Alles NEU #1: Lesereise

Joseph Schumpeter sprach von der "Schöpferischen Zerstörung": Man muss alte Strukturen einreißen um Innovationen zu schaffen, die Komfortzone verlassen um Abenteuer zu erleben. Darum gibt es gleich mehrere Neuheiten und Änderungen in den nächsten Wochen.

#1: Im Oktober macht sich das mosaik zum ersten mal auf eine Lesereise - diese führt zu unseren Freundinnen und Freunden nach Bayern.

München

Donnerstag, 15. Oktober | 19:00 | Salon Irkutsk

mit:

sei dabei!


 

Pfaffenhofen

Freitag, 16. Oktober | 20:00 | Kreativquartier "Alte Kämmerei"

mit:

sei dabei!


 

Nürnberg

Samstag, 17. Oktober | 19:00 | Salon Regina

mit:

sei dabei!

Beitragsbild: Werner Baur


Robinson im Raumanzug

„Ich bin sowas von im Arsch.“ Mit diesen Worten beginnt der erste Logbucheintrag des Astronauten Mark Watney, und so beginnt auch Andy Weirs Roman „Der Marsianer“. Und treffender kann Watney seine Situation auch gar nicht beschreiben. Er war das Mitglied einer sechsköpfigen Expedition zum Roten Planeten.

Aufgrund seines heftigen Sandsturms mussten die Raumfahrer ihr Basislager aber schleunigst verlassen und sich sofort in den sicheren Marsorbit evakuieren. Nach nur sechs Marstagen war die eigentlich auf über fünfzig Tage anberaumte Marsmission zu Ende. Und dann passiert bei der Flucht durch den Sturm ein verehrender Unfall: Ein Stück Antenne, das der Sturm von der Wohneinheit abgerissen hatte, trifft Watney. Das letzte, was seine Kameraden von ihm sehen, ist wie er, aufgespießt von einem Metallstab vom Sturm in ein undurchschaubares Sandchaos verblasen wird. Die anderen halten ihn für tot und starten die Maschinen zum Heimflug Richtung Erde. So etwas kann man nicht überleben, nicht an einem so lebensfeindlichen Ort wie dem Mars.Read more


freiTEXT | Karsten Redmann

Die Flucht

Mai 1972 - Ostharz, innerdeutsche Grenze, Staatsgebiet der DDR.

Seit zwei Tagen regnet es, ununterbrochen regnet es. Gassner muss an Bindfäden denken, die in der Luft hängen. An unzählige Bindfäden, Striche und Vertikalen. Regenwasser dringt durch die Kronen der Eichen, Buchen und Tannen, ergießt sich, wie an unsichtbaren Fäden, auf den mit Moos bewachsenen Waldboden, auf Ameisenvölker, braune und schwarze Käfer, und auf Gassner selbst, der an einen Baum gelehnt sitzt, Wasser in den Schuhen, sein Hemd völlig durchnässt. Die Brille setzt er nicht ab. An Schlaf ist nicht zu denken. An Gassners Rücken fließt geräuschlos Regenwasser ab. Am Boden bilden sich dunkelgrüne Pfützen, Tannennadeln darin, vereinzelt auch kleinere Spinnen und Fliegen - Kleintiere, die mit dem Tod ringen. Es riecht nach Moos und Flechten. Der Regen prasselt unentwegt. Wenn er doch nur aufstehen könnte und loslaufen, dann würde er vom Punkt zur Linie werden. Doch Gassner läuft nicht los, weil er nicht weiß, wohin, weil er keine Kraft mehr hat, sich verlaufen hat, in diesem regennassen deutschen Wald. Aber du musst, Gassner, weil du es willst. Du hast keine andere Wahl. Vergiss die Bindfäden in der Luft, den Wolkenbruch. Verdränge den Regen, die Kälte, den Schlaf. Im Grunde bist du allein, ja, aber es ist gut, hier und jetzt allein zu sein. Und später? Später kannst du schlafen, tagelang schlafen. Träumen wirst du dann, endlich wieder träumen. Von drüben? Nein, nicht von drüben, denn wenn du auf der anderen Seite angelangt bist, hast du ja dein Ziel erreicht. Und die kleine Öffnung in der Wolkendecke, auf Caspar-David-Friedrichs Bild, vom Mönch am Meer, wäre damit mehr als ein reines Versprechen deines Vaters gewesen – ein Ausweg nämlich, ein gelungener Fluchtversuch.

Aber halt, war da nicht ein Geräusch? Eine kurze Bewegung? Ein Knacken von Ästen? Dort hinter dem Baum?

Vor vier Tagen war Gassner mit 10.000 DDR-Mark in 50er und 100er Scheinen, seiner Geburtsurkunde, seinen Schulzeugnissen und dem Gesellenbrief, alles fein säuberlich in einer wasserdichten Plastiktasche verstaut, in einen Bus gestiegen, hatte den Bauernhof, die schon alt gewordene Mutter und den Bruder verlassen, und dabei versucht, möglichst unauffällig auszusehen - bei seinem ersten Fluchtversuch. Sein Plan schien aufzugehen: Der alte Fahrer des Omnibusses hatte seine Sonnenbrille nicht einmal abgesetzt, hatte nur Gassners Fahrkarte entgegen genommen und sie am perforierten Kartenrand abgerissen, so, wie es allgemein üblich war. Auch während der Fahrt in die nächstgelegene Stadt hatte der Fahrer nur selten in den Rückspiegel geblickt, was gut war, denn so ging es weiter, Kilometer für Kilometer. Die Mitreisenden waren so unauffällig wie Gassner selbst - darunter eine dickliche Frau, um die 30, mit kurzen Haaren, einem blassen Gesicht und einem Säugling auf dem Arm. Sie hatte ihren roten Wollpullover nach oben gezogen, so dass man ihre rechte Brust und den Kopf ihres Kindes sehen konnte. Unentwegt starrte die Frau auf die flaumigen schwarzen Haare ihres Säuglings und strich mit ihren dicken Fingern über Kopfhaut und Haar. Ihr gegenüber saß ein junger Mann, so um die 20, in einem hellen Cordanzug, Zigarette im Mund, ein altes, zerlesenes Buch in der Hand. Sein Blick wanderte hellwach über die Zeilen. Gassner fragte sich für einen Moment, was der Mann da las. Den blauen Einband kannte er nicht. Die Schrift darauf wurde von der Hand des Mannes verdeckt. Die hochgepriesenen Amerikaner, deren Bücher ihm sein Vater früher über Umwege besorgt hatte, kamen Gassner in den Sinn: Hemingway und Faulkner. Und während er an den alten Mann und das Meer und all die anderen Geschichten dachte, streifte sein Blick über das dichte Grün der riesigen Alleebäume – da tauchte plötzlich dieses Tier auf. Es hockte in einer der hellgrünen Baumkronen und blickte zur Seite. Ein Wisch, schon vorbei. Konnte das wirklich sein, hatte Gassner sich gefragt und sich erst wieder beruhigt, als er kurz darauf einen Wanderzirkus auf einer Wiese entdeckte. In der Mitte stand das große Zirkuszelt, am Rand des Lagers bunte Wohnwagen aus Holz, Tiere in Käfigen und vor den Käfigen jonglierende Artisten, Bälle und Keulen in der Luft. An einem kleinen Zelt flatterten bunte Fahnen im Wind. Er hatte sich also nicht getäuscht, sicher war es ein Affe gewesen. Ein Schimpanse auf der Flucht. Einer, der sich aus dem Staub machen wollte, einer der die haarigen Beine in die Hand genommen hatte, um diesem ganzen Zirkus hier zu entkommen. Sehr viel später, im Wald umher irrend, den Grenzzaun suchend, hatte sich Gassner gefragt, wie weit so ein Schimpanse, ganz auf sich allein gestellt, überhaupt käme. Denn es hatte angefangen zu regnen, und Gassner hatte sich vorgestellt, wie der Affe durch den Regen und über die Felder lief, halb springend, halb taumelnd. Auf den Zirkus folgten: ein Dorf mit Brunnen, ein Zweites ohne, dann ein Drittes, und nach einer halben Stunde Fahrt hatte der Bus schließlich angehalten, Gassner war ausgestiegen, hatte in die helle Mittagssonne geblinzelt, sich nach allen Seiten umgeschaut, seine Tasche genommen und sich auf eine der Holzbänke gesetzt. Hier wäre er also Besucher dieser Kleinstadt, nicht mehr und nicht weniger. Nur daran müsse er sich halten, an nichts anderes. Ganze fünf Mal sollte Gassner umsteigen, so der Plan: vom Bus in einen weiteren Bus, von einem Zug in den nächsten und so weiter. Bei den geplanten Kurzaufenthalten in den Dörfern und Städten wollte er sichergehen, dass ihm niemand folgte.

Moment. War da etwas? Ja, ein Geräusch. Er hat es gehört - da hinten. Jetzt kann er es sehen, verschwommen, wie durch Fäden hindurch, ein orangener Fleck auf seiner Brille, springt über Baumstümpfe und verliert sich im Unterholz. Wahrscheinlich ein Tier, schon vorbei, keine Gefahr. Durchatmen... Wind kommt jetzt auf. Am Himmel ziehen Wolken westwärts. Zwischen den Baumwipfeln entdeckt Gassner helle Flächen Licht, hier und da auch eine Vorstellung von Blau. Diese kleinen, blauen Flächen dehnen sich langsam aus. Hat es wirklich aufgehört zu regnen? Es fehlt ein Geräusch, ihm fehlt ein Geräusch - der Regen als Kulisse. Die Fäden sind weg. Jemand hat sie abgeschnitten. Gassner setzt die Brille ab, streicht mit einem Tuch über die Gläser, schaut sich um und setzt sich in Bewegung, ein federnder Gang. Die Sonne weist ihm den Weg. Nach einiger Zeit kommt es ihm vor, als würde sich der Wald um ihn herum verändern, als stünden die Bäume nicht mehr so dicht beisammen, als lichte sich der Wald, oben und auch an den Seiten. Gassner greift in die Tasche seiner nassen Hose und bricht ein Stück Schokolade, steckt es in den Mund und bewegt es mit der Zunge hin und her. Quer über ihm steht die Sonne, sie blendet.

Auch ich sehe sie jetzt und schreibe es auf. Die Sonne blendet. Mit meiner Hand schütze ich meine Augen und folge Gassners Schritten. Er sagt: „Los jetzt!“ Und: „Wir müssen weiter. Sofort!“ Wir?, möchte ich ihn fragen, und schütteln möchte ich ihn dabei, aber vielleicht ist es besser so, wahrscheinlich braucht er mich jetzt. Also folge ich seinen Anweisungen, folge ihm. Schließlich müssen wir weiter, er und ich. „Nicht so schnell!“, rufe ich, denn mir geht die Puste aus. Aber er läuft weiter, den Blick stur nach vorne gerichtet. Ich komme kaum hinterher. Wieder muss ich stehenbleiben und nach ihm rufen. Schnell ermahnt er mich, leise zu sein. „Wir wollen doch nicht riskieren geschnappt zu werden“, mahnt er. Zwischen den Bäumen weiten sich die Lücken - Lichtungen tun sich auf. Gassners Schritte werden verhaltener, vorsichtiger, er bleibt stehen, kniet sich hin, hört in den Wald hinein. Ein Geräusch? Nichts bewegt sich, nur die Wolken – ihre Schatten ziehen über uns hinweg. Vor uns öffnet sich eine Schneise, daran angrenzend ein hoher Zaun mit Stacheldraht. Plötzlich ein Wagen, kommt von rechts heran, immer näher, das Motorengeräusch schwillt an. Dann Stille, der Wagen vorbei. Gassner schnappt nach Luft. Hat er die ganze Zeit die Luft angehalten? „Endlich“, sagt er und es soll wohl beruhigend klingen. Ich sehe, wie Gassner die Umgebung genau beobachtet, sein Blick wandert vom Wachturm über die Wiese, den Zaun entlang. Erneut putzt Gassner seine Brille, doch die Schlieren bleiben. „Der Turm ist das Problem“, sagt er, nimmt ein letztes Stück Schokolade aus der Tasche und kaut darauf herum. „Wir dürfen kein Risiko eingehen“, sagt er und ich gebe ihm zu verstehen, dass ich seine Ansicht teile, dass es besser wäre, eine weniger einsehbare Stelle zu finden. Er nickt, ich nicke, wortlos folge ich ihm. Als er Sekunden später über eine Baumwurzel springt, knickt er ein, hält sich den Fuß. „Verdammter Mist“, sage ich. Ich gehe in die Hocke um mir den Fuß genauer anzusehen. „Das erste Mal“, sagt er, „meine erste Verletzung.“ „Und jetzt?“, frage ich. „Was willst du tun?“ „Ach, das krieg´ ich schon hin“, sagt er, „hast du Schokolade dabei?“ „Keine Schokolade, aber schau mal in deiner Tasche nach“, sage ich. Erstaunt fischt er ein Päckchen Traubenzucker heraus. „Das ist ja West-Ware“, sagt er und schaut mich fragend an. „Ein Geschenk“, sage ich. Er steht auf. In seinem Gesicht lese ich Schmerz. „Soll ich dir helfen?“, frage ich. „Nein, das schaffe ich schon!“, sagt er. Er nimmt ein gelbes Tuch aus seiner Tasche, legt es auf den Waldboden und drückt es gegen das feuchte Moos. Dann bindet er es fest um seinen Fuß. „So“, sagt er, „das müsste gehen.“

Wie lange hatte er darauf gewartet, diesen Wald zu betreten, diesen einen Schritt weiter zu gehen als die meisten anderen. Viel weiter als sein Vater war er gekommen; sein Vater, den sie eineinhalb Jahre zuvor inhaftiert hatten und dessen Tod der Staat vermeldete, als handele es sich um eine bloße Randnotiz. Sie sagten, dass es seinem Vater in den letzten Wochen sehr schlecht gegangen wäre. Er hätte jedwede Hilfe verweigert. Den Staat träfe keine Schuld. Ob es einen Abschiedsbrief gäbe, hatte Gassner einen der Verantwortlichen gefragt. Und der hatte ihm eine Skizze in die Hand gedrückt, auf der recht wenig zu erkennen war, nur Striche und Linien. „Das hier“, hatte er gesagt und ihm das Stück Papier ausgehändigt, „ist alles was wir von ihrem Vater haben.“ Auf den ersten Blick war wenig zu erkennen und Gassner brauchte eine Weile, um den stilisierten Mönch, den Himmel und das angedeutete Meer zu erkennen. Und er erinnerte sich, wie ihm sein Vater, in der alten Wohnung in Berlin, das Bild des Mönchs am Meer in einem Kunstband gezeigt hatte. Wie er ihm alles über das kleine Bild erzählt hatte, um dann mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über eine helle Stelle in der Wolkendecke zu kreisen und zu sagen: „Siehst du das, mein Sohn? Siehst du das Aufklaren? Hier, direkt über dem Kopf der Figur?“, und er kreiste wieder um die Stelle, „ siehst du, hier öffnet sich der Himmel.“ Damals hatte Gassner die Anspielungen seines Vaters nicht verstanden, nicht gewusst, was er ihm damit sagen wollte. Und vielleicht war es auch besser so gewesen.

Wir kauern auf dem Boden und sondieren die Lage. Gassners Blick wirkt verschlossen. „Was ist?“, frage ich. „Ich habe Angst“, sagt er. Ich sage: „Ich weiß“, und lege meine Hand auf seine Schulter. „Warum tust du das alles?“, fragt er. „Eigentlich machst du doch alles selbst“, sage ich. „Außerdem folge ich dir, weil ich mich für dich und deine Geschichte interessiere.“ Er lächelt. „Das ist schön“, sagt er. „Aber was ist, wenn ich im Zaun hängenbleibe? Oder sie mich vom Zaun schießen? Oder eine Mine hochgeht?“ „Warte mal“, sage ich und zeige mit dem Finger auf die andere Seite, Richtung Westen. Und während Gassner meinem Fingerzeig folgt, taucht ein niederländischer Reisebus mit Grenztouristen auf. „Das sieht doch ganz nach einer guten Chance aus“, sage ich. „Los. Lauf los. Jetzt.“ Erst humpelt er, dann rennt er, noch 200 Meter, 100 Meter, 50, dann der Zaun. Gassner ist schnell. Seine rechte Hand greift in den Draht und zieht sich hoch. Im Bus sehe ich ein Blitzlichtgewitter. Gesichter kleben an den Fenstern, Münder sprechen aufgeregt miteinander. Die Oranier-Route führt hier, 1972, an der deutsch-deutschen Grenze vorbei. Für die Touristen aus den Niederlanden ist der Grenzzaun seit Jahren ein willkommener Anlass Fotos zu schießen, und einer wie Gassner, jetzt und hier, das ideale Motiv: ein Mensch auf der Flucht. Gassner ist jetzt hinter dem ersten Zaun. Ich sehe wie er sich zu mir umschaut. „Lauf!“, rufe ich. „Lauf um dein Leben!“ Ein zehn Meter breites Minenfeld. Gassner steht davor. Der Bus hält an, die Rücklichter leuchten. Er läuft über das Feld, läuft sehr schnell. Er fällt nicht, fliegt nicht in die Luft. Dann der zweite Zaun. Wieder zuerst die Hände, die Füße, ich muss an das Tuch an seinem Fuß denken, das gelbe Tuch. Ich sehe den gelben Knoten wie er am Draht entlang schrammt. Gassner lässt sich fallen, sein Körper bleibt liegen. Jetzt erst schaut er zum Bus, stützt sich auf, schaut zurück, ein Lächeln. Humpelnd verschwindet er im westdeutschen Wald. Ich stehe auf und bemerke erst jetzt, dass sich Stimmen nähern. Ein Hund hechelt. Zwei Grenzer mit Schäferhund laufen an mir vorbei. Plötzlich bellt der Hund. Ich bleibe stehen und sehe, wie sie den Hund von der Leine lassen. Blitzschnell rennt dieser über die Wiese, bremst am Zaun, überschlägt sich fast. Das Bellen hört nicht auf. Dann betreten die Grenzer die Wiese, pfeifen den Hund zurück und stecken sich Zigaretten an. Rauch steigt auf und verliert sich über der Schneise. „Sieh mal“, sagt einer der beiden und hebt einen weißen viereckigen Gegenstand vom Boden auf, etwa so groß wie eine Briefmarke.

„Sieht komisch aus“, ergänzt er.

„Das ist doch Traubenzucker!“, sagt der Zweite, steckt sich das Stück in den Mund und blinzelt in die gelbe Sonne.

Karsten Redmann

freiTEXT ist eine Reihe literarischer Texte. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at


freiTEXT | Claudia Kraml

Wolkenbruch

Und vielleicht hätte ich doch lieber heimfahren sollen, denke ich mir zögerlich, als ich um Punkt drei Uhr nachts erwache und im Takt der prasselnden Desorientierung um Luft ringe. Stickig ist es hier im Zimmer, und heiß, so unendlich heiß, als ob man sich erst einmal mit scharfen Messern bewaffnet hindurchkämpfen müsste, um wieder Klarheit in seine Gedankengänge zu bringen. Luft, Gedanken und Angst, mehr ist es eigentlich nicht. Ja, Angst, um sie nun endlich zu nennen, und nicht etwa Furcht, denn diese augenblickliche Emotion ist durch nichts und niemanden begründbar.

Draußen herrscht gerade frühsommerlicher Weltuntergang, die Blitze jagen sich gegenseitig hinter dahinrasenden Wolkenfetzen, und Sturmregen lässt die Grenzen zum Hagel mit jedem leisen Knall auf dem Blechdach ein bisschen mehr verschwimmen. Aber das allein ist noch längst kein Grund für meinen jämmerlichen Zustand. Ich weiß ganz genau, dass es wieder mal eine von diesen Panikattacken ist, dass ich um Himmels willen Ruhe bewahren und meinen Atem nicht gewaltsam unter Kontrolle bringen soll. Mein Hirn ist nämlich längst nicht so klug, wie es manchmal tut, und gaukelt mir die furchtbarsten Szenen vor, die ich an dieser Stelle lieber nicht beschreibe, um nicht ein weiteres Mal hineingezogen zu werden in diese düstere Welt des zitternden Konjunktivs. Genauer gesagt ist es dumm, unendlich dumm, nimmt sich Monat um Monat viel zu viel vor und beginnt mich mit Szenen wie der jetzigen zu bombardieren, sobald es merkt, dass das alles vielleicht doch ein bisschen zu anmaßend war.

Ach Victoria, mit mir ist so vieles nicht in Ordnung. Kannst du eigentlich schlafen, drüben auf der anderen Uferseite, inmitten all des Getoses und unnötig hallenden Lärms? Natürlich würde ich es dir wünschen, aber irgendwo ist dann doch auch immer die egoistische Hoffnung, nicht allein zu sein mit meiner angstvollen Bewusstheit der Dinge.

Zu Hause wäre mir das nicht passiert, hält mir der vernünftige Teil meines Ichs wieder vor, und ich ziehe die Möglichkeit in Betracht, dass du vielleicht doch auch schon heimgefahren bist. In deine kleine Welt des Vertrauten, wie auch ich eine solche kenne, Bann und Erholung zugleich, vorhersehbar in ihrer Beschränktheit und doch vor allem auch Rückzugsgebiet, wenn die peitschenden Kleinstadtwellen über dir zusammenzuschlagen scheinen. Nein, ich weiß nicht wirklich, wovon ich rede. Wie denn auch, sind mir so lange Ansprachen in der zweiten Person Singular doch eher fremd, und ich kann eigentlich nichts weiter behaupten außer der Tatsache, dass dein leerer Stuhl neben mir wieder einmal wie ein Mahnmal wirkte. Die Dinge kommen leider zumeist anders, als man es sich erwartet hätte. Aus logischer Hinsicht ist das völlig einleuchtend, denn wenn man all seine Hoffnung in genau einen von zigtausend möglichen Ausgängen setzt, kann es eigentlich nur schiefgehen.

Nun gut, ich werde nicht mehr versuchen, mit dem arroganten Elias über nur in meiner Phantasie existente Dichternachlässe zu debattieren, im naiven Glauben, du mögest vielleicht irgendwann doch wieder erscheinen und dich gemeinsam mit uns im ausweglosen Hypothesengewirr verlieren. Es hat schlicht und einfach keinen Sinn. Solche Erkenntnisse sind hart, tun weh, aber nicht so, dass ich es nicht ertragen könnte. Der Mensch hält so vieles aus, vielleicht mit etwas Schlafentzug und gelegentlichen kognitiven Störungen, Trugbildern, unfreiwilligem Gestammel – allein: Er tut es.

Ergo verfüge auch ich über ungeahnte Kräfte, wie etwa jene, trotz völliger Übermüdung um halb vier Uhr nachts Texte wie diesen mit bebenden Fingern auf den Bildschirm zu pinnen. Was nun aber nicht etwa eine hervorstechende prosaische Qualität implizieren sollte, denn wer diesen hier gelesen hat, kennt eigentlich schon all meine Schreiberzeugnisse – weil es ja doch immer nur um dieselbe Sache geht und ich nicht aus meiner Haut herauskann. Aus meinem beschränkten Sichtfeld, das mir Tag um Tag nur die eigene verfahrene Situation vor Augen führt. Manche nennen sie filmreif, aber so weit würde ich nie gehen. Die Leute sehen einfach gern zu, wie man sich plagt. Ich weiß, ich bin eine Person der Fragezeichen, und es ist bei weitem nicht alles so, wie ich es sage, wenngleich das nicht heißt, dass meine Worte nicht wahr wären. Manchmal herrscht bloß Schweigen vor, und mitunter verrate ich mich auch und hoffe, dass es niemand mitbekommt, was bei gedankenlosen Halbsätzen zwischen Tür und Angel ohnehin sehr unwahrscheinlich wäre.

Die Gegenwart wird durch die Vergangenheit geprägt, und Letztere war nun einmal etwas kurios, wie ich es auszudrücken pflege, aber auch das ist schon wieder viel zu konkret und ich sollte lieber den Mund halten. Darauf achten, dass einfach nichts passiert und am Ende des Jahres erleichtert das Schwinden des Damoklesschwerts zur Kenntnis nehmen. Irgendwann einen abenteuerlichen Roman darüber schreiben, falls mir die Worte bis dahin noch nicht abhandengekommen sind. Die Leerstellen füllen, die sich durch kryptische Andeutungen wie diese immer mehr auftun, je lichter die Welt am Horizont nun schon wieder wird.
Aber letztendlich ist alles ja doch so einfach und es lässt sich mit punktgenauer Präzision erkennen, dass mir wieder mal jemand ganz Bestimmter im Kopf herumspukt, nennen wir es: Ein Du. Welches mich nicht mehr loslässt, seitdem ich nach der vermeintlich ersten Begegnung mit voller Wucht gegen eine dieser feuerfesten Glastüren prallte.

Und vielleicht ist das auch schon das Einzige, worum es hier geht.

Claudia Kraml

freiTEXT ist eine Reihe literarischer Texte. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at


freiTEXT | Simone Scharbert

MIMOSEN
unsere stirn ein neigen
wir atmen entwegt
nähe also konzentrierte haut
nervenzweige rastern die luft
wir hören spüren wir lauschen
sind staunen sind halt sind
lose nastisches gewebe warten
auf reiz gegebene bewegung
legen schulterblätter sacht
auf falten einander
wehen im arm

Simone Scharbert

freiTEXT ist eine Reihe literarischer Texte. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at


freiTEXT | Helene Ziegler

Zeitlupe

Die Uhr macht tick und tack und tick und tack und tick und tack den ganzen Tag. Doch worauf warten wir? Warum leben wir? Warum sind wir hier, auf dieser Welt, die jeder von uns Heimat nennt - wir sind doch alle nur Menschen, denen die Zeit davon rennt.
Der Wecker erklingt und der Tag beginnt. Die Kleidung ist grau, die Augen sind leer, es ist lange her gelacht zu haben. Spaß und Freude gibt’s nicht mehr, denn wir laufen alle mit, in einem Strom von dem wir denken, dass er uns Halt gibt, uns liebt – uns aber eigentlich nicht verdient.
Jeder trägt auf den Schultern seine eigene Last, keiner hat mehr Rast, weil du einfach zu viele Verpflichtungen hast. Denn die Zeit bleibt nicht stehen und du musst weiter gehen.
Ich kann es nicht verstehen, warum wir Menschen uns das antun, wir werden gegen Gefühle immun. Kalt und verloren – einsam und erfroren.
Der Mensch verliert, ist irritiert, da sein Kopf nicht kapiert, was draußen passiert. Sind wir überhaupt noch Menschen? Nein, denn was ich tagtäglich sehe und tagtäglich tue, ist nicht mal menschenähnlich.
Wir sind alle wie ein Computer programmiert, praktisch auf´s Leben trainiert. Gerne würd ich in einer Welt wie dieser noch sagen können „Ich bin immer noch ich“, aber das stimmt nicht. Angepasst, zugeschnitten - gebe ich jeden Tag die gleiche Vorführung, zur selben Zeit am selben Ort und ich kann nicht fort. Keiner kann sich befreien aus dem Bann, aus dem Bann der Zeit, niemand hält sie an. Und wenn man einfach nicht mehr kann, hält unser Herz dann an. Die Zeitlupe beginnt und während die Zeit so schnell verrinnt, verweht das Leben im Wind.
Wir alle sind gleich-berechtigt zum Leben, doch du lebst und hast für´s Leben keine Zeit. Bist frei um zu leben, frei um zu sein - doch in der Menge allein.
Wir sehen Probleme, wo keine sind. Versuchen zu erklären, wofür es keine Gründe gibt. Versuchen zu verhindern, was man nicht verhindern kann, es gibt nun mal Dinge, die man nicht ändern kann. Aber der Mensch denkt, mit Denken kann er alles erreichen, der Zeit, dem Tod, dem Leben ausweichen.
Jeder ist nach außen isoliert, das ist eine Schutzmaßnahme aus Angst, Verzweiflung, Selbsthass. Also warum sind wir nun hier? Letztendlich werden wir doch sowieso verlieren, das Leben verlieren, weil unsere Herzen erfrieren.
Die Uhr tickt munter vor sich hin, wir sind alle in diesem verdammten Kreislauf drin. Jeder schiebt alles vor sich her, aber das will ich nicht mehr. Wir tun nichts, reden davon wie´s sein soll aber nicht ist – bis unsere Zeit dann abgelaufen ist. Klammern uns an etwas, was unsere Seele zerfrisst – bis unsere Zeit dann abgelaufen ist.
Versuch es wenigstens, immer weiter zu gehen, ohne zurück zu sehen. Achte nicht nur auf die Zeit, denn die bleibt sowieso nicht stehen. Lass dir nur nicht von der Zeit das Leben nehmen.

Helene Ziegler

freiTEXT ist eine Reihe literarischer Texte. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at


Der letzte Strip

 

Das soll wirklich der letzte Schulterratten-Strip sein? Das ist das Ende der legendären Comic-Reihe von Peter.W.?

Im Vertrauen, aber "Pssst!", nicht weitersagen: Da kommt noch was. Etwas großes. Mehr Infos bald hier.

 


Im Westen nichts Neues?

Django Unchained (c) Sony

Was ist nun das europäische am Eurowestern, was ihn vom amerikanischen unterscheidet? Und warum entstehen plötzlich wieder gehäuft Filme eines schon totgesagten Genres? Nach Teil 1 und Teil 2 in den letzten Wochen nun der letzte Teil von Andreas Haider.
Read more


freiTEXT | Jonas Linnebank

der baum ist sinnlos
gestorben der stift
ist sinnlos die schrift
sinnlos zerlaufende
tinte auf dem weißen tod

die form ist tot
verbraucht das ich
ist tot der nächste
vers ist tot
sinnlos verbrauchte zei-
len in schwarz
in den tod gesprungen

die melodie ist
zu ende dazwischen
ist leere zeit
der rhythmus ist
verloren ungewiss
tot vielleicht keiner
sucht niemand findet
etwas dahinter
die tür bleibt
verloren ungesucht
verschlossen der sinn
ist tot schlußendlich
vergessen die suche
verloren
vermessen
und tot

Jonas Linnebank

freiTEXT ist eine Reihe literarischer Texte. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at


Schrotflinten im Mühlviertel

Das finstere Tal (c) Filmladen

Letzte Woche begegneten wir Slow West und The Salvation. Neben diesen „richtigen“ Western (die im Wilden Westen spielen) gibt es solche, die ihren Schauplatz in Europa haben, wie der „Red Western“ oder der „Alpenwestern“. Andreas Haider über den Wilden Westen Österreichs und Europas und was das Ganze mit der Universität Salzburg zu tun hat.Read more