freiTEXT | Elísa Lovísa

Lebensretter

Kondome in allen Farben kleben unentrollt auf einer Glaskugel, die von innen beleuchtet ist und sich dreht. Dazu ertönt Musik von ausschließlich schwulen Künstlern, von António Variações bis hin zu Gaahl von Gorgoroth. Die bunten Schatten gleiten über die Wand und verbreiten dabei frivole Tanzatmosphäre.

Es ist mein 18. Geburtstag und ich befinde mich auf der Ausstellung meiner zehn Jahre älteren Schwester. Es stimmt nicht ganz, dass es ihre Ausstellung ist – sie gehört zu einem kleinen Künstlerkollektiv, das hier für zwei Monate seine gesammelten Werke zeigt. Ich bin stolz auf sie.

Ihr Freund und Kollaborateur Haq schenkt mir Sekt nach und singt aus vollem Hals das Lied von Judas Priest mit, das gerade läuft. Die Stimmung ist erstaunlich ausgelassen dafür, wenn man bedenkt, dass sich bei der Eröffnung vor zwei Tagen ein kleiner Skandal ereignet hat. Nun, es war eher einen Tag später, denn eine der anwesenden Journalistinnen hat sich bei der Pressebegehung der Räume nichts anmerken lassen und am nächsten Morgen einen empörten Artikel in ihrem Blatt drucken lassen, der ordentlich Aufsehen erregt hat. Jetzt strömen die Leute nur so in das bescheidene Kunsthaus unserer kleinen Stadt.

Ich habe mich ohnehin gewundert, warum das Kollektiv um meine Schwester ausgerechnet hier ausstellen will, das ist doch viel zu abgefahren für dieses Provinznest, wo in der Regel nur die Arbeiten von Rentnerinnen gezeigt werden, die einen Kurs in impressionistischer Malerei besucht haben. Gelegentlich auch Schwarz-Weiß-Fotos von Schülerprojekten, in denen ein Lehrer seinen Schützlingen beigebracht hat, wie man den Film selbst entwickelt.

Das hier war eher etwas, das man in Berlin oder Köln vermuten würde. Aber das Kollektiv beharrte darauf und meine Schwester sprach sogar davon, dass es besonders hier nötig wäre. Jeder solle Zugang zu Kunst haben, meinte sie, und fügte etwas vage hinzu, dass die Inhalte nicht rein für Großstädter wären und auch hier sicher Menschen berühren würden. Sie sollte Recht behalten haben.

Am Tag nach der Eröffnung war nun also der Teufel los, der ganze Landkreis schien von der Ausstellung gehört zu haben, über sie zu sprechen, sie sehen zu wollen – trotz des meiner Meinung nach eher einfallslosen Titels „Re:Produktion“, der nicht danach klang, als könne er unsere Mitbürger zu Scharen ins Kunsthaus locken.

Der tatsächliche Höhepunkt der bisherigen Resonanz aber war der Brief, den jemand wohl noch in der Nacht unter der Tür durchgeschoben und den die Aufsicht heute Morgen beim Aufschließen erst gefunden hatte.

Er wird gerade an der Wand angebracht, mitten im Raum, der dem Projekt gewidmet ist, für das meine Schwester hauptverantwortlich zeichnet und das „Innigkeiten“ heißt.

Eigentlich liegt im Kollektiv das Urheberrecht immer bei der Gruppe. Genau dieses Projekt aber war so persönlich, dass meine Schwester fast ganz allein daran gearbeitet und dafür den Künstlernamen „Roe v. Wade“ gewählt hat. Was wie ein exzentrischer Adelsname klingen mag, ist in Wahrheit die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, der dort damals die Abtreibung legalisiert hat. Und davon handelt ihr Projekt. Unglücklicherweise war sie auf dem Bild zu sehen, das in der Zeitung abgedruckt war, allerdings nur mit diesem Künstlernamen, an den übrigens auch die Morddrohung gerichtet ist, die nun als vielsagendes Zusatzexponat die Ausstellung bereichert.

Auf die Frage meiner Mutter, ob sie damit nicht zur Polizei gehen wolle, winkt meine Schwester ab. Sie wirkt alles andere als eingeschüchtert und sieht die Nachricht eher als Beweis dafür, wie wichtig die Ausstellung sei, wie sehr sie es geschafft habe, die Menschen an wunden Punkten zu treffen. Auch wolle sie keinesfalls der Absicht nachgeben, sie zum Schweigen zu bringen. Sie kündigt sogar an, weitere Morddrohungen an derselben Wand zu sammeln, sollten noch mehr eintrudeln. Diese Reaktion, die ihrer Auffassung nach ausgezeichnet die Widersprüchlichkeit sogenannter „Pro Life“-Aktivisten einfängt, rundet das Gesamtwerk noch besser ab.

Zum diesem gehören unter anderem eine Modellstadt voller Abtreibungskliniken, zwischen denen die schwangere Maria in Begleitung von Josef auf Modelleisenbahnschienen hin und her pilgert, ohne Einlass zu erhalten, während im Hintergrund das Lied „Mary Never Wanted Jesus“ von Thee Majesty läuft. Des Weiteren lässt sich in der Mitte des Raumes ein großer Globus finden, dessen Kontinente dicht an dicht gedrängte Playmobilmännchen bevölkern, während seine Ozeane komplett mit Plastikteilchenmosaiken überzogen sind. Darüber schwebt ein Storch mit einem Bündel im Schnabel.

Es gibt eine kleine Wackelkopffigur des aktuellen Papstes, die mit einer Sprechblase verkündet, dass allen Frauen, die von ihrem Partner zu einer Abtreibung gezwungen wurden, vergeben wird, während ein Pappmaché-Jesus sich nebendran um den Andrang an vom Papst ignorierten und zurückgelassenen Frauen kümmert. An einer Wand thront über einer altarähnlichen Vorrichtung ein ikonenhaft stilisiertes Gemälde von Kristina Hänel, jener Ärztin, die angeklagt wurde, weil sie über Abtreibungen aufklärte, und die auf dem Bild das selige Lächeln einer Heiligen trägt.

Außerdem hängt da noch eine chinesische Flagge, vor der eine Waage steht, eine Schale befüllt mit Männlichkeitssymbolen, die andere, deutlich schwerere, mit dem weiblichen Pendant, entsprechend der dortigen Abtreibungsstatistik. Eine Klanginstallation mit einem Chor brasilianischer Frauen, die dafür beten, dass ihre Abtreibung unentdeckt bleibt, kann man sich ebenfalls anhören.

Meine Schwester eben – die ganze Welt muss repräsentiert sein, zumindest annähernd.

Zitate zum Thema Schwangerschaftsabbruch aus der ganzen Weltliteratur wie aus internationalen Geschichts- und Gesetzesbüchern zieren die Wände; Adichie, Márquez und zig andere.

Aber das sind die politischen, die offensichtlichen Werke. Ohne die ginge es nicht, meint meine Schwester, und mich beschleicht das Gefühl, sie hat kein Vertrauen in die Interpretationsfähigkeit der Leute hier – vielleicht zurecht. Allerdings wunderte ich mich anfangs sehr, ist ihr Stil doch sonst eher subtil, scheut geradezu jede Erwähnung tagesaktueller Themen und Namen, verwehrt sich allem Konkreten, meidet das allzu leicht Verständliche.

Und zwischen den aufmerksamkeitsheischenden Werken verstreut liegen diese Inseln der Introspektion, die persönlicheren Exponate meiner Schwester.

Von ihrer eigenen Abtreibung vor sechs Jahren hat sie mir vor Kurzem erst erzählt; unsere Eltern wissen es schon längst. Bemerkenswert an ihren Erlebnissen, ihrer Erzählung war vor allem der Umstand, dass die meisten beteiligten Frauen – Frauenärztin, Abtreibungsärztin – sich laut meiner Schwester eher als unsensibel bis repressiv erwiesen, während die Männer – der Berater bei Pro Familia, der Narkosearzt – wesentlich verständnisvoller, urteilsfreier und warmherziger reagierten. Warum das so war, darüber kann man allerhand Mutmaßungen anstellen, aber meiner Schwester erschien dieser Fakt sehr erwähnenswert.

In den Bildern, Installationen und Skulpturen, die inmitten der Provokationswüste stehen, liegen all die Leeren und Erblühungen, die meine Schwester seit der Zeit mitgemacht hat, ihre Verknüpfungen zu dem Ereignis mal mehr, mal minder stark. Das Wahnsinnige daran ist, dass ich diese spüren, nachfühlen kann, durch ihre Geschichten, durch ihre Kunst. Wie ein Echo kommt es bei mir an, ein Echo, dessen Schwingungen mich umwerfen.

Der Bauch als Körperhöhle, Lebensraum, Gefängnis. Verengung der Welt, Verengung des Seins, Reduktion auf ein paar wenige Organe. Allumfassende Angst, ungeheures Wachsen um einen herum von Aufgaben, Erwartungen, Druck und Zwängen. Die Verbindung bleibt tot, körperlich vorhanden, doch nicht fassbar, keine Vorfreude, keine Mamamutation, kein Rühren einer neuen Wesenshaftigkeit. Nichts. Zukunftssorgen, Geldsorgen, Planetensorgen, erdrückende Machtlosigkeit, und das Selbst ist immer noch zu schwach, um ein weiteres, ein anderes Bewusstsein zu erschaffen, zu halten, zu leiten. Welt- und Lebensfülle schwinden.

Die Entscheidung kostet Mut und Überwindung, Stigmata, die bluten, Hinterfragen der Beseelung aller Dinge, eines Jenseits, einer Transzendenz. Diese Unklarheiten, die schon immer welche waren und es auch bleiben werden.

Danach jedoch: weinende Wiedergeburt, Erleichterung, himmelhochjauchzend! Befreiung, Wärme, Dankbarkeit. Möglichkeiten, die erwachen, daneben Trotz – Kampf mit der Meinung der Leute, die richten, die nicht wissen, die Schuld suchen und Ausreden, um ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Was gegen den eigenen Willen geschieht, soll gut sein, gottgewollte Überforderung. So oder so nichts als Strafe.

Es gibt Monate, wo sie nach Gefühl ringt, gegen die vernichtende Feindlichkeit, die Bitterkeit und Vorhaltung der Leute, sie kämpft um jede Empfindung.

Aber sie hat sich behauptet, sich gerettet, hat gelernt, dankt denen, die ihr das Leben wiedergeschenkt haben, ist in der Zeit gewachsen und erstarkt.

Kontrovers mag es sein, aber meine Schwester sagt genau das: Dass der Akt der Abtreibung der Moment war, in dem sie sich selbst gebar, die Auslösung eines tiefgreifenden Entwicklungsprozesses, das Ergreifen von Kontrolle und Selbstbestimmung mehr als je zuvor. Ein Ergründen der eigenen inneren Umstände. Und davon zeugen ihre Exponate.

Es überrascht mich, wie viele ältere Frauen da sind, die überaus emotional reagieren – manche, weil sie damals zu mitunter gefährlichen Abtreibungspraxen gezwungen wurden, manche, weil sie dies heimlich allein unternommen hatten, aber ihr Geheimnis mit niemandem teilen konnten, und manche, weil sie gezwungen waren, Familien zu gründen und ihnen dadurch viele Chancen verwehrt blieben, viele ihrer Träume platzten. „Kostenlos, sicher, legal“ war früher eben noch undenkbarer als heute.

Meine Schwester steht wie eine Triumphsäule inmitten ihrer sichtbar gemachten Verletzlichkeiten, ihrer Erschöpfungen und Erschaffungen, beobachtet die Menschen, die sich in diesen selbst erkennen und sie mit ihren Gefühlsregungen umbrausen, umtosen, bestürmen.

Sie ist mehr als zufrieden, sie ist im Frieden mit sich, vertraut sie mir an, und sogar mit den Absendern der Drohbriefe. Sie weiß, dass diese vermutlich keinen Fuß in die Ausstellung setzen und wahrscheinlich nie ihre Meinung ändern werden. Aber ihre Haltung spricht von anderen Ängsten, die dem Kollektiv Inspiration für die nächste Ausstellung geliefert haben. Meine Schwester sprüht momentan vor Tatendrang und Revolutionslust, Ideen vermehren sich stündlich. Der Angstabbau, der Schamnachlass, die Besinnung auf die eigenen Kräfte – in ihr knospen hundert neue Welten, alte erglühen wieder. Sie war so klein und schwach und verunsichert zwischendurch, erzählt sie mir, und jetzt ragt sie ins Leben, überblickt alles, weitsichtig, klarsichtig, clairvoyant.

Ein neuer Künstlername für ein neues Projekt ist geboren, meine Schwester strahlt, sie will und wird aufgehen wie eine verschlossene Blüte, eine goldgießende Sonne.

Lächelnd drückt sie sich an mich und überreicht mir mein Geschenk: ein Ring aus rotem Glas mit vier weißen Streifen, ein Rettungsring. Er ist ein Symbol: die Zusicherung von Hilfe und Unterstützung, die Erinnerung an meine eigene Stärke, und zugleich Dank, denn der Gedanke an mich und meine Zukunft hat sie durchhalten lassen, die Vorkämpferin, die Mutentbrannte.

 

Elísa Lovísa

 

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freiVERS | Max Rauser

nur was zerbrochen ist, ist sichtbar

das halbe haupt gehoben
nur was zerbrochen ist, ist sichtbar
vom stamm die rinde weggeschoben
das licht in fahlen dunst zerstoben
die splitter hoch erhoben
nur was zerbrochen ist, ist sichtbar

das glas geworfen an die wand
nur was nicht nutzbar ist, ist sichtbar
ein siegel auf dem lockren land
ein haken in der flachen hand
ein becher liegt im feinen sand
nur was nicht nutzbar ist, ist sichtbar

im trommelfell ein leichter riss
nur was verwundet ist, ist sichtbar
hinterm ohr ein tiefer biss
im gesicht ein alter schmiss
auf dem thron ein fliegenschiss
nur was verwundet ist, ist sichtbar

 

Max Rauser

 

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24 | Katharina Ferner

lunzt (na)
umadum
riahst (di)
wözt (di)
drahst (mi)
schlawinast
heast (na)
sog amoi
wia warats
won wia a wengal efta
lunzn taadn

 

Katharina Ferner

 

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23 | Andreas Hippert

Alter

Im Apfelgarten
von den Jungbäumen
unbeachtet
die er seit Äonen
unter den Fittichen seiner Äste behütete
unscheinbar
zwischen der Blütenpracht
der prallenden Bäume
stand er
in seinen fruchtlosen Jahren
unsichtbar geworden
viele Winter lang
bevor ihn
das Eis zerbrach.
Darniederliegend
erblühte er
letzte Äpfel.

 

Andreas Hippert

 

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22 | Caroline Wolfram

Für Weihnachten nach Hause fahren

Zuhause ist, wo die Familie ist. Weihnachten ist die Zeit des Friedens und des Vergebens.

Die mit Zitaten gespickte Pinnwand im Wohnzimmer meiner besten Freundin starrt mich bedrohlich an und weil ich nicht nur ängstlich sondern auch konfliktscheu bin und mich nicht mit der geballten Weisheit dieser Korktafel anlegen will, kaufe ich mir ein Zugticket nach Hause. Der Heilige Abend ist nur noch ein paar Stunden entfernt, als meine Füße den Boden meines Heimatortes zum ersten Mal seit drei Jahren wieder betreten. Außer mir steigt sonst niemand hier aus dem Zug aus. Und auch niemand ein. Eine seltsame Ruhe erfüllt mich. Nach all der Zeit ist hier doch immer noch mein Zuhause. Statistisch gesehen habe ich hier die meisten Stunden meines Lebens verbracht und auch wenn diese Erkenntnis, nach allem was vorgefallen ist, nicht viel Wert besitzt, so wiegt sie mich dennoch in der Sicherheit, die Bekanntes immer mit sich bringt.
Ich gehe langsam vom Bahnhof in Richtung der Wohngegend meiner Eltern. Es ist bereits dunkel und einzelne Schneeflocken purzeln in froher Erwartung im Licht der Straßenlaternen auf den Asphalt. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Aus den Geschäften, die die Straße links und rechts säumen, blinken bunte Dekorationen um die Wette und grelle Schilder machen auf den Winterschlussverkauf, der in ein paar Tagen starten wird, aufmerksam. Doch als ich geradeaus blicke fällt mein Blick unweigerlich auf den großen Weihnachtsbaum, der wie ein Wächter vor dem Rathaus steht. Majestätisch überstrahlt er all den anderen Kitsch und versetzt mich zurück in meine Kindheit. Als alles noch einfacher, besser war. Einen Moment lang lasse ich mich von diesem Gefühl einlullen. Mit Mama und Papa eislaufen gehen. Maroni essen. Hand in Hand von einem Stand auf dem Christkindlmarkt zum nächsten spazieren. Vor dem großen Baum ist eine Krippe aufgebaut. Maria, Josef und alle anderen Protagonisten bewachen fromm das Jesuskind, während aus einem Lautsprecher wunderschöne Weihnachtslieder erklingen, die mich wünschen lassen, dass nur ein winziger Funke katholischen Glaubens in mir übriggeblieben wäre, um die Musik in ihrer radikalsten Form genießen zu können.
Doch ich folge dem Straßenverlauf weiter und denke an dieses Gedicht. Markt und Straßen stehen verlassen. Ich glaube nicht, dass der Autor sich Gedanken darüber gemacht hat, was im Inneren der still erleuchteten Häuser stattfand, während die Welt draußen wunderstill beglückt war. Rechts von mir blitzt das schneidende Licht eines Horrorfilms in meine Augen, im zweiten Stock des Wohnhauses links von mir sehe ich hinter einem Vorhang die Silhouette eines eng umschlungenes Paares. Irgendwo vor mir dringt das laute Wortgefecht von zwei Männern an meine Ohren und als ich schließlich vor der Gartentür meines Elternhauses stehe, begrüßen mich ein Dutzend Bierflaschen, die wie stinkende Gartenzwerge aus dem Boden ragen.
Aus dem Haus höre ich lautes Lachen und dröhnende Schlagermusik, der Soundtrack einer fröhlichen Feier. Mein Herz rast. Langsam greife ich nach der Türklinke, als ich an ein anderes Zitat auf der Pinnwand denken muss. Zu Weihnachten kommt es nicht darauf an, was unter dem Baum liegt, sondern wer zusammen davor steht. Ich stecke meine Hand zurück in meine Jackentasche und mache mich auf den Weg retour. Es gibt schließlich einen Grund, warum ich nicht eingeladen wurde.

 

Caroline Wolfram

 

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21 | Kathrin Lagatie

Sehen

Als ich meine Mutter am Boden liegen sah, lief ich eilig in die Küche. Die Küchenschere war die einzige im Haus, die regelmäßig geschliffen wurde. Ein Erbe meines Vaters. Ich griff also zur Schere, ging zurück zur Mutter und schnitt ihr die Haare ab. Wieder zu Hause angekommen, verfütterte ich den Zopf an die fleischfressende Pflanze, die irgendwer vor Jahren in unserem Treppenhaus ausgesetzt hatte. Ich kümmerte mich seitdem um sie. Ab und an ein Finger, hin und wieder eine Wimper, das bringt Glück. Während ich der Pflanze dabei zusah, wie sie das Haar meiner Mutter verschlang, wurde mir klar, dass ich die ganze Mutter verfüttern würde. Nun hatte ich endlich ein Ziel vor Augen. Ich musste nur aufpassen, dass mich niemand dabei beobachten würde.

 

Kathrin Lagatie

 

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20 | Manon Hopf

WENN DIE MÜTTER ZU
frieden sind
kochen sie
richten sie
den Teig
und rollen die Finger
in die Füllung
dort liegt die Hand
im Bauch
sie brauchen sie dann
nicht an der Waffe
sondern im Gewicht

 

Manon Hopf

 

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19 | Alisha Gamisch

advent ende zwanzig

die großen generationen sterben ab
sie lassen ihre haut zurück und ein zwei sprengkörper unter häusern
fernnah gesehen die angst
in den augen der opas wie viel prozent
hungerleuchten disziplin hörigkeit? die oberen die oberen
eben und uns ist auch so viel leid geschehen der apfelstrudel im starnberger
haus des großtantenmannes
die russn die tschechn die säue
stolpern durch albwörter
winden durch entwurzelte ausreden
ja aber wir hatten nie ein zu hause so wie du

nemez haben sie mich genannt sagt ein opa
und russ haben sie mich auch genannt

wenn zwei opas sich als jugendliche begegnet wären
hätten sie sich erschossen oder einen schnaps getrunken?
die zeit sie dehnt sich durch gene hindurch sie blättert von der wand
legt hände drauf
ein opa in einem anderen haus
zitiert ein gedicht von kästner
ohne fehler – fehler? er kann sich nicht mehr erinnern
auch erzählen geht noch aber
ohne bezug zum heute oder morgen
keine frage kommt ihm in den sinn
verschoben das gefühl im jetzt zu sein

 

Alisha Gamisch

 

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18 | Lisa Gollub

nehcasnebeiS

Ich packte meine Siebensachen und verließ die Post, nachdem ich – endlich – den Brief nach Weißrussland aufgegeben hatte. Zur Sicherheit klatschte ich mit der Hand auf die Tasche, denn ich wollte nichts vergessen haben, blickte wie beim Autofahren über die Schulter in den toten Winkel der Postfiliale und schaute eine Sekunde später in das Gesicht eines Fußgängers. Wird schon passen, dachte ich und machte mich auf zur Nordsee, um das Mittagessen einzunehmen.

Gewissenhaft bestellte ich einen mit Siegel ausgestatteten Fisch aus Norwegen und setzte mich an einen Tisch beim Fenster. Ich beobachtete die Menschen, wie sie vorübereilten und fragte mich, was sie antrieb. Ich erinnerte mich an die Weisheit, einen Menschen nicht nach seinem Motiv zu fragen, sondern sein Verhalten zu analysieren. Man muss wissen, woraus man Schlüsse zieht, dachte ich.

Draußen ging ich ein wenig spazieren, wie ich es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Ich sah mich völlig frei von Verpflichtungen, fast unabhängig von Raum und Zeit. Tja, ich fühlte mich ein wenig wie gesundes Gewebe, aus dem ein Tumor entfernt wurde. Es klaffte ja doch ein Loch in mir, das ich momentan nicht füllen konnte. Was tun?, fragte ich mich.

Da kam ich an einer Parkbank vorbei. Ein Kind versuchte sich bäuchlings auf die Bank zu robben. Ich sah, dass es mit aller Kraft alles versuchte, ja, ich fieberte ein wenig mit und war versucht, ihm den entscheidenden Ruck zu geben. Ich blickte mich um. Keine Mutter in Sicht. Also half ich dem angestrengten Kind. Und als es vollbracht war, konnte ich nicht umhin. Schon hielt ich es im Arm wie ein Eigenes. Wie beruhigend war es doch, ein Kind zu haben!

Glückselig streifte ich durch die Straßen und ließ keine Gelegenheit aus, meinem Glück Ausdruck zu verschaffen. Ich strahlte jeden beliebigen Fußgänger an, während das an die Hüfte gestemmte Kind bei jedem Schritt abhob und wieder landete. Wie alt ist es denn?, fragte mich ein alter Mann auf der Straße. Das dürfen Sie mich nicht fragen!, lachte ich ihn an und bestieg den nächsten Bus.

Einen Kinderwagen brauche ich jetzt!, dachte ich. Also schnappte ich den Zwillingskinderwagen, der neben einem anderen im Bus stand, setzte mein Kind hinein und stieg bei der nächsten Station aus. Erst als wir zehn Minuten später das Tor zum Prater passiert hatten, entdeckte ich das zweite Kind, das ruhig im Kinderwagen schlief. Umso besser!, dachte ich und machte mich wagemutig auf in die Menge, die sich jedes Jahr zur Eröffnung der Saison versammelt.

Von der Ferne hörte ich plötzlich vertraute Musik. Ich fühlte mich in meine Jungscharzeit zurückversetzt, als wir auf der Reise nach Tirol Stunden über Stunden Volkslieder sagen, dieselben, die ich allen meinen Kindern beigebracht habe. Schon standen wir vor einer Schießbude und ein trübsinniger Bub reichte uns Stoffbälle.

Warum bist du traurig?, fragte ich ihn, als die Kinder alle Bälle ins Off geschossen hatten. Ich muss jeden Tag hier arbeiten und darf nicht in die Schule gehen, sagte er. Das kann nicht sein!, dachte ich, griff seinen Oberarm, zog ihn über die Theke und lächelte ihn willkommenheißend an. Komm mit uns!, sagte ich mehr zu mir als zu ihm. Und schon waren wir eine fast vollzählige Familie.

Wir bahnten uns den Weg durch die Menschenmenge. Ich ließ den kleinen Buben vom Schießstand zur Entschädigung Motocross fahren, die beiden anderen setzte ich ins Kleinkindkanufahren und verspeiste währenddessen, wie ich es aus Jugendjahren kannte, Pommes frites mit Mayo.

Ebenso einfach wie man Kinder verliert, kann man Kinder auch wieder aufklauben. Denn als wir uns auf den Weg nach Hause machten, fix und foxi waren die Kinder, wie der kleine Bub immer wieder für alle anderen sprechend sagte, da sah ich in der Menge ein gestrandetes Kind. Es stapfte plärrend im Kreise, schrie nach Mama und Papa, obwohl es längst zu groß war, um zu schreien. Da platzierte ich mich mit dem Zwillingskinderwagen unmittelbar vor ihm, zumindest einen Halbkreis ausfüllend, und lächelte es ganz unscheinbar an, in etwa wie eine Vertrauensperson. Im nächsten Moment sah ich, wie ihm die ganze Szene Einhalt gebot, wie es seine Entscheidung fällte und auf uns zukam, als wären wir immer schon seine Familie gewesen. Schön!, sagte ich, schön! Und wir umarmten uns allesamt in Verklammerung mit dem Zwillingskinderwagen.

Endlich auf dem Weg nach Hause!, dachte ich, als wir mit der Rolltreppe abwärts fuhren. Und wie eine einsame Prinzessin sah ich ein Mädchen, das aufwärts fuhr, winken. Durch trübe Schichten der Erinnerung tauchte ich in die Gegenwart und erkannte schließlich eines meiner Kinder, meiner Kinder! Ich wollte es wiederhaben, dachte ich, ich wollte es wie eine Sache wiederhaben. Es erschien mir im Moment der Begegnung wie ein Edelstein in einer Mineraliensammlung. Dabei war es wahrscheinlich den ganzen Tag Rolltreppe gefahren, und ich fühlte mich schuldig wie eine Rabenmutter, die ein Kind ins Heim gibt und kurze Zeit später wieder abholen will. Da kam der Rolltreppenabsatz, ich musste schnell reagieren, beiderseits fuhr die U-Bahn ein und schon war alles, was gerade geschehen war, längst wieder Vergangenheit.

Ich nahm einen Umweg über die Schule, die sich in der Nähe meiner Wohnung befand. Schon oft hatte ich mich am Eingang platziert, um den Kindern allerlei Süßigkeiten zuzustecken. Ich hatte immer schon ein Bedürfnis nach Wohltätigkeit gehabt und in dieser Geste sah ich sie realisiert. Also stellte ich mich mit meinen vier Kindern, die ich rückwärts durchzählte, als würde ich vorwärts zählen, mit einer Packung Werther’s Original vor den Eingang des Musikgymnasiums. Die Glocke schrillte, Kinder gingen vorüber, bedienten sich ohne ein Dankeswort, bis die Packung mit dem Erklingen der Stundenglocke fast leer war. Ich nahm die verbliebenen zwei Bonbons in die Hand und dachte: Der Wohltätigkeit genug, aufs Ganze gehen! Wie gerufen kamen zwei Mädchen durch die Doppeltür, das Schicksal erfüllt sich selbst, dachte ich, denn sie nahmen mir die Bonbons aus der Hand und schauten mich erwartungsvoll an. Ich war ein wenig überrascht, dann sagte eines der Mädchen, etwa zwölf Jahre alt mit Zöpfen: Gehen wir?

Auf dem Rückweg wunderte ich mich ein wenig. Ich fragte mich, warum meine Kinder mich ohne jeden Zweifel an der Mutterschaft annahmen, dass sie mir geradezu in die Arme liefen, als wäre ich in der Tat eine Mutter. Was hatte das zu bedeuten? Vor vielen, vielen Jahren, dachte ich, habe ich in der Schule gelernt, dass bei einer Reaktion ein Teilchen von A auf B übergeht. Niemals kann aber ein Teilchen in der Luft hängen. Alle meine Kinder waren auf mich übergegangen und deshalb mussten sie an anderer Stelle fehlen. Ich empfand Glückseligkeit, aber was empfanden die Eltern? Was würde ich empfinden bei der rückwärtigen Übertragung? Faxen, dachte ich dann, soweit wird es nicht kommen. Verbissen pfügte ich wie schon einmal durch die Straßen, vorne die beiden Mädchen aus dem Musikgymnasium, die ich im Singen gar nicht anzuleiten brauchte, dahinter der Bub, der Händchen hielt mit dem verweinten Kind aus dem Prater, und dann ich – mit dem Zwillingskinderwagen.

Kurz vor der Wohnung drehte ich meinen Kopf ein wenig in den Nacken, um die Verspannungen des Tages zu lösen, und da erblickte ich das Sorgenkind, wie es mit traurigem Blick dahinbummelte, immer mit ein wenig Abstand zu uns. Und ich wusste nicht zu sagen, ob es dasselbe Kind war, das ich heute als erstes verloren hatte. Da winkte mir vom Hauseingang die Nachbarin zu und rief mir entgegen: Vorbildlich, eine vorbildliche Familie! Ich zählte durch. Es waren ihrer sieben. Positive Bilanz!, dachte ich und schüttelte der Nachbarin beim Eintreten noch energisch die Hand.

 

Lisa Gollub

 

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17 | Alexander Rall

Bibi ist verlassen

Bibi ist verlassen. Hans ist weg. Hans ist unglücklich. Vielleicht ist Hans so unglücklich, dass er sich gerade woanders bewirbt. Sie spürt eine kleine Angst, weil sie es nicht weiß. Dr. Flachs ist zwar noch da, aber nicht für sie. Hans ist eigentlich für sie zuständig. Das heißt, er sagt ihr, was sie zu tun und was sie zu lassen hat. Das beruhigt sie. Irgendwie. Er ist ihr Vorgesetzter. Dr. Flachs ist eine Nummer höher. Er vertritt Hans ausnahmsweise. Bibi schreibt ihm manchmal Mails, in denen sie fragt, was sie tun und was sie lieber lassen soll. Sie bekommt nie eine Antwort. Manchmal kommt Dr. Flachs vorbei und zuckt mit den Schultern. Da müsse sie warten, bis Hans wieder da sei. Das wisse er auch nicht. Der Laptop will auch nicht mehr. Schon die dritte Installation heute morgen. Bibi trinkt Tee. Der Vorgesetzte und der Laptop behindern ihre Arbeit.

Fürs Nichtstun müsste man eigentlich mehr bekommen als fürs Tun, denkt Bibi. Bibi denkt gerne, aber sie weiß momentan nicht worüber. Vermutlich werde ich vergessen, denkt Bibi und sagt laut: „Aber ich bin noch da.“ Das hört niemand. Sie schaut aus ihrem Büro und sieht alle bei der Arbeit in die Bildschirme schauen. Manche sehen ganz krumm aus. Tut doch nicht so, denkt sie‚ das ist doch die reinste Ignoranz. Am liebsten würde sie die Tür einfach aufreißen und allen mit ihren Vorwürfen überschütten. Arme Bibi, würden sie sagen, was ist nur los mit dir? Das wäre gelogen. Das wäre auch kein Ausweg. Sie seufzt. Stören kommt also nicht in Frage.

Sie überlegt, wie sie ein Zeichen ihrer Existenz in die Welt rausschickt. Vielleicht ein Joke oder ein Musik-Clip. Vielleicht auf Twitter, vielleicht ein Mail an alle. Aber was soll sie schreiben? Ihr seid alle Ignoranten? Das weiß jeder, auch wenn es niemand zugibt. Sie rollt mit den Augen zu den Klängen von Fade away. Sie sieht aus dem Fenster auf die ewige Baustelle eines Viertels, das seitdem sie hier arbeitet entsteht. – Es wird sicher noch weiter gebaut, wenn ich längst weg bin. Aber wohin bin ich dann weg – und bin ich dann auch woanders? Niemand gibt ihr eine Antwort. Das spürt sie. Am liebsten würde sie verschwinden, einfach so. Aber sie weiß nicht wohin. Sie sitzt da und starrt auf ihre Füße. Die waren auch schon mal kleiner, denkt sie und streckt sich. Wer bin ich?, fragt sie sich.

Sie überlegt: Ich muss langsam machen. Ich habe kurze schwarze Haare, blaue Augen und kleine gepflegte Hände. Sie schaut auf sich und auf ihre schicke Jeans. Sie vermisst einen Spiegel. Er würde sie jetzt ablenken. Das weiß sie. Sie sagt sich: Ich habe als Sekretärin angefangen und bin dann zur Assistentin aufgestiegen. Nach fünf Jahren. Keine Bilderbuchkarriere, aber immerhin. Außerdem bin ich schrecklich nett und habe eine klare Denke. Das sagt jeder. Aber davon hat zur Zeit niemand etwas, auch ich nicht. Ich nicht und niemand, denkt sie, ich nicht, weil Niemand, denkt sie, Niemand braucht mich, weil Niemand Niemanden braucht. Ihre Gedanken wiederholen weiter das Wort, Niemand Niemand Niemand, bis es sich anfühlt wie ein Brett, das ihr ein anderer vor den Kopf schlägt. Alle sitzen da. All die Niemande dieser Welt, denkt sie, sitzen draußen in ihren Glaskästen bei der Arbeit und schlagen sich gegenseitig lauter Bretter lautlos vor die Birne. Besonders dumpf ist das Brett von Dr. Flachs. Dick und dumpf. Sternchen, wohin man auch blickt.

Bibi kommt sich vor, wie eine Witzfigur in einem Comic-Strip. „Boing, boing, boing“, sagt sie und schlägt sich auf die Stirn. Sie kommt sich blöd vor. Das ist doch die reinste Ausbeutung, denkt sie. Ich bin doch nicht zum Vergnügen für die anderen da. – Vielleicht doch? Vielleicht sollte ich die anderen auch mal ignorieren. Sie zögert, sie weiß noch nicht wie, aber dann fällt es ihr ein: Einfach mal schnell weggucken, einfach mal etwas überhören, einfach mal den anderen reinquatschen, einfach so tun, als hätte man viel zu tun. Aus Hektik nicht grüßen. Sich alleine hinsetzen. Den anderen nicht ansehen. Oder nur so: von oben herab.

Sie spielt alles durch, gestikuliert im Büro. Sie ist zwar klein, aber eigentlich müsste es jemandem auffallen. Sich schaut sich um. Niemand schaut hin. Das wäre ja eine tolle Firma, wo jeder jeden ignoriert – großartig, denkt sie, was dabei wohl herauskäme, wenn jeder mit jedem ums Ignorieren konkurrieren würde. Aber dann müsste man sich ab und zu dem anderen auch wieder zuwenden, damit das Ignorieren auch wieder ein Ignorieren wäre. Sonst wäre das Ignorieren ja gar kein Ignorieren mehr, sondern… Sie überlegt und erschrickt: Vielleicht werde ich von den anderen ja gar nicht ignoriert, ich meine noch nicht einmal ignoriert. Ich wäre einfach Luft. Oder einfach nichts – sie lacht auf, erschrickt wieder, lacht auf – oder wie ein Satellit der vorbeizieht und wieder verschwindet? Interessant, denkt sie und schaut aus dem Fenster. Überall Stau.

Überall Scharen von Menschen. Ob sich alle genauso fühlen wie sie? Sie würde zu gerne in ihre Köpfe schauen. Das wäre spannend. Aber das kann sie nicht. Und wenn, fragt sie sich, was würde sie entdecken. Vielleicht immer nur mich selber. Das wäre nicht lustig. Das wäre das Ende. Aber das Ende von was? Auch das weiß sie nicht. Vielleicht wäre es eine Freiheit. Sie zweifelt, weil sie es sich nicht vorstellen kann. Vielleicht fällt ihr noch was ein. Sie hofft. Ganz leise.

Sie schaut auf ihre Schublade. Zum Trost hat sie sich ein altes Buch von Donald Duck dort hingelegt. Es ist bunt, aber zerfleddert. Sie blättert darin. Sie kennt jede Geschichte. Sie muss sich nur die Bilder ansehen, dann weiß sie gleich, worum es sich dreht. Das tröstet sie. Herrlich dieser grimmige, gelbe Schnabel und die gelben Entenwatschen. Würde er doch nur aus dem Bild direkt hier hereinkommen, wünscht sie sich. Sie würde ihm sofort die Hand schütteln und Guten Tag sagen. Sie können gleich hier anfangen, würde sie sagen. Ihr Job ist es, die Einstellungsverträge zu prüfen, ihre Richtigkeit zu bestätigen und sie dann Dr. Flachs zur Unterschrift weiterzugeben.

Unterhaltungskünstler wie Sie können wir schließlich gebrauchen. In der ganzen Firma ist nix los, lauter Finanzfachleute. Noch trockener kann man es sich nicht vorstellen. Und jeder ignoriert jeden und manchmal noch nicht einmal das. Wir brauchen Sie dringend, Herr Duck, die Stimmung ist echt auf dem Gefrierpunkt. Gehen Sie einfach durch Gänge und nehmen Sie Ihre Neffen mit, das reicht schon. Alle würden denken, jetzt bin ich verrückt. Das wäre großartig. Alle wären einen Moment lang verrückt. Das würde schon reichen. Nur so zum Durchatmen, zum Freisein. Für einen Moment. – Platz für den Geldspeicher Ihres Onkel haben wir auch. Muss nur noch die Tiefgarage ausgebaut werden, Herr Duck, oder reicht Ihnen Blockchain? Haben wir hier auch im Hause, ganz feine Technologie. Das Gehaltliche regeln wir natürlich ganz nach Ihren Vorstellungen. – Sie deutet einen Knicks an.

Dann füllt sie den Vertrag auf ihrem Laptop aus, fügt Namen, Adresse und Kontonummer ein. Titel: Unterhaltungskünstler mit Prokura. Sie legt den Vertrag zu den anderen Verträgen in die Unterschriftenmappe und bringt sie Dr. Flachs. Dr. Flachs ist da und telefoniert. Er deutet mit der Hand auf den Schreibtisch und nickt ihr zu. Sie legt die Mappe hin und geht zurück in ihr Büro.

Der Quatsch kann mich den Job kosten, denkt Bibi und lacht. Sie setzt sich und wartet. Sie fühlt sich wie gelähmt. Sie will nichts ändern. Nur noch die weiße Wand anschauen. Es ist nichts. Nur weiß. Leuchtend weiß. Die ganze Wand ist weiß. Ihr Inneres auch. Unbeschrieben weiß. Sie spürt ihren Atem, wie er ein- und wieder ausströmt. Es ist nichts, alles ist egal, alles ist gleich. Bibi spürt, wie sie anfängt zu lächeln. Alles ist weiß, auch ich, ich bin ich und die Wand. Ich bin die Wand und ich. Bibi spürt, wie ihr Lächeln stärker wird. Bibi fühlt sich frei – wie noch nie in meinem Leben, denkt sie. Dann sieht sie zur Tür. Sie öffnet sich unendlich langsam.

Dr. Flachs kommt herein und legt ihr die unterschrieben Verträge hin. Bibi lächelt noch immer über beide Ohren. „Na, so fröhlich heute“, sagt Dr. Flachs freundlich. „Einfach so, ein so schöner Tag heute“, sagt Bibi. Er legt ihr die Unterschriftenmappe mit den Verträgen hin. „Die können Sie jetzt rausschicken.“ Dr. Flachs geht wieder in sein Büro. Bibi sieht die Verträge durch. Donald Duck ist eingestellt.

 

Alexander Rall

 

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