21 | Marie Menke
Handschuh in Handschuh
Auf Weihnachtsmärkten küsst es sich gut, sagst du.
Ich entgegne dir: Der Glühwein ist mir zu bitter.
Auch auf meiner Zunge?
Ich probiere davon und nicke. Auch auf deiner Zunge.
Wir bahnen uns durch die Menge, Handschuh in Handschuh, und ich erhasche im Vorbeigehen einen Blick auf unsere roten Wangen, wie sie sich spiegeln in der Weihnachtskugel, ganz oben in der Zweigkrone eines Tannenbaums, o Tannenbaum. Ich würde deine Hand gerne loslassen, aber möchte dich nicht verlieren.
Ich kauf dir ein Lebkuchenherz, sagst du.
Ich entgegne dir: Die sind mir zu süß.
Darf ich dir was anderes schenken?
Ich stecke meine Hände in die Taschen.
Von den Lichterketten der Buden wachsen Eiszapfen zu uns herunter. Mir läuft die Nase, mein Atem zeichnet sich weiß wie Zuckerwatte in der Winterluft ab und die Waren glitzern. Morgen kommt der Weihnachtsmann, dabei mag ich keine Geschenke von Männern, auch nicht von solchen, die ich liebe, erst recht nicht von dir.
Ich schaue dich schniefend an, deine Augen groß wie die des Nussknackers, und stecke meine linke Hand mit meinem zusammengeknüllten Papiertaschentuch darin in deine Jackentasche. Meine Finger wandern in das Innere deines Handschuhs, legen sich auf deinen Handrücken und reiben sich an dem kratzigen Fell, eine geschenkte Wärme, für die ich nicht einmal einen Glühweinkuss eintauschen musste.
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Marie Menke
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Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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freiTEXT | Marie Menke
Mutter im Wind
Sie schaffe es nicht rechtzeitig, sagt meine Mutter am Telefon, als sie zu Besuch kommt. Ihr doppelter Espresso seien maximal eineinhalb, sie bestelle noch einen.
Wo sie denn sei, frage ich.
Im Café am Rathaus.
Ich gebe das Rathaus in Google Maps ein. Elf Minuten zu Fuß.
Eigentlich liege ihre Verspätung an der Sonne, fügt meine Mutter hinzu.
Ich wühle in meiner Tasche. Ohne Creme ließ sie mich früher nicht einmal in den Garten.
Ob sie Lichtschutzfaktor 50 dabei habe, frage ich.
Ja, ja, antwortet sie, die Vokale so kurz, ich kann hören, wie sie abwinkt.
Dann könne sie ruhig durch die Sonne laufen, sage ich.
Es sei gerade so schön, sie könne noch nicht los, sagt sie.
Ich sei aber schon da.
Ich könne ja rüberkommen.
Als meine Mutter beschloss, mich zu besuchen, schrieb ich meinem Bruder, er müsse mitkommen. Weil ich nicht sicher war, ob er verstand, rief ich gleich danach an, und damit er sah, dass ich es ernst meinte, schaltete ich die Kamera ein.
Andernfalls würde Mama verloren gehen, sagte ich, sich von den Zeugen Jehovas anquatschen lassen, ins falsche Flugzeug einsteigen oder sich im Reisebüro über den Tisch ziehen lassen. Ich machte mir Sorgen.
Niemand buche mehr im Reisebüro, entgegnete mein Bruder.
Mama schon.
Ich beobachtete, wie es in seinem Kopf ratterte.
Sie sei doch erwachsen.
In der letzten Zeit sei sie manchmal wie ein Kind.
Mein Bruder grinste verschmitzt.
Ob er also dabei sei, fragte ich.
Er nickte.
Es gibt viele und keine Cafés am Rathaus. Viele in dem Viertel drumherum, keine in der unmittelbaren Umgebung.
Doch, doch, sagt meine Mutter am Telefon, ob ich denn noch nie im Rathaus gewesen sei.
Ich verneine.
Was ich denn an den Samstagabenden mache?
Ich gebe erneut das Rathaus in Google Maps ein und lasse mir den Weg zur gleichnamigen Kneipe ausgeben. Dreizehn Minuten zu Fuß.
Da könne sie mir entgegenkommen, sagt meine Mutter.
Ich muss daran denken, wie sie mir nachts entgegenkam, wenn ich als Jugendliche betrunken nach Hause lief.
Wo ich denn sei, fragt sie.
Am Rathaus, antworte ich.
Mein Bruder durfte nicht mitkommen.
Unsere Mutter gluckste vergnügt, als sie auf einer selbstgedrehten Videobotschaft erklärte, dass sie allein fliegen würde. Sie habe viel gearbeitet dieses Jahr, sie habe Lust auf Abenteuer, sie habe sich Zeit mit ihrer Tochter verdient. Damit sie keinen Punkt vergaß, las sie von einem wiederverwendeten Einkaufszettel ab.
Auf dem Korbstuhl neben ihr saß mein Vater, hatte keinen Text zugewiesen bekommen und grinste verschmitzt.
Er würde dafür mit meinem Bruder ins Stadion gehen, schrieb er anschließend. Damit Timon nicht enttäuscht sei.
Später erfuhr ich, dass mein Bruder die Karten längst gekauft hatte.
Weit kommt meine Mutter trotz dreifachem Espresso nicht. Ich finde sie neben der Rathaus-Kneipe, die Hände auf den Griff ihres Rollkoffers gestützt, dunkelrote Jack-Wolfskin-Jacke, ein Rock aus Leinen. Für den Kindergarten nähte sie mir auch so einen. An den Füßen trägt sie Sandalen aus schwarzem Leder mit einer türkisen Schnalle. Für den Urlaub gekauft, vermute ich, den Krampfadern zum Trotz.
Ihre Gestalt ist schmal und etwas schief, aus der Entfernung sieht sie aus wie eine Fahne im Wind und ich habe Angst, dass sie weggeweht ist, wenn ich blinzle. Als sie mich umarmt, fühlen sich ihre Arme dünn wie Streichhölzer und ihre Begrüßung wie ein Zuhause an.
Auf dem Weg zum Hotel biete ich an, ihren Rollkoffer zu ziehen, und sie gestikuliert, um mich davon abzuhalten. Ich schiebe sie samt Koffer sanft auf den Fußgängerweg, dann mich auf die Seite der Autos. Sie begutachtet die rosa Häuserfassaden zu ihrer Rechten und geht bei Rot über die Straße. Als sie vor ihrem Hotel auf mich wartet und ich auf der anderen Straßenseite auf die nächste Grünphase, ist sie atemlos, aber hält sich den Bauch vor Lachen über meine Vorsicht.
Die Frau an der Rezeption kann keine Buchung auf den Namen meiner Mutter finden.
Ob sie eine Buchungsbestätigung habe, fragt sie.
Meine Mutter verneint.
Die müsse sie aber bekommen haben.
Meine Mutter erinnert mich daran, dass es meine Idee war, im Internet zu buchen.
Ich verstehe den Zusammenhang nicht.
Meine Mutter gluckst wieder, etwas weniger vergnügt. Die Webseite habe sie aufgefordert, sich für einen Newsletter anzumelden, das habe sie nicht gewollt, da habe sie das Internet einfach geschlossen, vielleicht läge es daran.
Was sie dann gemacht habe, will ich wissen.
Nichts, antwortet meine Mutter. Sie habe ja kein zweites Hotelzimmer buchen wollen.
Die Frau an der Rezeption holt ein Formular aus einer Schublade und nimmt die Buchung auf.
In ihrem Zimmer möchte meine Mutter sich kurz hinlegen und schläft prompt ein. Ich lege mich neben sie und schreibe meinem Bruder, dass sie gut angekommen sei. Er schickt einen Daumen hoch-Emoji zurück.
Nach dem Aufwachen sind ihre Pupillen klein und die Falten um ihre Augen tief. Sie sagt, sie wolle nicht, dass ich später allein nach Hause fahre und bezahle mir lieber das Taxi. Ich erwidere, dass ich ständig allein Straßenbahn fahre. Sie trinkt aus meiner Metallflasche, sagt, das Leitungswasser sei schlecht, und verschwindet im Bad.
Bevor wir gehen, wasche ich ihr mit Daumen und Spucke einen Zahnpastarest von der Wange. Als ich klein war, gab sie vor, von dem Weiß meiner Zähne geblendet zu werden, wenn ich besonders lange putzte. Ihre Haut fühlt sich weich unter meinem Finger an und riecht aus der Nähe nach Lavendel.
Sie frage sich, ob ihr das bei Vorstandssitzungen auch passiere, aber niemand sich traue, sie darauf hinzuweisen, sagt sie.
Ich vermute es.
Wir gehen die Einkaufsstraße herunter, sie schaut in alle Fensterläden und ich hake mich unter, damit ich sie nicht verliere. Im Restaurant verkaufe ich ihr billigen Rotwein mit Zitronenlimonade und Eiswürfeln als lokale Spezialität. Zu meiner Überraschung schmeckt ihr die süßliche Schorle, aber nicht der Dip, der mit Brot als Vorspeise serviert wird. Aus der Bauchtasche um ihre Hüfte holt sie ein Glas Bio-Kichererbsen-Aufstrich aus dem Reformhaus, öffnet die Dose und tunkt eine Scheibe hinein.
Ich trete unter dem Tisch gegen ihr Schienbein und sage vorwurfsvoll, sie könne nicht ihren aus Deutschland mitgebrachten Aufstrich auf den Tisch stellen.
Sie habe ihn ja nicht auf den Tisch gestellt, sagt meine Mutter und hält ihn mir hin.
Ich lehne ab.
Traust du dich nicht, was?, sagt sie und kichert.
Als der Kellner fragt, ob wir getrennt oder zusammen zahlen, schweige ich.
Meine Mutter holt ihre Geldbörse aus der Bauchtasche und ich sehe die umgetauschten Scheine, sehe, dass der Kellner sie ebenso zählt, und sage, sie solle mit Karte zahlen.
Umständlich hält meine Mutter die Karte an alle Seiten des Lesegeräts.
Ob sie einen Beleg bräuchte, fragt der Kellner.
Ich nicke.
Meine Mutter schüttelt peinlich berührt den Kopf. Sie vertraue dem Kellner, sagt sie zu mir.
Darum gehe es nicht, sage ich.
Meine Mutter lächelt beschämt, nickt dann doch, zwinkert dem Kellner zu und sagt, para mi marido.
Der Kellner stellt ihr einen Beleg aus und lacht über die deutsche Frau in der Regenjacke, die Reisekostenabrechnungen bei ihrem Mann einreicht.
Ich frage mich, ob er ihr ansieht, dass es eine Lüge ist, aber bin zu verblüfft, um zu fragen.
Auf dem Weg nach draußen weht der Nachtwind unter ihren bodenlangen Rock. Ich habe noch nie so schmale Fußgelenke gesehen, denke ich. Meine Mutter wippt bei jedem Schritt, winkt dem Kellner von draußen zu, er winkt zurück.
Vor der Tür erklärt sie mir, dass ich sie nicht zurück ins Hotel bringen müsse.
Ob sie mobile Daten habe, frage ich.
Was das sei, will sie wissen.
Ich beschließe mit ihr zu gehen.
Sie könne sich durchfragen, sagt sie noch, sie haben das früher bei Reisen immer so gemacht.
Ich höre nicht hin und erkundige mich stattdessen besorgt nach ihrer Hüfte.
Oma und Opa hätten sie damals auch mal im Ausland besucht, sagt meine Mutter.
Ich frage, ob es inzwischen einen Termin für die Operation gebe.
So eine Reise sei damals sehr aufregend gewesen, sagt sie.
Im Hotelzimmer funktioniert das Licht nicht. Es dauert, bis meine Mutter versteht, dass ihre Türkarte eingesteckt sein muss, damit der Kreislauf funktioniert. Dann macht sie sich daran, die Klimaanlage einzustellen. Ich sitze auf der Bettkante und suche im Handy nach der nächsten Straßenbahn nach Hause. Neun Minuten zu Fuß, dreizehn in der Bahn, nochmal drei zu Fuß.
Es sei schön, allein zu schlafen, sagt meine Mutter und legt ihr Nachthemd auf das Kopfkissen.
Ich würde mich gerne danebenlegen, um neben ihr aufzuwachen, wie früher, wenn mein Vater verreist war.
Ich sage, dass ich noch nie darüber nachgedacht habe, dass sie zuhause nie allein schlafe.
Mein Taxi sei da, sagt sie.
Ich habe keins bestellt.
Meine Mutter hebt die Jalousien vor dem Fenster mit dem knochigen Zeigefinger an. Ich aber, sagt sie stolz.
Zum Abschied ist ihre Umarmung flüchtiger als ihre Begrüßung es war.
Ob ich sie morgen früh wieder abhole, fragt sie, die Stimme hell vor Aufregung, als ich die Türklinke schon in der Hand halte.
Ich schmecke Anti-Falten-Creme auf meinen Lippen, nachdem ich ihr einen Kuss auf die Wange drücke.
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