freiTEXT | Camilla Lindner

Plastikhandschuhe

Wie zwei genutzte Plastikhandschuhe liegen sie da, die Hände meines Vaters. Liegen da auf dem weißen Tuch und sind ungewöhnlich hell. Ich nehme meine Hände und lege seine Hand in meine. Sie sind kalt. Dann beuge ich mich mit dem Kopf über sie, sie scheinen durchsichtig – kann ich durch sie hindurchschauen? Meine eigenen Hände werden feucht, mit dem Daumen schiebe ich die Feuchtigkeit Richtung Finger. Es ist wie Schnee vom Gehweg räumen, verbunden mit der Hoffnung, darunter etwas Neues zu entdecken und dann die Erkenntnis, wieder einmal auf Asphalt zu schauen. Ich beuge mich noch tiefer, drücke meine Augen auf die Hand meines Vaters.

Ich sehe ihn, die Hände umgreifen einen grünen Schwamm. Das Grün bewegt sich über braune Fliesen, es wischt hin und her und hin und her und hin. Grün und braun vermengen sich. Die Bewegung hat etwas Spielerisches, meine Augen folgen dem Grün und irgendwann werfe ich mich auf es, sage „ich habs“ und mein Vater zieht langsam seine Arme unter meinem Körper hervor. Er legt das Grün in einen Eimer voll Wasser, taucht das Grün hinein, wringt es aus und legt es wieder auf den brauen Boden. Hin und her und her und hin. Es kratzt leise, weiße Schaumbläschen bilden sich an der Seite des Schwamms und meine Augen folgen den Blasen.

Ich puste in meine Hände, sie sind wieder feucht geworden. Ich puste und puste und beobachte dabei die Bläschen. Mein Vater bewegt seine Hände, jetzt strömt mein Atem auf den Boden, dahin wo die Hände sich bewegen und der Atem wickelt sich um das Grün. Ein paar Bläschen lösen sich, fliegen in der Höhe. Dann lösen sie sich auf.

Ich drücke die Hände meines Vaters, lege meine Hände in seine Handfläche. Fahre die bläulichen Adern mit meinen Fingern entlang, die Adern sind endlos und verzweigt. Ich lege meinen Kopf an die Adern und höre es plätschern und rauschen. Der Eimer fällt um und das Wasser verteilt sich auf dem braunen Boden. Wir ziehen Gummistiefel an und ich bringe das Wasser zum Spritzen. Es riecht nach Chlor. Mein Vater nimmt von der Wand einen Besen, hängt darüber einen grauen Lappen und fährt mit dem Besen über die nasse Fläche.

„Schau, Papa“, sage ich und lege mich mit dem Körper auf den nassen Boden, bewege Arme und Beine vor und zurück, so wie beim Schwimmen, „schau“ rufe ich und paddle immer schneller. Die Hände meines Vaters umgreifen mich am Bauch und auf einmal ist es, als ob ich fliege, aber ich schwimme weiter und mein Vater hält mich in der Luft mit den Plastikhandschuhen und den Gummistiefeln und bald bin ich außer Puste.

Er setzt mich auf einen Holzhocker an der Wand und bewegt wieder den Besen über die brauen Fläche. Ich bleibe auf dem Hocker sitzen, wie am Schwimmbeckenrand sitze ich da, die Hände umschlingen die Beine. Ich habe Hunger.

Mein Vater stellt den Besen in den kleinen Schrank neben der Wand mit weißen Fliesen. Er zieht die Handschuhe von seinen Fingern und legt sie über den Seitenrand des Eimers. Die Handschuhfinger schauen auf den Boden. Zwei Tropfen fallen von den Spitzen.

Mein Vater geht zum Waschbecken, über dem ein Metallregal hängt und auf dem Blechschüsseln stehen. Er nimmt sich ein Seifenstück und seift die Hände ein, mehrere Minuten lang. Dann lässt er Wasser darüber laufen und es bilden sich Bläschen an der Stelle, an der das Wasser auf Haut trifft. Er nimmt das weiße Leinhandtuch zwischen die Hände und tupft sie langsam trocken, fährt mit dem Stück Stoff über Handflächen, zwischen die Finger, dann über seine Fingernägel. Er legt das Handtuch ab, zögert, dreht den Wasserhahn nochmals auf, seift die Hände wieder ein, diesmal auch die Unterarme, wäscht sie wieder ab, schüttelt das Wasser von den Fingern, trocknet die Hände. Er zeigt auf das Waschbecken, auch ich wasche mir die Hände, zweimal hintereinander, dann nimmt er meine rechte Hand in seine linke, zieht mit der rechten Hand die Türe zu. Draußen an der Türschwelle greift er in seine Manteltasche und gibt mir ein großes, weißes, rundes Brötchen. Es ist so hell wie seine Haut und ich stecke es in meinen Mund, beiße mit den Zähnen hindurch.

 

Camilla Lindner

 

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freiVERS | Sonja Kuzmics

die rehe sitzen in den gräben und warten
wenn du vorbei gehst springen sie heraus und erschrecken dich
ihre grünen augen leuchten
ihre leuchtenden grünen punkte erinnern dich an
a) den voll aufgeladenen akku deiner bohrmaschine
b) den spind in der therme bevor du ihn zusperrst
c) den spind in der therme wenn du ihn öffnest

 

Sonja Kuzmics

 

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freiTEXT | Max Rauser

Unserzwei

I

Okay, aber was ist wirklich passiert? Die Nacht fiel vom Himmel, schlug auf dem Boden auf und sprang gleich wieder einige Meter zurück in die Luft. Um 23 Uhr ein Kaltgetränk, es verbesserte die Stimmung tatsächlich. Das Wissen um alte Brunnen als Goldquellen brachte sie um Schlaf und Verstand. Sie tanzten einen Ringelreihn, sprangen dann ins Auto und fuhren Richtung Obsoleszenz in die Zukunft, wo sie in eine U- oder S-Bahn umstiegen und sich endlich als Elektronen im großen Strom fühlen konnten. Später betäubten sie sich mit Bier und Cannabis und gingen unter dem Betriebslämpchen eines riesenhaften Mixers schlafen. Das war das Wochenende.

II

Unserzwei
machen eine Rolle vorwärts
Richtung Spiel, und verreisen
nach Diktat.

Unserzwei
schlagen der Nähe
zwischen Liebenden
ein Schnippchen, begraben
vorm Zubettgehen den Hund
und vergessen, wo er liegt.

Unserzwei
leben ihre Viten,
bis es ihnen lange genug gefallen hat,
dann wechseln sie hinter einer Kurve die Pferde
und rangieren im Rückwärtsgang davon.

Unserzwei
sind schon wieder zuhause,
waren so schnell, dass
man sie aus einem Zug, der
in Gegenrichtung unterwegs ist,
noch auf der Straße laufen sehen kann.

III

Unserzwei
gehen spazieren
in leichtem Regen.

Unserzwei
vergessen
sich anzurufen.

Unserzwei
senden einander
beflissene SpraNas.

Unserzwei
fotografieren ab und
zu ihr Essen.

Unserzwei
fahren Monat
um Monat Zug.

Unserzwei
versuchen sich
an spitzen Namen.

Unserzwei
bieten gerne
noch mehr Essen an.

Unserzwei
ziehen unzufrieden
die Decke über sich.

Unserzwei
sagen einander
strenge „Schlaf jetzt“.

Unserzwei
haben voneinander
wenig Ahnung und fragen verzweifelt
„Worüber sprechen wir morgen?“

Unserzwei
lassen sich
zugedeckt anderthalb Minuten
einer Ewigkeit gehen
und weinen nur wenig,
wenn man sie weckt.

IV

Als die Ringe getauscht,
die Wohnung gemietet,
der Van ausgebaut,
der Landstrich befriedet,
die Tickets gekauft
und die Kinder auf dem Weg zu ihnen waren,
trennten sie sich.
Einer zog auf die andere Straßenseite
und seitdem trägt der Hund,
von dem sie beide nicht lassen können,
ihre bitteren Briefe hin und her,
möge doch der Laster ihn endlich erwischen.

V

Okay, aber was ist wirklich passiert? Der Anfang war angemessen glorreich, aber als sie beide nicht mehr wussten, wer sie eigentlich waren, hatte das Spiel an Witz verloren, und die Zweisamkeit war leere Form geworden. Das Wörterbuch gab den Gefühlen den Ausdruck und das gegnerische Gesicht wurde blinde Wand. Sie töteten einander zuerst in effigie, dann faktisch, dann postfaktisch, dann wurden sie gute Freunde. Als sie zurück auf den Markt kamen, waren sieben verflixte Jahre vergangen. Die Nacht fiel vom Himmel, schlug auf dem Boden auf, und nach einigen samtigen Stunden trat an beide ein neuer Morgen heran.
Das war ihre Jugend gewesen.

 

Max Rauser

 

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freiVERS | Felix Reinhuber

die dunkelheit wird, schleichend, tinte

zwei füchse streifen dünn
erinnerte straßen, die

sich nach und nach formieren
an die arbeit gehen

nachtgeparkte lieferwägen
warten. im winkel

der vogel, schwarz. zerhackt
ein stück säugetier

aufgestellte härchen
                     gräser auf brachen

zittern

             flaum, pfirsichlicht

das fußballfeld empfängt, weit, den tag

 

Felix Reinhuber

 

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freiTEXT | Marc Späni

Der Klang der Stille

Stille könnte die Lösung sein, absolute Stille. Wenn nur nicht in der Stille, gerade in der absoluten Stille erst diese Androhung von Lärm steckte, in der Stille wächst sogar die Vorstellung eines Geräuschs ins Unerträgliche, zu einem Grad, der denjenigen des realen Geräuschs um ein Vielfaches übersteigt. Das Einschalten der Kaffeemaschine etwa, diese Kakophonie von Schaben, Klicken, Mahlen, Reiben, Zischen: Jede Komponente für sich genommen ein kleiner Stich, zusammen schon richtig schmerzhaft, in der Vorstellung aber die reinste Folter. Das Hoch- und Niederfahren der Sonnenstoren, der Geschirrspüler, unregelmäßige Schritte auf der Treppe, das Öffnen und Schließen der Zimmertüren. Am schlimmsten: menschliche Laute in all ihren Facetten. Wäre es gleichmäßig, permanent, ginge es vielleicht noch an, aber es ist eine chaotische Abfolge der unterschiedlichsten Teilgeräusche – Tausende, Hunderttausende, wahrscheinlich mehr – und jedes reißt mich von Neuem aus der konzentrierten Arbeit. Ich bin an der Buchführung, an einem Bericht, an einer Statistik, da schreit das Baby, meine Frau murmelt beruhigende Worte, extra leise, aber dadurch erst recht störend, es folgen Schritte, das Schließen von Schranktüren, Geschirrklappern, der Wasserhahn. Und selbst wenn es tatsächlich einmal ganz leise ist, warte ich nur auf das nächste Räuspern, Klirren, Rauschen, Klicken oder Scheppern, und wenn sie mir diesen Wahnsinn ersparen und mich in meinem Home Office oben in Ruhe lassen will, dringt zuerst das Rascheln der Jacken und Mäntel zu mir hoch, das Klimpern von Kleiderbügeln an der Garderobenstange, das Zuschlagen von Schranktüren, die Geräusche des Schlüssels im Türschloss, dann Schritte auf dem Kies, Autotüren, das Anlassen des Motors, aber auch dann, wenn ich ängstlich in die Stille lausche, dauert es nicht lange und fremde Kinder lärmen auf dem Trottoir, der Bus rauscht vorbei, ein Auto hupt oder die Müllabfuhr fährt mit unerträglichem Krach vor.
Dabei muss ich funktionieren, muss meinen Job machen, ich brauche Konzentration, muss eins werden mit meinen Zahlen, meinen Abrechnungen, den Konten und Bilanzen. Absolute Stille wäre nur die angstvolle Erwartung der nächsten Störung, außerdem völlig illusorisch. Nein, die Lösung liegt darin, die unregelmäßigen, unkontrollierbaren Geräusche durch gleichmäßige, kontrollierbare zu überlagern, um aus dieser zermürbenden Erwartung neuer Störungen zu kommen. Radio zum Beispiel geht anfänglich ganz gut, dieser immergleiche Strom von inhaltslosem Schwatzen und anspruchsloser Musik. Alle paar Monate optimiere ich die Senderwahl, stoße auf Radio Swiss Jazz, bei diesem Geplänkel dauern immerhin die Stücke länger, aber irgendwann ist jedes Stück fertig, und schon zuvor warte ich verkrampft darauf, dass nach den letzten Tönen die unkontrollierbaren Geräusche in die kurze Leere platzen, dass unten die Tür geht, ein Kind von der Schule kommt, mit Freunden telefoniert, Videospiele spielt. Ich bin zu Hörbüchern übergegangen, dann zu längeren Hörspielen, die haben weniger Leerräume, nach weiteren Jahren zu Opern, zuerst wahllos, Berlioz, Verdi, Mozart, wie sie alle heißen, dann entdecke ich Wagner. Es ist zwar scheußlich pathetisch, und überhaupt mag ich keine klassische Musik, aber eine Wagneroper hält mich fünf Stunden an der Arbeit, die Berichte und Auswertungen fließen nur so aus mir heraus, ja letzten Endes hat bei der ersten Restrukturierung Richard Wagner wohl meinen Arbeitsplatz gerettet.
Die Chefs oben sind nämlich zufrieden mit meiner Leistung, aber ich weiß, das reicht nicht, ich muss noch produktiver sein, die nächste Restrukturierung kommt, ich muss mehr tun als ich müsste, darf mich nicht ablenken lassen, gar nicht, nie. Nun ist es nicht so, dass die Wirkung eines einmal gewählte Klanghintergrunds über Monate andauert, nein, sie nutzt sich ab, mit der Zeit weiß man intuitiv, wo die Pausen sind, und schon wartet man ängstlich darauf, dass gerade dann eines der Kinder mit dem Wagen vorfährt, mit Partner und Kleinkindern unten Lärm macht, dass die Frau Freundinnen bewirtet, der Postbote klingelt. Immer müssen neue Lösungen her. Ich gehe kaum mehr nach unten, ich kann mir diese Auszeiten nicht mehr leisten, dafür bin ich mit den Jahren aber auch immer besser geworden, meine Berichte lassen keine Beanstandung zu, die zweite und dritte Entlassungswelle schwappt über mich hinweg, viele werden entlassen, ich bleibe. Entdecke irgendwann Youtube-Videos, auf denen stundenlang ein bestimmtes Musikgenre abgespielt wird, Hintergrundmusik für Hörspiele oder Filme: 10 Stunden Horrormusik, 15 Stunden Flamenco-Gitarre, ohne Unterbruch, das ist herrlich, ich steigere meine Effizienz gleich nochmals, werde mit über fünfzig sogar befördert, habe dadurch noch mehr zu erledigen, muss noch mehr Zeit für die Geräuschbewältigung investieren. Denn mit den Videos ist es nicht etwa einfacher geworden: Man muss sie zuerst finden, probehören, herunterladen, die Internetverbindung könnte ja mal abbrechen und man wäre dann dem ganzen Klangdschungel schutzlos ausgeliefert. Außerdem gibt es immer noch Steigerungspotenzial: Von den musikalischen Klangteppichen bin ich auf Geräusche gekommen: 15 Stunden Brandung, Wellen und Möwen, 12 Stunden Alpen mit Kuhglocken und dem Wind in den Tannen, Waldgeräusche in Endlosschlaufe, 10 Stunden fahrendes Auto, 12 Stunden das gleichmäßige Geräusch einer Waschmaschine. Ich nähere mich der Perfektion, auch wenn ich nur noch wenige Jahre arbeiten muss.
Dabei ist es mittlerweile im Haus selbst immer still. Seit die Kinder studieren oder selbst schon zu wichtigen Rädchen in der Maschinerie der Berufswelt geworden sind, seit sich auch meine Frau für ein neues Leben entschieden hat, könnte ich grundsätzlich wieder nach unten gehen, ich könnte sogar unten arbeiten, aber wenn der Ort einmal durch jahrzehntelangen Lärm infiziert ist, bleibt die Erinnerung und die Stille ist nur die Androhung weiteren Lärms und damit weit zerstörerischer als der Lärm selbst.
Wenige Tage vor meiner Pensionierung stoße ich auf ein neues Video: 10 Stunden Alltagsgeräusche eines Haushalts mit Kindern. Damit mache ich weiter, sobald ich offiziell im Ruhestand bin, man kann ja ohnehin nicht einfach aufhören.

 

Marc Späni

 

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freiVERS | Eline Menke

Auf der Autobahn

Im Fahrtenbuch meiner Sätze
fehlt Geschwindigkeit.

Kein Wort ist meinem Weg voraus.
Es ist laut. Du vertraust Geräuschen,

die sich gegenseitig zerfleischen,
leckst Leere von den Lippen,

sprichst von Verdunklungsgefahr
im Freigang der Gedanken.

Ich schweige die Landschaft an,
rausche in sie hinein.

 

Eline Menke

 

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freiTEXT | all caps

lauthals

ich trau mich nicht die töpfe zu säubern, die gläser die gabeln die löffel die tupper die dosen deinen letzten speichel wegzumachen, deine wimpern wegpusten zum staub, deine durchsichtigen fußabdrücke mit dem besen zu kehren, obwohl die straße längst darin übrig ist, zwischen die fliesen gekullert. deinen letzten speichel, den ich so lange vermisst und jetzt wieder misse, mein herz, worüber beugt sich meins, liebling deiner neurone wenn du dir müde den schlaf aus den augen wischst und deine haare zerzaust, wenn du mit müden füßen und durchlüfteten lungen abends durch deine wohnungstür eine sprachnachricht aufnimmst und summst

ich hab den schlaf gesammelt, den du dir aus den augen gewischt hast, hab alle wimpern geschluckt, die du weggepustet hast von meiner zunge in meine luft röhren reiniger kaufe ich nicht brauche ich nicht, weil ich bei jedem halskratzen deine wünsche schmeck en noch nach gelben gummistiefeln zwei paar an verandatreppen runtersteppen in den garten, ich trau mich nicht schon wieder auf etwas zu warten was in der spülmaschine bricht.
ich traue mir zu, dass ich mich an irgendwelchen scherben schneide, deshalb spül ich nicht ab, spür ich nicht hin, schreib ich dir nicht
liebesbriefe
weißt du hab ich oft genug und vorgetragen und immer hör ich dann münder sagen ich dich nicht

ich trau mich nicht mein handy auf laut zu machen, weil was wenn wer anruft und was wenn es bingt und was wenn es du bist und was wenn es klingt, als würde es dir egal sein als wäre das was, was du dich einfach traust

ich trau mich jetzt wieder auf die straßen, diese stadt gehört auch mir meine haut, die
lass ich mir nicht nehmen (nur auf den busbahnhof trau ich mich immer noch nicht ganz)

traue mich (nicht) zu weinen, wenn er bricht, es kullert rückwärts, weil ich außen sonst nicht ernst genommen sonst emotional bin, als wäre das was schlechtes, rückwärts der dammbruch meiner wirbelsäule, wenn alte wunden feuern in alle richtungen und ich decken für die feuer suche, stick dicht im rauch dicht es mir aus den augen quillt statt tropft, rückwärts läuft es meine kehle runter und tropft auf
die zeit zurück, in der wir
im dunkeln flüstern
wir nicht mehr wie tagsüber, weil nur noch wir uns hören können und wenn nur du mich hörst, kann ich gar nichts falsches sagen, wenn nur du mich hören kannst verrate ich dir lauthals, dass ich meine stimme hasse, aber wenn nur du mich hörst, bleibt das unter uns und vielleicht können wir tauschen?
zusammen tragen wir uns durch die stadt, wir trauen uns in jede straße, in jede dunkle gasse, die wir alleine nicht betreten würden, zusammen mit dir traue ich mich zurückzuschreien, wenn uns jemand f**tze aus dem autofenster zubrüllt, du zückst deine mittelfinger und ich traue mich das jetzt auch
das habe ich von dir gelernt und meine zunge, die habe ich dir zu verdanken und meine zähne, die auch. beißen haben wir zusammen gelernt und spucken mit energie, dass es vom pflaster zurückspritzt, winkel berechnet, in die richtige richtung
direkt auf die windschutzscheibe und es wird lauter gebrüllt und der motor aufgeheult und wir flüchten auf den fahrrädern durch die nacht aber hauptsache zurückgebrüllt, hauptsache zusammen
trauen wir uns in jede nacht in jede noch so dunkle ecke
das hab ich von dir gelernt, das nicht schlafen gehen müssen und dass es nachts genug gründe gibt wach zu bleiben und meine schlafstörungen, die hab ich dir zu verdanken

ich trauere nicht mehr um dich.
wir standen in meiner küche, als du gesagt hast, du findest das mit uns ist mehr so freundschaftlich und ich habe genickt, damit mein hals aufgeht und die tränenflüssigkeit sich auf meiner netzhaut gleichmäßig verteilt und bloß keine kleinen kügelchen bildet

ich traue meiner zunge nicht, wieso zitterst du, wieso verrätst du mich
ich traue meiner zunge nicht, weil sie manchmal so high pitched spricht, obwohl ich doch so masc obwohl ich doch so lässig wieso zitterst du wieso sprichst du nicht mich wieso brichst du das bild an solchen tagen trau ich mich nichts sagen dann mach ich mich sprachlos
an supermarktkassen, weil meine stimmbänder sich nach alten regeln anschlagen

alle regeln zerschlagen
das hab ich von dir gelernt
und meine zunge zeigen hab ich dir zu verdanken.
heute hab ich keinen empfang, ich schreib dir briefe aus lesbos, versprochen, ich trau mich jetzt
fang! hechte voraus und sag mir, ist es das, wo wir hergekommen sind
ich trau mich denn der blick zurück sagt vorne liegt mehr der blick zurück sagt zieh los mach dich auf
und ich trau mich das jetzt
irgendwann.

 

all caps

 

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freiVERS | Elia Aubry

Wolken ist ein anderes Gefühl

Wann wirst du wiederkommen frage ich
wirst du wiederkommen?

Der Besuch er kommt zwischen die Zustände
ich meine Wirklichkeit
und meine Wirklichkeit
wo dich der Moment hin und her
wendet zuweilen auch Omeletten
wir fanden unter dem Laub eine Schar
Totentrompeten in Knoblauch geschwenkt

Dass ich denke (immer) wie
ich das gemacht habe mit den Vorstellungen
ich meine Luft unter den Flügeln
und der Wirklichkeit ich meine
Boden unter den Füssen
und der Lust ich meine
das Vergessen der Fallhöhe

wenn dir die Flügel bestellt
nämlich wie brachliegende Felder
im Hand-um-drehen

Der Besuch er linst aus dem Fenster so
als fahnde er dort nach dem Sinn des Lebens
den die Luft (wer weiss) als winzige Materie enthält

Ich meine die Geste des Hypnotiseurs die
dir die Augen in ihren Sockeln wegdreht

Ich flösse dem Besuch beruhigenden Tee ein
streiche ihm behutsam übers Haar und so
weiter halte ich seinen Kopf (Kugel) und richte ihn aus
auf die Einbildung die durch die Wirklichkeit pflügt

Der Horizont er kommt langsam ins Bild
und stellt Gegenwart her ein schmaler
Streifen Himmel erhellt sich
heller rot röter und so
weiter denke ich an einer Stelle so hell
dass es weh tut beim Hineinschauen es

ist 8 Uhr 34 und die Sonne wirft eine Zeichnung
an die Wand über dem Küchentisch
wir meinen die gleiche wie letztes Jahr

Wir führen Protokoll ein Inventar
vor einem Jahr

:in die Sanduhr
hinein
eine Oase denken

Der Besuch er sagt unsere Wörter sind wild
und scheu
nachts schleichen sie einsam durch die Gassen
und benehmen sich unangemessen

Es ist, letzten Endes, das gute
Recht der Wörter, die Dinge durcheinander
zu bringen und […] (G.B.)

Der Besuch er ist gegangen er kommt
und geht wie es ihm passt
er hinterlässt Sätze mit Augen
und Ohren gestohlen
ausgeschüttet am Küchentisch

:der Schreibende wobei
er sich darüber nicht (mehr) im Klaren ist

Ich schreibe: ich schreibe…
Ich schreibe: «ich schreibe…»
Ich schreibe, dass ich schreibe…(G.P.)

Ich schreibe:
wer sich aufs Schreiben einlässt
der tut es nicht um sein Leben zu retten
er tut es um sein Leben zu leben und

merke die Wörter sie hecheln nach Luft

die Möglichkeit ein Wort zu tauschen
die Möglichkeit ein Wort zu leihen
die Möglichkeit ein Wort weiterzuverleihen
ich habe das lange nicht verstanden
die Anatomie von
ich meine die Evolution eines Satzes

Gib mir eine Erinnerung sagt der Besuch
Einfach so eine zufällige?
Ja die erste die sich um 8.45 am Küchentisch einstellt

Die Unmöglichkeit ein Wort zu tauschen
Die Unmöglichkeit ein Wort zu leihen
Die Unmöglichkeit ein Wort weiterzuverleihen
fast hätte ich gesagt Sprachlosigkeit

oder wir legten Wörter in unsere Köpfe
wie etwas Zerbrechliches in etwas Zerbrechliches

Wie lange noch fragt der Besuch
wann werden wir
und eine Handvoll Wunder am Wegrand
Bilder machen um zu sehen
ob sie uns entsprechen

Der Besuch er sagt
ich werde ein Gefühl für dich
an dem du entlangleben kannst

Morgens liegen wir träumend in der Schwerelosigkeit
das Erwachen wie ein Wiedereintritt
wie Verrat an den Träumen
die Schwerkraft als Strafe

Und Träume solche die hinüber
wollen und kleben bleiben
fast hätte ich gesagt wie Scheisse
schlagen wir in den Wind
Bäume im Wind nie sind sie schöner
ich meine Gedanken in den Wind
nie schöner vielleicht
in den Wolken

Wolken ist ein anderes Gefühl

 

 

Literaturnachweis:
Georges Bataille, 2005, Kritisches Wörterbuch, Merve Verlag Leipzig
Georges Perec, 2013, Träume von Räumen, Diaphanes Verlag Zürich

 

Elia Aubry

 

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freiTEXT | Tillmann Lösch

Rauchmelder

Das Aufstehen ist
ein Problem.
Manchmal geht es einfach nicht.
Selbst dann nicht, wenn ich auf die Toilette muss.
Hüfte, Knie – morsches Holz.
Die Frau, die zweimal die Woche klingelt, die mir die Wäsche macht, die das Geschirr aus weißem Hartplastik von der AWO rausstellt, sie würde gerne mehr helfen,
sagt sie.
Aber so viel Zeit, wie es dafür bräuchte,
hat sie nicht.
Es riecht
unangenehm.
Nein, es stinkt.
Es stinkt nach Pisse. Der Gestank ist im Bad. Hält sich im Fernsehzimmer. Im Schlafzimmer. Ich kriege ihn nicht mehr raus.
Schämte mich,
als der Schornsteinfeger ins Haus musste, um etwas abzulesen.
Die Treppe nach unten bedeutet nichts
als Schmerzen.
Am Morgen herunter und später wieder rauf. Ein Mal am Tag mache ich das. Wenn es geht, setze ich mich und rutsche herab.
Eine Stufe,
eine Pause.
Im Erdgeschoss steht mein Rollator, oben lehnen die Stöcke. Damit komme ich zurück bis zum Sessel. Noch. Aber was,
wenn ich falle?

Irrsinn sagen die Kinder. Ich sage nichts.
Sie haben sich abgesprochen. Das merke ich
daran, wie sie mir gegenübersitzen. Wie sie sich die Bälle zuwerfen. Sie reden über mich, als wäre ich
gar nicht da.
Eine Situation nennen sie es. Eine Lösung muss gefunden werden, sagen sie. Eine, die finanziell machbar ist.
Ich sage,
dass sie sich zum Teufel scheren können, dass es mein Haus ist und ich sehe,
wie sie den Kopf schütteln.
Ein ganzes Leben. Siedlungsfeste, Kegelverein, Adler Osterfeld, Kumpels von der Zeche.
Wenn ich von hier weggehe,
komme ich nicht mehr wieder.

Ein Starren ins Nichts. Mandalas und Suppe. Sie spielen Mensch ärgere dich nicht, und wenn sie würfeln, pressen sie ihre faltigen Lippen aufeinander und dann freuen sie sich, wie kleine Kinder es tun. Man hat uns eingesperrt. Man sagt es nicht, aber
es ist so.
Je länger man so lebt, desto mehr vergeht man.
Der Tod
ist allgegenwärtig,
wartet geduldig
und legt denen, die im Gesellschaftsraum singen wie die Bekloppten, bereits seine Hand auf die Schulter.
Ich ertrage es
nicht.

Ich existiere nur mehr in einem Zimmer von zwölf Quadratmetern.
Ich löse Kreuzworträtsel.
Ich schlafe.
Ich sehe aus dem Fenster in den Garten.
Durch die Vorhänge der Wohnungen gegenüber beobachte ich, wie fremde Familien aufstehen, die Kinder morgens frühstücken, bevor sie in die Schule gehen, die Eltern abends von der Arbeit kommen,
essen,
streiten,
fernsehen.

Mein Enkel war bei mir und hat grüne Hanteln mitgebracht. Ein Kilogramm pro Stück. Für die Arme meint er. Wie es mir geht, hat er gefragt, als wir uns gegenübersaßen. Ob das Essen in Ordnung ist? Ob ich mich langweile? Das Zimmer findet er ganz schön. Ein bisschen klein vielleicht, aber ansonsten doch in Ordnung? Sogar mit Blick auf den Garten. Und schön hell, wenn die Sonne scheint. Eine Ausbildung will er machen.
Schweigen.
Verabschiedung.
Die Hanteln habe ich seither nicht benutzt.

Ich sitze am Fenster und öffne die Augen. Musik. Gelächter, Alkohol und Zigaretten. Viele Gäste waren früher bei uns. Auch ein guter Bekannter aus dem Kegelverein. Einmal beugte er sich vornüber und sagte etwas zu meiner Frau. Sie sah ihn erschrocken an. Dann sah sie zu mir. Ich sagte nichts. Obwohl ich es gehört hatte, hielt ich den Mund, trank weiter und lachte mit den anderen bis zum nächsten Morgen.
Danach sah sie mich anders an.

Ich halte den Hörer fest in der Hand. Wenn ich könnte,
ich würde ihn zerdrücken.
Doch ich kann nicht. Stattdessen höre ich, was man mir mitzuteilen hat.
Viel
gibt es nicht zu sagen. Ich notiere Datum und Uhrzeit, bedanke mich und lege auf.
Bin der letzte, der noch da ist.

Der junge Pfarrer behauptet, das Leben sei ein Fluss im ständigen Wandel. Eine hoffnungsvolle Bewegung hin zu einem großen Ganzen, einem ewigen Meer, sagt er.
Eisernes Schweigen
schlägt ihm aus den müden Gesichtern derjenigen entgegen, die zur Beerdigung gekommen sind und von denen ich niemanden kenne.
Ich möchte aufstehen.
Möchte rufen, dass nichts so ist, wie er behauptet.
Weder Fluss noch Meer habe ich vor Augen. Ein Trotzen. Eine ständige Rückschau. Erinnern, vergessen. Wut und Scham über Dinge, die geschehen sind und die nachhallen. Vor allem aber ein Warten. Da ist keine Hoffnung, da ist nur Angst am Ende alleine zu sein. Das alles möchte ich ihm zurufen,
möchte ihn packen und schütteln.
Doch ich sage nichts und später nicke ich ihm zu, als er an mir vorübergeht.

In meinem Zimmer hängt an der Decke ein Rauchmelder. Ich weiß, dass er funktioniert, denn er blinkt regelmäßig fünfmal pro Minute. Ich habe gezählt. Habe den Rauchmelder angesehen und an meinen Fingern mitgezählt. Während sie draußen auf den Fluren singen, sitze ich auf einem Stuhl am Fenster
und zähle noch mal.

 

Tillmann Lösch

 

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freiVERS | Torsten Siche

andächtig

Vermoosung unter der Zunge
mehr als ein aufgestoßenes Gebet
zwischen den Seiten zittern
die Finger ein Lied herbei

ein Krächzen gespuckt statt Lobpreis
die Erinnerung splittert unter den Nägeln
schnell überwachsen die Spuren im Gras

noch knistert das Laub des letzten Jahres
unter den Schuhen erhebt sich der Gesang
wie fallen gelassen kurz nach der Geburt

Bruchstein unter Efeu vergessen
beim Näherknien bricht das Dickicht
unter der Stirn keine Melodie
kein Klageton

 

Torsten Siche

 

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