freiTEXT | Hendrik Bloem

Im Laufe des Mais

Ich arbeite im Laufe des Mais die Gebrauchsspuren heraus.
„Davor, wie das klingt, was ich sage, habe ich einfach keine Angst,“
ist so glatt gelogen, wie ungeleckt.
„Man kann nicht dies, das und jenes tun und dann ist man glücklich.“
Das hab ich erst spät verstanden, weil ich spreche kein Phrasisch.
Ich installier ne App fürs Wetter, weil ich den Himmel hier nicht seh.
Was heute für mich Beton ist, war für meine Großeltern
die blickdichte Gardine und die vielen Orchideen.

„Wie soll man das verstehen, wie soll man das verstehn?“
Das Leben ist eine Kunst, die gepflegt werden muss.
„Wie soll man das verstehen, wie soll man das verstehn?“
Was das Leben nicht kann, schafft die Kunst.

Stil ist keine Frage des Alters, sondern des Geschmacks.
Im Laufe des Mais erkennen wir das große Ganze nur noch im Detail.
Tshirtslogan falls sich mal jemand beschwert: Fahr da hin und hau die.
Ich denk nur noch in Tshirtslogans á la 'Fahr da hin und hau die'.
Oder wenn dich etwas stört, einen Sampleknopf zu haben,
mit nur einem Satz: „Fahr da hin und hau die.“

„Wie soll man das verstehen, wie soll man das verstehn?“
Das Leben ist eine Kunst, die gepflegt werden muss.
„Wie soll man das verstehen, wie soll man das verstehn?“
Was das Leben nicht kann, schafft die Kunst.

Das Neue entsteht immer vor dem Hintergrund der Geschichte.
Ein ebenerdiger Balkon ist auch nur ne Mauer vorm Fenster.
Und wenn ich krank bin, geh ich in Geschäfte die ich nicht mag.
In München Stamperl, am Niederrhein Pinneken und in Bielefeld Pinnchen.
Im Laufe des Mais heißt es Schnaps- oder Kurzenglas.
In gewachsenen Labyrinthen verdurste ich erst auf dem Rückweg, also gib Gas.
Vor Lampedusa ertrinken Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa, kein Spaß.

„Wie soll man das verstehen, wie soll man das verstehn?“
Das Leben ist eine Kunst, die gepflegt werden muss.
„Wie soll man das verstehen, wie soll man das verstehn?“
Was das Leben nicht kann, schafft die Kunst.

Hendrik Bloem

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freiTEXT 2014-15 als eBook

freiTEXT14-15

Ein Jahr freiTEXT ist vergangen - es wird Zeit für die große Nachlese. Die Anthologie mit allen Texten aus 52 Wochen freiTEXT ist ab sofort als kostenloser eBook-Download erhältlich.

mit Texten von Thomas Mulitzer, Tobias Roth, Andrea Weiss, Sabine F., Magdalena Ecker, Claudia Kraml, Eva Löchli, Andreas Haider, Madlin Kupko, Dijana Dreznjak, Ingeborg Kraschl, Fabian Bönte, Simone Scharbert, Renate Katzer, Jacqueline Krenka, Karin Seidner, Nico Feiden, Sabine Roidl, Sven Heuchert, Veronika Aschenbrenner, Sarah Krennbauer, Philipp Feman, Matthias Engels, Clemens Schittko, Eva Wimmer, Gerhard Steinlechner, Matthias Dietrich, Christine Gnahn, Eva Weissensteiner, Marie Gamillscheg, Satie Gaia, Lina Mairinger, Jonis Hartmann, Philipp Böhm, Lütfiye Güzel, Kerstin Fischer, André Patten, Katrin Theiner, Daniel Ableev, Marina Büttner und Martin Piekar.


freiTEXT | Markus Streichardt

Im Plastozän

 „Vor wie vielen Tagen bin ich gestrandet?“ Er lacht gequält und schüttelt gleichzeitig den Kopf. „Gestrandet, dass mir ausgerechnet dieses Wort einfällt. Absurd. Wäre ich doch an einen Strand gespült worden!“, flucht er durch die Zähne. „Die Überlebenschance wäre nicht geringer, aber das Ende gewiss erträglicher gewesen. Auf einer einsamen dafür paradiesisch schönen Insel, wie man sie sich gemeinhin vorstellt. Feiner weißer Sandstrand und 20m hohe schattenspende Kokosnusspalmen. Aber hier nichts dergleichen. Immerhin ist es bewölkt.“

Die Crewmitglieder schrien wild durcheinander und gaben Anweisungen auf Spanisch. Eine Sprache, die er kaum verstand. Jemand drückte ihm ein mechanisches Mini-Anemometer in die Hand, als wäre er ein Kind, das ein Spielzeug zur Beruhigung brauchte. Und es wirkte tatsächlich. Er starrte weniger verängstigt als fasziniert auf das immer schneller rotierende Flügelrad. Die digitale Anzeige sprang hin und her, von 47 auf 51 Knoten und zurück. Er wusste, dass 20 Knoten ca. 37 km/h entsprechen und begann umzurechnen.

Als das Anemometer 60 Knoten maß, glaubte er, jeden Moment davon zu fliegen. Stattdessen rutschte ihm der Windmesser aus der Hand und über den Boden Richtung Bug. Er stand mit einer Selbstverständlichkeit auf, als wolle er einen alten Schulfreund, der soeben zur Tür her reinkam, freudig begrüßen. Er machte keine zwei Schritte, da wurde das Boot von einer Welle emporgehoben, er verlor das Gleichgewicht, prallte mit dem Rücken gegen den Mast und fiel beim nächsten Wellenschlag kopfüber die Reling.

Als er wieder zu sich kam, lag er zusammengekauert auf einem beigefarbenen Kühlschrank. Die Kühl-Gefrier-Kombination maß genau 180 Zentimeter und entsprach seiner Körpergröße.

Er versuchte sich zu verorten, seine Position zu bestimmen, indem er verzweifelt den Kopf in alle Himmelsrichtungen drehte, ohne irgendein Fixpunkt festmachen zu können. Das Unterfangen war schier hoffnungslos allein wegen seiner Kurzsichtigkeit. Hinzukam, dass er ständig die vom Salzwasser geröteten Augen zusammenkniff. So trieb er für Stunden dahin.

„Ich hätte eher erwartet, von modernen Piraten gekidnappt zu werden.“ Er stellte sich vor, wie er den Millionenbetrag mit einem schwarzen Edding auf ein Blatt Papier schreibt, um dann vor laufender Kamera die deutsche Regierung anzuflehen, den Lösegeldforderungen nachzukommen. „Zwei oder wenigstens eine Million halte ich für angemessen.“ Er lachte.

Es zeigten sich schemenhafte Umrisse einer Art Bergspitze, zumindest ragte etwas Großes aus dem Wasser. Obwohl die Strömung ihn auf direktem Wege dorthin spülte, legte er sich auf den Bauch und begann hektisch zu paddeln. Er kam nur unwesentlich schneller vorwärts und war alsbald erschöpft. Er erschrak und fiel beinahe ins Wasser, als er sich mit der linken Hand in den Plastikringen eines Sixpacks verhedderte. Er befreite sich davon und hielt die Ringe ungläubig vor die Augen. Dann schleuderte er sie plötzlich mit einer ungeheuren Wut zurück ins Wasser. Er bemerkte nun erst, wie viel Plastikmüll um ihn herumschwamm. Neben unzähligen Plastikringen, die einstmals Bier- und Coca-Cola-Dosen zusammenhielten, tummelten sich gepresste Plastikflaschen, löchrige Plastiktüten und Plastikeimer, Kabeltrommeln sowie Zahnbürsten, Einwegrasierer und CD-Hüllen. Er zog angewidert die Hände und Füße aus dem Wasser und rieb sie trocken, als müsse er sich vor einer gefährlichen Krankheit schützen.

Der sich vor ihm auftürmende Berg war zwar eine Insel, glich jedoch vielmehr einer gigantischen Müllhalde inmitten des Nordpazifischen Ozeans. Der Strand war als solcher kaum zu erkennen, er wurde über-, geradezu verdeckt von Abermillionen kleinen und großen überwiegend aschfahlen Plastikstücken mit wenigen bunten Einsprengseln, die in der Sonne matt glänzten. Haushaltsgeräte in allen erdenklichen Größen und Formen ragten wie Pfeiler heraus. Der Kühlschrank, auf dem er saß, reihte sich perfekt ein.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Er fingerte an der Schwimmweste, stellte die Lampe an und aus, dann stand er auf und ging an Land. Der Untergrund knirschte und quietschte unter jedem Schritt, als würde er über den Linoleumboden einer Sporthalle laufen.

Auf seinen Streifzügen kartografiert er die Insel. Er kommt auf eine Größe von knapp zehn Quadratkilometern. Im nördlichen Teil gibt es einzig ein paar abgestorbene Plamen, wobei zwei Baumstämme glücklicherweise dicht genug beieinanderstehen, an denen er eine löchrige Zeltplane aufgespannt hat. Sein Lager.

Karge Felsklippen begrenzen den Osten und den Süden und werden hin und wieder von Eissturmvögeln angeflogen. Wenn er dort verbeikommt, versucht er sie durch gezielte Steinschläge zu töten. Die Versuche scheitern jedes Mal kläglich. Der Hunger rumort in ihm, aber er ist noch nicht stark genug, um seinen Ekel vor den an kaputten Leuchtstoffröhren klebenden Rankenfußkrebsen zu überwinden. „Das Abnehmen tut mir gut, ich verfüge über genügend Fettreserven“, redet er sich ein, während er seinen salzverkrusteten Bauch streichelt.

Er ist vor allem durstig, die ganze Zeit. Er trinkt Regenwasser, das sich in Pfützen und Kanistern gesammelt hat. „Immerhin ist es bewölkt, ansonsten wäre ich vermutlich schon verdurstet oder geröstet.“

Im Westen der Insel, wo er an Land ging, konzentriert sich der Großteil des Plastikmülls, der dann vom Wind und Überschwemmungen weiter ins Innere getragen wird.

Er findet Gummihandschuhe und Gummistiefel, von denen er sich das jeweils beste Paar anzieht.

Er findet Plastikboxen mit verrubbelten Etiketten in englischer und spanischer Sprache sowie mit chinesischen und japanischen Schriftzeichen.

Er findet zerbeulte Schwimmbecken voll mit Kinderspielzeug, da drunter Elektroautos ohne Fernbedienung, Powerrangers, von denen manchen ein Arm oder der Kopf fehlt, sowie Giraffen, Elefanten, Büffel, Krokodile, Flamingos, Zebras und weitere Plastiktiere, die in Summe die Artenvielfalt des Berliner Zoos abbilden könnte.

Er findet abgelaufene Kreditkarten, Club-Karten und Bibliotheksausweise. Er kombiniert sie miteinander und bezahlt damit imaginierte Ware oder leiht Bücher aus. Er erfindet Dialoge und alberne Buchtitel wie Der alte Mann und das Plastikmeer oder Der Vierunddreißigjährige, der ohne Schweizer Taschenmesser an Board ging und verschwand. Er lacht.

Er findet ausgetragene Turnschuhe, Tetrapacks, Blechdosen, Styroporreste, mit denen er sein Lager auslegt, Reusen, an Bojen und Seilen saugende Muscheln, Lichtschalterabdeckungen, Kosmetikdöschen und –fläschchen, uralt Röhrenbildfernseher, aber auch das Gehäuse eines modernen Ultra-HD-Fernsehers. „Es ist nicht lange her“, erinnert er sich, „da stand ich selbst noch vor solch einem Modell bei Media-Markt und war äußerst verzückt von der Bildschärfe und dem Detailreichtum.“

Er findet Tausende von Handyhüllen, aber kaum Handys.

Er findet so vieles, nur einen Gefährten nicht. Keinen Freitag.

Er würde gern ein Tagebuch führen und Zeugnis ablegen. „Nur ist Papier leider Mangelware.“ Er lacht. Er lacht viel, seit er hier festsitzt.

„Warum habe ich bloß die Bootstour gebucht?“, fragt er sich immer wieder, obwohl er die Antwort weiß. Nach vier Tagen paradiesischer Eintönigkeit – bestehend aus Schnorcheln und Strandmassagen - war er auf der Suche nach etwas Abenteuer gewesen. Da kam ihm das Angebot plus 15% Rabatt für Hotelgäste gerade recht. Er unterschrieb ohne zu zögern die Verzichtserklärung.

Nachts beginnen Müll und Meer zu leuchten. Planktonorganismen steigen auf und blinken hellblau, sobald sie ausgerechnet mit dem Plastikschrott in Berührung kommen. Überall in den kleinen Buchten blitzt es permanent. Obwohl das Licht kalt ist, gibt es ihm ein Gefühl von Sicherheit. „Und das Schauspiel ist es vielleicht wert gewesen.“ Ohne das es näher zu bestimmen.

„Ich bin noch nicht tot“, murmelt er vor sich hin. Er erinnert sich an das letzte Personalgespräch. Sein Vorgesetzter hatte ihn zunächst für die geflissentliche Arbeit gelobt, um dann mehr Engagement zu fordern. Er kritisierte ihn dafür zu kritisch zu sein. Und die Personalleiterin ermunterte ihn, die strukturellen Veränderungen, die die Firma auf allen Ebenen erfasse, positiv anzunehmen und produktiv zu verwerten. Er schreit trotzig: „Ich bin am Leben.“ Er hält auch diese Aussage für verbesserungswürdig. Er schreit so laut, dass sich die Stimme überschlägt: „ichlebeichleeebeichleeeeeeeebe.“ Sein Vorgesetzter würde diese Einstellung bestimmt begrüßen und stolz auf ihn sein. Er lacht und kann nicht mehr aufhören vor Lachen.

Er entscheidet, dass er seit drei Tagen hier festsitzt. Und die Insel eine Müllhalde ist. Eine Müllhalde, die regelmäßig von Müllmännern angesteuert wird. „Es sind bestimmt ehemalige Fischer“, behauptet er mit voller Überzeugung, „die vom Fang nicht mehr ihre Familien ernähren können und nun Müll vom Festland aufs weite Meer hinaus transportieren. Sie werden bald kommen, vielleicht schon morgen, und mich dann retten. In Deutschland kommt die Müllabfuhr ja auch einmal die Woche.“

Markus Streichardt

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"Wir sind zu alt für diesen Scheiss!" - Lesereise Bayern

Weil man ja auch mal raus muss haben wir kurzerhand Lisa Viktoria Niederberger und Marko Dinic eingepackt und sind auf Schweinsbraten-Tour zu unseren bajuwarischen Nachbarn gefahren. Unzählige Zugstunden, Frühstücke am Nachmittag und das beständigen Suchen nach öffentlichem W-Lan später kamen wir zu dem Schluss: So ein Rockstardasein ist nicht leicht.

Inklusive Texten von Alke Stachler, Lisa Viktoria Niederberger und Franziska Baur.

Alle Fotos hier.

Die Lesereise in Zahlen

  • 637 Kilometer Zugfahrt in 8:32 Stunden
  • 48 mal folgende Frage an wechselnden Orten: "Gibbs do Wee Lan?"
  • 22 neue Wörter gelernt ("Was heißt denn 'pfriemeln'?" - "Kletzln." - "Aha. Und was heißt 'kletzln'?")
  • 14 Beiträge von 7 AutorInnen an 3 Tagen in 3 Städten
  • 1 abgebrochener Zahn
  • 0 konsumierte Schweinsbraten (eine Schande!)

Abend 1: München

Zu Gast im Salon Irkutsk - bei Borschtsch, Wodka und alten Bekannten. Zumindest empfanden wir so die Stimmung. Vielleicht lag das an den Autorkollegen vor Ort, die uns besucht haben. Auf der Barhocker-Bühne wurden wir unterstützt von Ricarda Kiel, Franziska Baur, Katrin Baumer und Fabian Bross.

Alle Fotos hier.

Abend 2: Pfaffenhofen

Den Schwung des ersten Abends konnten wir nicht ganz in den nächsten Tag mitnehmen. Wir wussten nicht genau, woran es lag, aber zumindest teilweise hatten wir noch Nachholbedarf in Sachen Schlaf während andere vergeblich offenes W-Lan in der 25 000 Einwohner-Stadt suchten. Und plötzlich stehst du vor einem riesigen Banner an der Hauswand des Kreativquartiers "Alte Kämmerei".

Nur zwei Lesende bedeutete die stärkere Konzentration auf die vorgetragenen, längeren Texte und eine intensivere Diskussion im Anschluss. Marko führte die PfaffenhofenerInnen auf einen Spaziergang durch Salzburg und Lisa entschied sich spontan, noch einmal eischlofn aus X zu lesen. Krönender Abschluss: das Single-Kassetten-DJ-Set.

Alle Fotos hier.

Abend 3: Nürnberg

Nürnberg soll ja schön sein. Tja, wir nahmen die Stadt im klassischen Tournee-Stil wahr: Ankunft - Hotel - Auftritt - Party. Das Team des Salon Regina empfing uns mit offenen Armen und ermöglichte uns einen überaus angenehmen Abschluss. Neben Franziska, Katrin und Fabian stieß auch Alke Stachler aus dem benachbarten Augsburg dazu und ergänzte den abwechslungsreichen und gemütlichen Abend.

Alle Fotos hier.

Die Texte

Als Nachlese noch eine kleine, lose Sammlung von Texten der Tour von Alke Stachler, Lisa Viktoria Niederberger und Franziska Baur.

 

Alke Stachler

eines tages wachst du auf und spürst, deine seele hat den körper einer qualle, eines fragilen feenwesens ohne augen oder hände, mit freigelegtem bläulichem innern. und deutlicher als dir lieb ist fühlst du                       ihre fadenartigen gliedmaßen sich im nichts abstoßen, sich kräuseln wie um etwas zuzunähen, das wasser, dich, sie ist fast ohne konsistenz, ein pures, von allem abgeschältes pulsieren, ein schlag ohne herz. ihre durchsichtigkeit lässt dich zusammenzucken, die deutlichkeit ihres absolut fehlenden gewichts


 

Lisa Viktoria Niederberger

Da, wo der Kopf anfängt und der Hals aufhört

Ich zünde mir die gefühlte hundertste Zigarette des Abends an und blicke wieder zu Katinka. Schon seit mindestens drei Jahren sehe ich ihr mehrmals die Woche beim Arbeiten zu, habe sie nie wirklich beachtet, sie nicht als schön oder aufregend wahrgenommen, bis vor Kurzem. Plötzlich fällt mir auf, wie sie es schafft, Anmut und Eleganz, mit einem Hauch von Keckheit in die einfachsten Handlungen zu legen. Auch jetzt muss ich sie anschauen, muss bewundern, wie sie mit ihren kleinen Fingern das Bierglas nimmt, es locker von der linken in die rechte Hand wirft, es mit der Gläserdusche kurz mit Wasser ausspült, den Kerl der es bestellt hat leicht anlächelt, und dann unter den Zapfhahn hält. Katinka legt dabei immer den Kopf leicht schief, so als würde sie dann besser sehen können, wie das Bier ins Glas sprudelt. Manchmal beißt sie sich dabei auf die Unterlippe, das Gesicht angespannt in purer Konzentration. Mit den Hüften wackelt sie im Takt zur Musik. Nicht kokett, nicht aufdringlich, mehr so, als würde sie es genießen, als würde sie Spaß haben, so als würde sie gerne tanzen und müsste sich zusammenreißen, es nicht zu tun. Und gerade diese Zurückhaltung in der Bewegung macht sie so erotisch.

Katinkas Haare sind braun und lockig, sie hängen ihr bis über die Schultern. Anhand von Katinkas Locken kann man feststellen, ob sie einen stressigen Arbeitsabend hat, oder nicht. Geht es locker und gemütlich zu, dann sind es eher Wellen. Ist der Laden brechend voll, beginnt sie zu schwitzen und ihre Locken ziehen sich zusammen, werden eine richtige Krause.

Vor drei Wochen habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, wie Katinka wohl nackt aussieht, welche Unterwäsche sie wohl trägt unter dieser langweiligen und unförmigen Bluse mit dem aufgestickten Lokallogo, die sie immer anhat, wenn ich sie sehe. Ich bin im Bett gelegen, und der Gedanke war da. Jana ist auf meinem Oberkörper gelegen, hat geschlafen, mit dem Arm um mich, ich hellwach und mit den Gedanken wo anderes, habe mir gedacht, dass das falsch ist, dass ich das nicht kann, dass ich das nicht darf, man das nicht tut. Und trotzdem bin ich ins Bad, hab mich eingeschlossen und mit der Hand in meiner Boxershort überlegt, welche Farbe wohl Katinkas Brustwarzen haben und ob sie diese wohl lieber sanft geleckt oder fest gebissen bekommt. Hab dann die klebrige Boxershort beschämt die Waschmaschine gestopft, in den Spiegel gesehen und hätte mir gerne eine reingehauen, weil ich das doch nicht tu, weil ich nicht der Typ bin, der sich nachts heimlich im Bad einen runter holt, dabei an eine Fremde denkt, wo er doch eine Frau im Bett liegen hat, die er liebt und begehrt. Und wie ich mich dann zurückgelegt habe, extra nahe an Jana, zu ihr unter die Decke statt unter meine eigene, hab ich beschlossen, ich geh da nie wieder hin, ich such mir ein anderes Lokal, ich kann das nicht.

Ich bin betrunken gewesen, hab mich an der Bar kurz ausgeruht, den Kopf auf den Tresen gelegt und das kühle Holz an der Wange gespürt. Und dann plötzlich, Katinkas Hand. In meinen Haaren, an meiner Kopfhaut, da hinten wo der Kopf anfängt und der Hals aufhört. Eine unschuldige Berührung, ein kurzer Griff, nur mit den Fingerkuppen. Und trotzdem hab ich sie sofort überall gespürt, den Kopf hochgerissen, sie angestarrt. Sie hat nichts gesagt, ich hab nichts gesagt. Aber ihre Mundwinkel haben sich leicht nach oben gezogen, sie hat gegrinst und mich nicht nur angesehen, sondern in mich hinein.

Seit drei Wochen drehen sich meine Gedanken im Kreis. Ich wache auf und denke an Katinka, drehe das Radio an, höre ein Lied und frage mich, ob Katinka dazu wohl auch so sanft mit dem Arsch wackeln würde. Hab mir dutzende Male vorgenommen, sie auszublenden, mich lieber zu fragen, warum das denn auf einmal so ist. Dass mir diese Frau jahrelang doch egal gewesen ist, niemand mehr für mich gewesen ist, als die Barkeeperin mit dem lustigen Namen, die mir Samstagabend mein Bier hingestellt hat und mit der ich hin und wieder ein paar Sätze gewechselt habe, wenn meine Kumpels sich verspätet haben. Ob das nicht eigentlich mehr über mich aussagt, als über sie, oder über Jana, mich und Jana, ob bei uns was anders ist auf einmal, es fällt mir nichts ein. Aber mein Hinterkopf beginnt zu Kribbeln.

Seit drei Wochen nehme ich mir vor, ich geh da nicht mehr hin. Und trotzdem sitze ich wieder hier, da an Katinkas Bar, da wo ich immer sitze.

Katinka trägt einen kleinen Aluminiumkübel voller Eiswürfel an mir vorbei, ich rieche schwach ihr Parfum. Sie singt leise mit.

Und da sind wieder diese Bilder, die nicht sein sollten: Ich sehe Katinka neben mir auf dem Beifahrersitz, das Fenster ist offen, ihre Locken zerzaust vom Fahrtwind, sie hat ihre Beine nach draußen gesteckt. Ihre Zehen sind winzig, die Nägel rot lackiert, die Füßen liegen auf dem Seitenspiegel. Ich fahre über kroatische Landstraßen, vorbei an halbfertigen Häusern, Olivenhainen und Ziegenherden. Aus dem Boxen dröhnt, wie hier im Lokal, Creedence Cleerwater Revival. Und im Gegensatz zur echten Katinka, die eigentlich gar nicht richtig singt, sondern nur den Text mitflüstert, während sie gerade einer Gruppe Jungs in Superheldenkostümen Jägermeister über die Bar reicht, singt die Fantasie-Katinka lautstark, sieht mich dabei von der Seite an, lächelt und legt mir die Hand auf den Oberschenkel. Fantasie-Katinka und ich fahren von der Hauptstraße ab, in einen kleinen Feldweg hinein, wo wir uns unter einem Feigenbaum in die Wiese legen. Wir würden dort bis zur Nacht liegen bleiben, irgendein lauwarmes einheimisches Bier trinken. Ich würde zu ihr sagen, schau mal, Katinka, die Milchstraße, man sieht sie hier besonders gut, weil es viel dunkler ist, als bei uns zuhaue und ihr dann meinen Schwanz in den Mund stecken.

Mir wird der Mund trocken, als ich mein Bierglas hebe, bin ich ganz verwundert, dass es leer ist. Das ist neu, das passiert uns normalerweise nie, mir und Katinka, weil sie das eigentlich weiß, dass sie mir so lange ungefragt ein neues hinstellen kann, bis ich sage, du, danke, es reicht für heute. Sie sieht auch nicht in meine Richtung, trinkt gerade Schnaps mit zwei Mädels mit denen sie sich den ganzen Abend schon immer wieder kurz unterhalten hat. Sie hat mich auch noch nicht gefragt, wie es mir geht, wo meine Jungs bleiben, so wie sie es sonst immer tut, wenn ich alleine bin. Wie sie es letztes Wochenende noch getan hat, wo sie mir so einiges erzählt hat, von einer Vernissage, bei der sie eben gewesen ist. Davon, dass da ein Fotograf jahrelang durch Österreich gefahren ist, nur um Morgens an der Tankstelle Schichtarbeiter beim Biertrinken und Frühstücken zu fotografieren. Wie sie das begeistert hat, was das für eine schöne Milieustudie gewesen ist, und dass man sich das eben einmal vergegenwärtigen muss, dass das auch nur Menschen sind, nur eben mit einem ganz anderen Lebensrhythmus. Dass das nur, weil jemand bei Tagesanbruch in einer Tankstelle Bier sauft, nicht gleicht heißt, der ist Alkoholiker und hat kein Zuhause und keine Zukunft.

Letztes Wochenende haben Katinka und ich so lange Sambuca getrunken, bis sie gesagt hat, sie kann nicht mehr, sonst fängt sie an, sich zu verrechnen. Ich habe sie mit Kaffeebohnen beworfen, sie hat gelacht, gesagt, wenn ich das noch einmal tu, dann holt sie den Türsteher und lässt mich raus werfen und wir haben beide gelacht. Heute glaube ich, dass sie mich bewusst ignoriert.

Ich frage mich, ob Katinka manchmal in ihrem Badezimmer steht, ihre Fingerkuppen betrachtet und überlegt, warum sie einem fremden Mann den Kopf gekrault hat. Ob sie sich dann auch zu jemand anderem ins Bett legt, einem Kerl, oder einer Frau vielleicht, irgendwie würde das ja zu Katinka passen, dass sie Frauen mag.

Ob sie auch ein schlechtes Gewissen haben muss.

Ob sie es vielleicht schon vergessen hat.

Ob sie das bei jedem macht, der an ihrer Bar einschläft.

Und auf einmal steht sie da, sieht mich an, stellt mir ein frisches Bier hin, ich habe sie sogar beobachtet, wie sie es gezapft hat, aber nicht damit gerechnet, dass es für mich ist.

„ Alles in Ordnung bei dir?“, fragt mich Katinka.

Es ist wohl die dümmste, die oberflächlichste Frage der Welt. Wahrscheinlich fragt sie das hundert Gäste pro Abend, hat es auch mich schon hundert Mal gefragt. Aber da ist eine Tiefe, eine Ernsthaftigkeit in dieser Frage, da ist etwas in ihrem Blick, von dem ich weiß, das ist neu. Und als ich wohl das zweit-dümmste sage, was ein Mensch sagen kann, dass es mir noch nie besser gegangen ist, da meine ich das Ernst.

Ich sehe sie an, und mir wird schlecht, mir wird schwindlig und ich weiß nicht mehr, wohin mit dem ganzen Speichel, der da auf einmal ist, in meinem Mund. Katinka sieht mich einfach nur an, sagt nichts, aber ihr Blick ist so arg, ich spüre ihn überall, so dass ich froh bin, dass sie nichts sagt, weil sie mich so überwältigt, wenn sie jetzt noch etwas sagen würde, ich könnte nicht mehr.

Ich müsste aufspringen, sie an den Haaren packen, ihr Gesicht an meines ziehen und sie küssen, sie nehmen, am Besten sofort hier, vor all den Leuten.

Und auf einmal ist da Jana, ich sehe sie vor mir, wie sie im Bett liegt, in ihrer rosarot-karierten Pyjamahose. Sie wird noch munter sein, sie nimmt sich immer vor auf mich zu warten, wenn ich ohne sie unterwegs bin. Sie wird Harry Potter lesen, weil sie immer Harry Potter liest, wenn ich Bier trinke. Ich hab sie nie gefragt, warum sie das tut. Auch nicht, warum sie immer auf mich wartet, warum sie mich zuhause immer so freudig aufnimmt, wenn ich unterwegs gewesen bin. Warum es sie nicht stört, wenn ich mich stinkend und betrunken zu ihr ins Bett lege, sondern mich einfach in den Arm nimmt, mir manchmal auch sogar erlaubt, mit ihr zu schlafen. Ich hab es nie verstanden, aber mich immer darüber gefreut.

Und wieder wird mir schlecht, wieder wird mir schwindlig, wieder weiß ich nicht, wohin, mit dem ganzen Speichel, der da auf einmal in meinem Mund ist. Als ich ihn schlucke, ist da dieser Kloß im Hals, den ich sonst nicht habe, den ich nie habe, den ich nicht einmal gehabt habe, als wir letztes Jahr meinen Großvater eingeäschert haben.

Ich kann Katinka nicht mehr ansehen, bin in meiner Jacke drin, lege fünfzig Euro auf die Bar und flüchte nach draußen, wo es windig ist, wo es herbstelt. Wo die Sonne schon aufgeht und wo ich mich an der Anzeigetafel vom Bus festhalten muss, weil ich auf einmal glaube, dass ich nicht mehr stehen kann. Ich will zurück, will noch drei Bier, will warten, die eine Stunde noch, bis Sperrstunde, will mich wieder an die Bar legen, will so tun, als würde ich schlafen. Auf Katinkas Fingerkuppen hoffen, die mich da angreifen, wo der Kopf anfängt und der Hals aufhört.

Aber ich drehe um, und gehe. In Richtung Jana, Richtung zuhause. Richtung Vernunft.

An der Tankstelle sage ich dem Türken, der die Frühschicht schiebt, dass ich Mayonnaise zu meinem Leberkäse möchte. Er sieht mich angeekelt an und so fühle ich mich auch: ekelig. Neben mir sitzt ein dicker, bärtiger LKW-Fahrer, isst ein Schnitzelsemmerl, trinkt dazu Bier. Die Flasche hat er in ein Papiersackerl gesteckt, weil, in der Tankstelle darf man keinen Alkohol trinken. Er kaut unglaublich laut, hat Brösel im Bart und starrt auf das Nacktfoto, das immer auf Seite 7 der Tageszeitung abgebildet ist. Er grunzt, und sagt, an niemand bestimmten gerichtet, dass er die schon auch nehmen würde, dass die es sicher hart und dreckig braucht. Dann rülpst er und fragt nach dem Kloschlüssel.

Der Fotograf, von dem Katinka erzählt hat, hat sicher Leute wie diesen Kerl fotografiert. Und Katinka wird in der kleinen Galerie gestanden sein, wahrscheinlich mit den beiden Mädels, die heute bei ihr an der Bar gesessen sind, sie werden billigen Rotwein getrunken haben, von Foto zu Foto gewandert sein, und sie betrachtet haben, diese Leute, die morgens an Tankstellen rumhängen. Die Nachtarbeiter, die Taxifahrer, die Straßenzeitungsverkäufer, die, die laut Katinka eh nur ganz normale Menschen sind.   Aber eines hat sie vergessen, dass das eben doch nicht alles ist. Dass es schon noch eine andere Art von Menschen hier gibt. Die Leute, die nicht wissen, was passiert mit ihnen, wo sie da auf einmal sind. Wo sie hin sollen. So wie ich. Die nirgends wo hin können und deswegen festkleben, hier bei den Bier in Papiersackerln und den rumänischen Aufbackbrötchen. Als ich meinen Kopf an die weiße Plastikbar legen will, weil ich mir einrede, dass ich da vielleicht besser nachdenken kann, bewirft mich der Tankwart mit irgendetwas, es ist ein ekliger, nasser und nach Essig stinkender Fetzen und er landet genau in meinem Nacken. Dann kommt er zu mir, stützt sich mit den Ellenbogen an der Bar ab, nennt mich Bursche, wofür ich ihm aus Prinzip gerne gleich eine panieren würde und sagt mir, dass ich nach Hause gehen soll. Dass ich nicht nach Hause kann, dass ich da nicht hin will, sage ich und er macht so eine wegwerfende Geste mit der Hand und murmelt trocken, dass ich dann eben wo anders hingehen soll. Ich schüttele nur den Kopf, sage, dass wo anders hin zwar schön wäre, aber unklug.

„Es ist irgendwas mit Frauen, oder? Es ist immer wegen den Frauen.“

„Ja. Ich glaube, es gibt zwei davon.“

„Hast du Kinder?“

„Nein.“

„So lang du keine Kinder hast, ist alles noch ok. Da kannst du dich noch umentscheiden. Wenn die mal da sind, dann ist alles im Arsch!“

„Ja, aber das ist doch scheiße so!“

„Bursche, egal, wie man es macht – scheiße ist es immer!“

Ich schließe Janas Wohnung auf, bemühe mich, leise zu sein. Überall brennt Licht, aber sie kommt mir nicht, wie sonst oft, entgegen, um mich zu küssen, um mich zu fragen, ob ich einen schönen Abend hatte. Im Schlafzimmer finde ich sie, genauso, wie ich es erwartet habe. In dieser scheußlichen, aber trotzdem irgendwie niedlichen Kinderpyjamahose, den vierten Band von Harry Potter auf der Brust liegend, schlafend. Ich nehme ihr das Buch aus der Hand, streiche ihr die Haare aus dem Gesicht, drehe die Nachttischlampe ab, ziehe mich aus und kuschle mich dazu. Jana schmiegt sich schlaftrunken an mich, streichelt meinen Rücken. Ihre Hand wandert nach oben, berührt mich da, wo es seit Wochen schon prickelt. Sanft schiebe ich sie von mir, ich will nicht dass sie mich so sieht. Will nicht, dass sie aufwacht, dass sie merkt, dass etwas anders ist, bei mir.

Im Bad höre ich plötzlich irgendwo ganz hinten in meinem Schädel Katinkas Stimme. Katinka die leise wieder Creedence Cleerwater Revival singt, sie singt vom Weltuntergang, vom aufgehenden Mond, sie singt davon, dass es besser gewesen wäre, heute nicht nach draußen zu gehen. Kluge Katinka.

Und erst als es an der Tür klopft, realisiere ich, dass ich meinen Schwanz in der Hand habe, an Katinka denke, die nackt auf mir liegt, an einer Zigarette zieht, sie mir dann in den Mund steckt, um besser singen zu können.

Ich höre draußen irgendein Geräusch, halte inne in der Bewegung.

„ Alles in Ordnung bei dir?“, fragt mich Jana.

Und als ich leise durch die Tür durch flüstere, dass es mir noch nie schlechter gegangen ist, da meine ich das Ernst.


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Franziska Baur

Wasser, Fluss, Leben

Ist das Leben wie ein Fluss? Der einen mit seinen Strömungen nach oben und Mal nach unten reißt? Der einen in schnellen Wellen trägt oder gemächlich, langsam mäandernd mitnimmt auf seinem Weg? Und ein anderes Mal fast zum Erliegen zu kommen scheint? Einmal reißen einen seine Wellen und Stromschnellen mit, lassen einen auf der sich kräuselnden Gischt tanzen. Oder sie wirbeln einen so durch und durcheinander, dass oben und unten nicht mehr zu unterscheiden ist. Weil das Wasser, das Leben, einen mit sich reißt wie es ihm gefällt. Der eigene Wille, oft machtlos.

Aber egal wie schnell oder langsam, wie turbulent oder gemächlich, der Fluss, das Wasser bahnt sich seinen Weg, fließt, zieht weiter – lässt sich nicht beengen, kommt nie ins vollständige Ruhen. Und auch wenn es manchmal so scheint, hört die Bewegung nie auf.

Und wie heilsam und bedrohlich zugleich doch diese Vorstellung ist. Heilsam, weil es Gewissheit bringt, dass kein Schmerz und kein Leid, kein Scheitern, keine Enttäuschung für ewig verweilt oder andauert. Einen von innen austrocknet oder verdorren lässt. Nein. Wie das Wasser fließt, sich fortbewegt und sich entfernt – verflüchtigt sich auch das Auszehrende, verändert sich, verliert seine Vehemenz.

Vorausgesetzt man lässt es ziehen, friert es nicht ein. Nur in der Erstarrung liegt das Unveränderliche, der Stillstand. Nur dann ist der Fluss unterbrochen. Gefangen, gefroren verliert er seine Kraft und Energie, die seine Stärke ausmacht.

Diese unveränderbare Gewissheit, bringt jedoch auch etwas bedrohlich-trauriges mit sich. Denn es zeigt, dass keine Freude und kein Glück zu halten ist. Auch sie fließen und entrinnen – sind nicht einzufangen, nicht festzuhalten – brauchen die stete Erneuerung. Sind nie gewiss – nur für den Moment.

Auf einer Brücke darüber stehend fließt das Wasser unter einem hindurch, die Zeit, Erlebnisse und Geschehnisse nimmt es mit. Oder man kann sie ihm mitgeben – sie mit dem Wasser auf eine Reise schicken, oder gar gänzlich verabschieden, loslassen, freigeben, von sich lösen. So entsteht Freiraum für Neues. Etwas, das sich bewegt, agil verändert, neue Formen zulässt und etwas erschafft. Ein Tanzen, Springen, Aufbäumen und sich Einfügen in das Wasser, das den Fluss des Lebens bestimmt.


 


freiTEXT | Alke Stachler

auf offenem feld rührt der tag dich, berührt dich wie mit dem kleinen zeh wasser, sodass deine oberfläche durchquert ist von ringen. dieses ist ein dünner ort, fahrige birken, blattgold über allem, moment an moment gefädelt wie schmuck, hier tastet sich etwas. das sonst weit voneinander, das sonst wie pole sich. und du: geh ganz bis zum ende der zweige, der halme, der knappsten stellen, setz noch einen schritt. einen mehr, als würde die luft dich, außer du zweifelst. und zweige: wie die sonne einreißt, oder nein, die sonne rinnt, rinnt wie durch finger, zwischen fingern von etwas größerem hindurch, und schwärzerem. geh weiter und du kommst an eine stelle, die dich, die es, die was mit dir macht

Alke Stachler

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Alles NEU #1: Lesereise

Joseph Schumpeter sprach von der "Schöpferischen Zerstörung": Man muss alte Strukturen einreißen um Innovationen zu schaffen, die Komfortzone verlassen um Abenteuer zu erleben. Darum gibt es gleich mehrere Neuheiten und Änderungen in den nächsten Wochen.

#1: Im Oktober macht sich das mosaik zum ersten mal auf eine Lesereise - diese führt zu unseren Freundinnen und Freunden nach Bayern.

München

Donnerstag, 15. Oktober | 19:00 | Salon Irkutsk

mit:

sei dabei!


 

Pfaffenhofen

Freitag, 16. Oktober | 20:00 | Kreativquartier "Alte Kämmerei"

mit:

sei dabei!


 

Nürnberg

Samstag, 17. Oktober | 19:00 | Salon Regina

mit:

sei dabei!

Beitragsbild: Werner Baur


Robinson im Raumanzug

„Ich bin sowas von im Arsch.“ Mit diesen Worten beginnt der erste Logbucheintrag des Astronauten Mark Watney, und so beginnt auch Andy Weirs Roman „Der Marsianer“. Und treffender kann Watney seine Situation auch gar nicht beschreiben. Er war das Mitglied einer sechsköpfigen Expedition zum Roten Planeten.

Aufgrund seines heftigen Sandsturms mussten die Raumfahrer ihr Basislager aber schleunigst verlassen und sich sofort in den sicheren Marsorbit evakuieren. Nach nur sechs Marstagen war die eigentlich auf über fünfzig Tage anberaumte Marsmission zu Ende. Und dann passiert bei der Flucht durch den Sturm ein verehrender Unfall: Ein Stück Antenne, das der Sturm von der Wohneinheit abgerissen hatte, trifft Watney. Das letzte, was seine Kameraden von ihm sehen, ist wie er, aufgespießt von einem Metallstab vom Sturm in ein undurchschaubares Sandchaos verblasen wird. Die anderen halten ihn für tot und starten die Maschinen zum Heimflug Richtung Erde. So etwas kann man nicht überleben, nicht an einem so lebensfeindlichen Ort wie dem Mars.Read more


freiTEXT | Karsten Redmann

Die Flucht

Mai 1972 - Ostharz, innerdeutsche Grenze, Staatsgebiet der DDR.

Seit zwei Tagen regnet es, ununterbrochen regnet es. Gassner muss an Bindfäden denken, die in der Luft hängen. An unzählige Bindfäden, Striche und Vertikalen. Regenwasser dringt durch die Kronen der Eichen, Buchen und Tannen, ergießt sich, wie an unsichtbaren Fäden, auf den mit Moos bewachsenen Waldboden, auf Ameisenvölker, braune und schwarze Käfer, und auf Gassner selbst, der an einen Baum gelehnt sitzt, Wasser in den Schuhen, sein Hemd völlig durchnässt. Die Brille setzt er nicht ab. An Schlaf ist nicht zu denken. An Gassners Rücken fließt geräuschlos Regenwasser ab. Am Boden bilden sich dunkelgrüne Pfützen, Tannennadeln darin, vereinzelt auch kleinere Spinnen und Fliegen - Kleintiere, die mit dem Tod ringen. Es riecht nach Moos und Flechten. Der Regen prasselt unentwegt. Wenn er doch nur aufstehen könnte und loslaufen, dann würde er vom Punkt zur Linie werden. Doch Gassner läuft nicht los, weil er nicht weiß, wohin, weil er keine Kraft mehr hat, sich verlaufen hat, in diesem regennassen deutschen Wald. Aber du musst, Gassner, weil du es willst. Du hast keine andere Wahl. Vergiss die Bindfäden in der Luft, den Wolkenbruch. Verdränge den Regen, die Kälte, den Schlaf. Im Grunde bist du allein, ja, aber es ist gut, hier und jetzt allein zu sein. Und später? Später kannst du schlafen, tagelang schlafen. Träumen wirst du dann, endlich wieder träumen. Von drüben? Nein, nicht von drüben, denn wenn du auf der anderen Seite angelangt bist, hast du ja dein Ziel erreicht. Und die kleine Öffnung in der Wolkendecke, auf Caspar-David-Friedrichs Bild, vom Mönch am Meer, wäre damit mehr als ein reines Versprechen deines Vaters gewesen – ein Ausweg nämlich, ein gelungener Fluchtversuch.

Aber halt, war da nicht ein Geräusch? Eine kurze Bewegung? Ein Knacken von Ästen? Dort hinter dem Baum?

Vor vier Tagen war Gassner mit 10.000 DDR-Mark in 50er und 100er Scheinen, seiner Geburtsurkunde, seinen Schulzeugnissen und dem Gesellenbrief, alles fein säuberlich in einer wasserdichten Plastiktasche verstaut, in einen Bus gestiegen, hatte den Bauernhof, die schon alt gewordene Mutter und den Bruder verlassen, und dabei versucht, möglichst unauffällig auszusehen - bei seinem ersten Fluchtversuch. Sein Plan schien aufzugehen: Der alte Fahrer des Omnibusses hatte seine Sonnenbrille nicht einmal abgesetzt, hatte nur Gassners Fahrkarte entgegen genommen und sie am perforierten Kartenrand abgerissen, so, wie es allgemein üblich war. Auch während der Fahrt in die nächstgelegene Stadt hatte der Fahrer nur selten in den Rückspiegel geblickt, was gut war, denn so ging es weiter, Kilometer für Kilometer. Die Mitreisenden waren so unauffällig wie Gassner selbst - darunter eine dickliche Frau, um die 30, mit kurzen Haaren, einem blassen Gesicht und einem Säugling auf dem Arm. Sie hatte ihren roten Wollpullover nach oben gezogen, so dass man ihre rechte Brust und den Kopf ihres Kindes sehen konnte. Unentwegt starrte die Frau auf die flaumigen schwarzen Haare ihres Säuglings und strich mit ihren dicken Fingern über Kopfhaut und Haar. Ihr gegenüber saß ein junger Mann, so um die 20, in einem hellen Cordanzug, Zigarette im Mund, ein altes, zerlesenes Buch in der Hand. Sein Blick wanderte hellwach über die Zeilen. Gassner fragte sich für einen Moment, was der Mann da las. Den blauen Einband kannte er nicht. Die Schrift darauf wurde von der Hand des Mannes verdeckt. Die hochgepriesenen Amerikaner, deren Bücher ihm sein Vater früher über Umwege besorgt hatte, kamen Gassner in den Sinn: Hemingway und Faulkner. Und während er an den alten Mann und das Meer und all die anderen Geschichten dachte, streifte sein Blick über das dichte Grün der riesigen Alleebäume – da tauchte plötzlich dieses Tier auf. Es hockte in einer der hellgrünen Baumkronen und blickte zur Seite. Ein Wisch, schon vorbei. Konnte das wirklich sein, hatte Gassner sich gefragt und sich erst wieder beruhigt, als er kurz darauf einen Wanderzirkus auf einer Wiese entdeckte. In der Mitte stand das große Zirkuszelt, am Rand des Lagers bunte Wohnwagen aus Holz, Tiere in Käfigen und vor den Käfigen jonglierende Artisten, Bälle und Keulen in der Luft. An einem kleinen Zelt flatterten bunte Fahnen im Wind. Er hatte sich also nicht getäuscht, sicher war es ein Affe gewesen. Ein Schimpanse auf der Flucht. Einer, der sich aus dem Staub machen wollte, einer der die haarigen Beine in die Hand genommen hatte, um diesem ganzen Zirkus hier zu entkommen. Sehr viel später, im Wald umher irrend, den Grenzzaun suchend, hatte sich Gassner gefragt, wie weit so ein Schimpanse, ganz auf sich allein gestellt, überhaupt käme. Denn es hatte angefangen zu regnen, und Gassner hatte sich vorgestellt, wie der Affe durch den Regen und über die Felder lief, halb springend, halb taumelnd. Auf den Zirkus folgten: ein Dorf mit Brunnen, ein Zweites ohne, dann ein Drittes, und nach einer halben Stunde Fahrt hatte der Bus schließlich angehalten, Gassner war ausgestiegen, hatte in die helle Mittagssonne geblinzelt, sich nach allen Seiten umgeschaut, seine Tasche genommen und sich auf eine der Holzbänke gesetzt. Hier wäre er also Besucher dieser Kleinstadt, nicht mehr und nicht weniger. Nur daran müsse er sich halten, an nichts anderes. Ganze fünf Mal sollte Gassner umsteigen, so der Plan: vom Bus in einen weiteren Bus, von einem Zug in den nächsten und so weiter. Bei den geplanten Kurzaufenthalten in den Dörfern und Städten wollte er sichergehen, dass ihm niemand folgte.

Moment. War da etwas? Ja, ein Geräusch. Er hat es gehört - da hinten. Jetzt kann er es sehen, verschwommen, wie durch Fäden hindurch, ein orangener Fleck auf seiner Brille, springt über Baumstümpfe und verliert sich im Unterholz. Wahrscheinlich ein Tier, schon vorbei, keine Gefahr. Durchatmen... Wind kommt jetzt auf. Am Himmel ziehen Wolken westwärts. Zwischen den Baumwipfeln entdeckt Gassner helle Flächen Licht, hier und da auch eine Vorstellung von Blau. Diese kleinen, blauen Flächen dehnen sich langsam aus. Hat es wirklich aufgehört zu regnen? Es fehlt ein Geräusch, ihm fehlt ein Geräusch - der Regen als Kulisse. Die Fäden sind weg. Jemand hat sie abgeschnitten. Gassner setzt die Brille ab, streicht mit einem Tuch über die Gläser, schaut sich um und setzt sich in Bewegung, ein federnder Gang. Die Sonne weist ihm den Weg. Nach einiger Zeit kommt es ihm vor, als würde sich der Wald um ihn herum verändern, als stünden die Bäume nicht mehr so dicht beisammen, als lichte sich der Wald, oben und auch an den Seiten. Gassner greift in die Tasche seiner nassen Hose und bricht ein Stück Schokolade, steckt es in den Mund und bewegt es mit der Zunge hin und her. Quer über ihm steht die Sonne, sie blendet.

Auch ich sehe sie jetzt und schreibe es auf. Die Sonne blendet. Mit meiner Hand schütze ich meine Augen und folge Gassners Schritten. Er sagt: „Los jetzt!“ Und: „Wir müssen weiter. Sofort!“ Wir?, möchte ich ihn fragen, und schütteln möchte ich ihn dabei, aber vielleicht ist es besser so, wahrscheinlich braucht er mich jetzt. Also folge ich seinen Anweisungen, folge ihm. Schließlich müssen wir weiter, er und ich. „Nicht so schnell!“, rufe ich, denn mir geht die Puste aus. Aber er läuft weiter, den Blick stur nach vorne gerichtet. Ich komme kaum hinterher. Wieder muss ich stehenbleiben und nach ihm rufen. Schnell ermahnt er mich, leise zu sein. „Wir wollen doch nicht riskieren geschnappt zu werden“, mahnt er. Zwischen den Bäumen weiten sich die Lücken - Lichtungen tun sich auf. Gassners Schritte werden verhaltener, vorsichtiger, er bleibt stehen, kniet sich hin, hört in den Wald hinein. Ein Geräusch? Nichts bewegt sich, nur die Wolken – ihre Schatten ziehen über uns hinweg. Vor uns öffnet sich eine Schneise, daran angrenzend ein hoher Zaun mit Stacheldraht. Plötzlich ein Wagen, kommt von rechts heran, immer näher, das Motorengeräusch schwillt an. Dann Stille, der Wagen vorbei. Gassner schnappt nach Luft. Hat er die ganze Zeit die Luft angehalten? „Endlich“, sagt er und es soll wohl beruhigend klingen. Ich sehe, wie Gassner die Umgebung genau beobachtet, sein Blick wandert vom Wachturm über die Wiese, den Zaun entlang. Erneut putzt Gassner seine Brille, doch die Schlieren bleiben. „Der Turm ist das Problem“, sagt er, nimmt ein letztes Stück Schokolade aus der Tasche und kaut darauf herum. „Wir dürfen kein Risiko eingehen“, sagt er und ich gebe ihm zu verstehen, dass ich seine Ansicht teile, dass es besser wäre, eine weniger einsehbare Stelle zu finden. Er nickt, ich nicke, wortlos folge ich ihm. Als er Sekunden später über eine Baumwurzel springt, knickt er ein, hält sich den Fuß. „Verdammter Mist“, sage ich. Ich gehe in die Hocke um mir den Fuß genauer anzusehen. „Das erste Mal“, sagt er, „meine erste Verletzung.“ „Und jetzt?“, frage ich. „Was willst du tun?“ „Ach, das krieg´ ich schon hin“, sagt er, „hast du Schokolade dabei?“ „Keine Schokolade, aber schau mal in deiner Tasche nach“, sage ich. Erstaunt fischt er ein Päckchen Traubenzucker heraus. „Das ist ja West-Ware“, sagt er und schaut mich fragend an. „Ein Geschenk“, sage ich. Er steht auf. In seinem Gesicht lese ich Schmerz. „Soll ich dir helfen?“, frage ich. „Nein, das schaffe ich schon!“, sagt er. Er nimmt ein gelbes Tuch aus seiner Tasche, legt es auf den Waldboden und drückt es gegen das feuchte Moos. Dann bindet er es fest um seinen Fuß. „So“, sagt er, „das müsste gehen.“

Wie lange hatte er darauf gewartet, diesen Wald zu betreten, diesen einen Schritt weiter zu gehen als die meisten anderen. Viel weiter als sein Vater war er gekommen; sein Vater, den sie eineinhalb Jahre zuvor inhaftiert hatten und dessen Tod der Staat vermeldete, als handele es sich um eine bloße Randnotiz. Sie sagten, dass es seinem Vater in den letzten Wochen sehr schlecht gegangen wäre. Er hätte jedwede Hilfe verweigert. Den Staat träfe keine Schuld. Ob es einen Abschiedsbrief gäbe, hatte Gassner einen der Verantwortlichen gefragt. Und der hatte ihm eine Skizze in die Hand gedrückt, auf der recht wenig zu erkennen war, nur Striche und Linien. „Das hier“, hatte er gesagt und ihm das Stück Papier ausgehändigt, „ist alles was wir von ihrem Vater haben.“ Auf den ersten Blick war wenig zu erkennen und Gassner brauchte eine Weile, um den stilisierten Mönch, den Himmel und das angedeutete Meer zu erkennen. Und er erinnerte sich, wie ihm sein Vater, in der alten Wohnung in Berlin, das Bild des Mönchs am Meer in einem Kunstband gezeigt hatte. Wie er ihm alles über das kleine Bild erzählt hatte, um dann mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über eine helle Stelle in der Wolkendecke zu kreisen und zu sagen: „Siehst du das, mein Sohn? Siehst du das Aufklaren? Hier, direkt über dem Kopf der Figur?“, und er kreiste wieder um die Stelle, „ siehst du, hier öffnet sich der Himmel.“ Damals hatte Gassner die Anspielungen seines Vaters nicht verstanden, nicht gewusst, was er ihm damit sagen wollte. Und vielleicht war es auch besser so gewesen.

Wir kauern auf dem Boden und sondieren die Lage. Gassners Blick wirkt verschlossen. „Was ist?“, frage ich. „Ich habe Angst“, sagt er. Ich sage: „Ich weiß“, und lege meine Hand auf seine Schulter. „Warum tust du das alles?“, fragt er. „Eigentlich machst du doch alles selbst“, sage ich. „Außerdem folge ich dir, weil ich mich für dich und deine Geschichte interessiere.“ Er lächelt. „Das ist schön“, sagt er. „Aber was ist, wenn ich im Zaun hängenbleibe? Oder sie mich vom Zaun schießen? Oder eine Mine hochgeht?“ „Warte mal“, sage ich und zeige mit dem Finger auf die andere Seite, Richtung Westen. Und während Gassner meinem Fingerzeig folgt, taucht ein niederländischer Reisebus mit Grenztouristen auf. „Das sieht doch ganz nach einer guten Chance aus“, sage ich. „Los. Lauf los. Jetzt.“ Erst humpelt er, dann rennt er, noch 200 Meter, 100 Meter, 50, dann der Zaun. Gassner ist schnell. Seine rechte Hand greift in den Draht und zieht sich hoch. Im Bus sehe ich ein Blitzlichtgewitter. Gesichter kleben an den Fenstern, Münder sprechen aufgeregt miteinander. Die Oranier-Route führt hier, 1972, an der deutsch-deutschen Grenze vorbei. Für die Touristen aus den Niederlanden ist der Grenzzaun seit Jahren ein willkommener Anlass Fotos zu schießen, und einer wie Gassner, jetzt und hier, das ideale Motiv: ein Mensch auf der Flucht. Gassner ist jetzt hinter dem ersten Zaun. Ich sehe wie er sich zu mir umschaut. „Lauf!“, rufe ich. „Lauf um dein Leben!“ Ein zehn Meter breites Minenfeld. Gassner steht davor. Der Bus hält an, die Rücklichter leuchten. Er läuft über das Feld, läuft sehr schnell. Er fällt nicht, fliegt nicht in die Luft. Dann der zweite Zaun. Wieder zuerst die Hände, die Füße, ich muss an das Tuch an seinem Fuß denken, das gelbe Tuch. Ich sehe den gelben Knoten wie er am Draht entlang schrammt. Gassner lässt sich fallen, sein Körper bleibt liegen. Jetzt erst schaut er zum Bus, stützt sich auf, schaut zurück, ein Lächeln. Humpelnd verschwindet er im westdeutschen Wald. Ich stehe auf und bemerke erst jetzt, dass sich Stimmen nähern. Ein Hund hechelt. Zwei Grenzer mit Schäferhund laufen an mir vorbei. Plötzlich bellt der Hund. Ich bleibe stehen und sehe, wie sie den Hund von der Leine lassen. Blitzschnell rennt dieser über die Wiese, bremst am Zaun, überschlägt sich fast. Das Bellen hört nicht auf. Dann betreten die Grenzer die Wiese, pfeifen den Hund zurück und stecken sich Zigaretten an. Rauch steigt auf und verliert sich über der Schneise. „Sieh mal“, sagt einer der beiden und hebt einen weißen viereckigen Gegenstand vom Boden auf, etwa so groß wie eine Briefmarke.

„Sieht komisch aus“, ergänzt er.

„Das ist doch Traubenzucker!“, sagt der Zweite, steckt sich das Stück in den Mund und blinzelt in die gelbe Sonne.

Karsten Redmann

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