker an einem Tresen sitzend gab sie eifrig vor, ihre Hausaufgaben zu machen, während ihr Vater neben ihr gleiches mit seiner Arbeit tat. „Er hat mich geärgert.“
„Bravo, meine Süße“, sagte ihr Vater, strich Clara über den Kopf und wandte sich wieder dem Laptop zu.
„Du heißt das doch nicht etwa gut?“, sagte Claras Mutter entrüstet.
„Dass unsere Tochter sich zu wehren weiß?“, erwiderte Claras Vater.
Ihre Eltern stritten noch eine ganze Weile. Clara malte sich mit ihrem neuen Stift indes füßebaumelnd einen kleinen, karamellfarbenen Punkt zwischen zwei Sommersprossen auf ihrem Unterarm. Als die Farbe getrocknet war, fiel der Unterschied zu den anderen Punkten nicht mehr auf. Man könnte meinen, er war nicht mal mehr vorhanden.
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