freiTEXT 2014-15 als eBook
Ein Jahr freiTEXT ist vergangen - es wird Zeit für die große Nachlese. Die Anthologie mit allen Texten aus 52 Wochen freiTEXT ist ab sofort als kostenloser eBook-Download erhältlich.
mit Texten von Thomas Mulitzer, Tobias Roth, Andrea Weiss, Sabine F., Magdalena Ecker, Claudia Kraml, Eva Löchli, Andreas Haider, Madlin Kupko, Dijana Dreznjak, Ingeborg Kraschl, Fabian Bönte, Simone Scharbert, Renate Katzer, Jacqueline Krenka, Karin Seidner, Nico Feiden, Sabine Roidl, Sven Heuchert, Veronika Aschenbrenner, Sarah Krennbauer, Philipp Feman, Matthias Engels, Clemens Schittko, Eva Wimmer, Gerhard Steinlechner, Matthias Dietrich, Christine Gnahn, Eva Weissensteiner, Marie Gamillscheg, Satie Gaia, Lina Mairinger, Jonis Hartmann, Philipp Böhm, Lütfiye Güzel, Kerstin Fischer, André Patten, Katrin Theiner, Daniel Ableev, Marina Büttner und Martin Piekar.
mosaik14 - Gegenwarten
mit:
Renate Aichinger, Satie Gaia, Eva Wimmer, Eva Weissensteiner, Katharina Haslauer, Matthias Engels, Sven Heuchert, Nico Feiden, Christof Sommersguter, Theresa Brigitte Gangli, Fabian Widerna, Lina Mairinger, Denise Übleis, Marie Gamillscheg, Miriam Zeh, Max Güntert, Clemens Schittko, Franz Jäger-Waldau, Eluisa Kainz, Daliah Frühling, Maria Köchler, Claudia Wallner, Mark Daniel Prohaska und Marina Büttner.
freiTEXT | Eva Wimmer
Wir oder ihr oder doch sie
Ich lebe, ihr lebt. Wir leben. Wer ist eigentlich wir? Und wieso sagen wir wir? Mich hat keiner gefragt, ob ich da überhaupt mitwirken will. Ach, hier liegt der Hund begraben … Nicht, ob ich mitwirken will. Wer kann schon heutzutage noch was wollen? Wir müssen wollen. Hört ihr den Widerspruch? Aber nein, dazu müsstet ihr ja genauer hinhören. Das wollen wir aber gar nicht. Oder besser gesagt, sie wollen das gar nicht. Und ihr doch eigentlich auch nicht. Und ich. Ich will eigentlich auch nicht hinsehen, hab aber irgendwie vergessen, wie man wegsieht. Ich weiß, dass ich nicht zu dem wir gehören will, dass Lebewesen nicht auf die Welt, sondern eigentlich schon auf deren eigenen Friedhof gebären lässt. Aber keine Sorge, es ist ja für uns. Dass diese Lebewesen eventuell auch ein ich oder ein wir haben, wen zum Henker interessiert denn das wieder? Wir dürfen ja nicht auf uns vergessen. Aber man sollte – nein, man darf – am besten auf sich selber vergessen. Nur zugunsten dem wir, keine Sorge, sie missbrauchen das nicht. Und sagt es auch nicht weiter, sonst könnte ja jemand hinter die Kulissen schauen.
Warum schießen wir eigentlich auf ein Reh? Oder auf einen Hasen? Und wieso brauchen wir dafür nicht eine Kugel, sondern gleich eine Schrotkugel, mit vielen ganz kleinen Kugeln? Na, ist doch ganz einfach. Das wir braucht kein Individuum, sondern ein Ganzes. Ohne die vielen kleinen Teile, wär das große Ganze doch ziemlich umsonst. Und wie kriegt man die kleinen Elemente jetzt zusammen? Ja genau, man gießt sie zusammen und bei Bedarf entlädt man sie geballt. Einzeln richten sie ja nichts aus, aber zusammen sind sie tödlich. Sie finden das klasse, ich finde das ziemlich feige. Aber ich hab ja auch nichts zu sagen, da wären wir ja wieder beim wir. Habt ihr schon mal ein wir gesehen, dass mit nur einer Kugel trifft, das wär ja aber ein Spaß, findet ihr nicht? Zuzusehen wie sie sich konzentrieren und anstrengen und dann rennt doch der Hase einfach so an ihnen vorbei. Aber bitte verhaltet euch das Lachen, sie finden das sicher nicht so komisch. Vom wir zum sie, geht doch, wenn man will.
Und wenn man fragt, wieso man nicht einen Menschen durch einen Wald jagt und dann ganz mutig mit einer Schrotflinte auf ihn schießt? Oh mein Gott, die sehen mich an, als ob ich komplett daneben wäre. Und was hört man dann: Man schießt doch nicht auf einen Menschen. Und ich frage mich dann, da ist doch schon wieder ein Widerspruch. Wieso schießt denn die halbe Welt auf einen anderen Menschen und wieso ist so ein Mensch dann auf einmal ein Tier, obwohl das wir doch eigentlich für alle gelten sollte – oder besser gesagt, müsste? Und wieso ist ein Tier denn immer untergeordnet? Unsere Sprache kann es zwar nicht, aber wir hingegen haben dafür verlernt, uns in Gefühlen auszudrücken und unserer inneren Natur zu folgen. Kannst dir ja dann überlegen, was dir lieber ist. Ich hab hier aber wohl eines nicht bedacht. Nämlich dass das wir, nur jene aufnimmt, die von Vorteil für es sind. Also Klappe halten und mitmachen und nicht fragen, wieso hier auf einmal es statt uns steht. Ich kann mich natürlich fragen, was es von mir will und wenn es etwas von mir will, dann ist die Frage, was die von mir wollen, wenn es doch für das wir steht. Seid ihr verwirrt? Ach, willkommen in meiner Welt. Ich hab euch ja nicht gebeten, mitzudenken. Ihr könnt auch den Text einfach lesen und weiterblättern. Oder ich könnt auch jetzt zu lesen aufhören und einfach weiterblättern.
Ihr könnt aber auch mal innehalten und darüber nachdenken, ob ihr das wir so gut findet, wie sie sich selber finden. Ob ihr etwas daran ändern könntet und wie jeder etwas mehr du sein kann.
Wie wir sehen grade sehen können, mein Text hängt. Was darf ich schreiben, was will ich schreiben und die wohl bessere Frage, was soll ich schreiben? Wenn ich dem wir alles von mir mitteile, das wäre nicht gut. Wir haben uns ja zu benehmen und du sowieso. Also nicht aus der Reihe tanzen, zurück in den Kreis, immer schön lächeln und weitermachen. Du kannst dir aber gern hinter dem Lächeln „Arschloch“ denken, das fällt auch gar nicht auf, versprochen.
Wo wir beim Kopfkino angelangt wären. Herrliche Filme, oder? Viel schöner, als die ewig andauernden Mord und Totschlag oder „Oh mein Gott, ich folge dir überall hin“ Kreationen im Hier. Ja, die Frage ist dann nämlich, wo willst du mir denn hin folgen? Und hast du mich eigentlich gefragt, ob ich das will? Wir können ja gern drüber reden, aber eigentlich hab ich lieber meine Ruhe. Ich habs auch gerne klirrend kalt und nebelig verhangen. Und bitte keine Plusgrade. In mir brennt alles, das reicht schon. Innen heiß und außen kalt. Möglicherweise denkst du, ich bin arrogant, möglicherweise will ich aber einfach noch immer meine Ruhe. Und ganz bestimmt, lass ich mich von dir nicht einschätzen. Wenn du wissen willst, wie ich so ticke, du kannst mich ja einfach fragen. Aber nein, wir lassen uns lieber von den anderen sagen, wie derjenige so drauf ist. Also man ganz ehrlich: Leute, die mich kennen, wissen, wie ich drauf bin. Leute, die mich nicht kennen und es wissen wollen, können ja wie oben schon gesagt, einfach fragen. Leute, die mich nicht kennen und mich nicht fragen, geht doch bitte einfach weiter und spart euch eure Meinung über mich.
Aber wenn wir sagen, dass du schlecht bist, dann muss das auch so sein. Ich hab ja ganz vergessen, dass heutzutage wild durch die Gegend beurteilt wird und wehe, man glaubt das nicht. Man könnte sich ja eine eigene Meinung bilden und feststellen, dass das wir ziemlich egoistisch ist. Die anderen werden nämlich ganz schlecht beurteilt und ja, wir dürfen – nein, wir müssen – das glauben. Aja und danke, dass ihr mir sagt, was ich denken kann. Sehr aufmerksam, dann muss ich selber nicht mehr nachdenken. Ist ja auch überbewertet und ich kann dann einfach meine kleinen Einzelteile in die Hand nehmen und mitballern, weil ihr habt ja gesagt, dass die schlecht sind. Nur frag ich mich halt, warum das so ist. Ich mach mir ja auch eine Meinung darüber, was ich esse und lass dann die Finger von dem, was mir nicht zusagt. Ganz einfaches Prinzip, funktioniert überall auf der Welt ganz gut. Aber wenn es mit dem Essen funktioniert, wieso dann nicht auch mit den Menschen? Hm, vielleicht macht Menschen abknallen ja auch Spaß, denn essen tun sie dann die wenigsten.
Aber was ist eigentlich Spaß? Etwas, das uns zum Lachen bringt? Etwas, das uns glücklich macht und daraufhin lächeln lässt? Etwas, das uns das Herz aufgehen lässt? Etwas, woran wir Spaß haben? Wie würdest du Spaß definieren? Ich glaube, dass dies etwas ist, woran man Freude hat und das einen fühlen lässt, dass man auf dem richtigen Weg ist. Nur wo befindet sich denn nun dieser Weg wieder? Und eigentlich wollte ich einen Text schreiben, langsam artet das aber in eine Fragestunde aus. Und doch rennen wir viel zu oft wahllos durch die Gegend, ohne uns zu fragen, wo wir eigentlich sind. Seht ihr, immer wenn das wir kommt, dann ist das ich sofort im Hintergrund und es folgt Verwirrung und man weiß nicht, wo man steht. Ohne, dass uns das aktiv auffallen würde! Wir können ja mal probieren, vom wir zu reden und ans ich zu denken. Na, wie viele Widersprüche findest du?
Das wir hats schon gut drauf, ohne kommen wir nicht aus, auch wenn wir wollen. Und immer nehmen wir auch das wir in den Mund, als ob wir das Wort gepachtet hätten. Vielleicht sollten wir das Wort einfach ein wenig bedachter gebrauchen? Und da war es doch schon wieder. Vielleicht sollte ich das Wort einfach ein wenig bedachter hernehmen? Und wenn wir das alle machen, dann gibt es wesentlich mehr ich.
Und ich sag euch was, aus der Reihe tanzen tut gar nicht so arg weh. Man kann ja ausblenden, was man nicht sehen will. Man kann ja weghören, wo es einem sonst das Herz zerreißt. Man kann ja das ich weiterreichen und im Kleinen wirken. Man kann auch einfach sein „sicheres Leben“ aufgeben, studieren, was einem gefällt und sich dann an den Kopf werfen lassen, ob man eventuell total bescheuert ist. Vielleicht bin ich auch ein Stückchen mehr ich selbst, wenn ich meinem Herzen folge? Ja, aber vielleicht bin ich auch total daneben, die wissen es, nur ich noch nicht. Das ist wohl die einzige Gefahr, wenn man das wir hinter sich lässt. Dass das ich auf einmal ein ganz anderes Gesicht bekommt, eines, dass man selber gerne sehen möchte und eines, dass sich auch ganz gut anfühlt, obwohl einem das wir die Tränen in die Augen treibt.
Aber man darf mit dem wir auch nicht mit Vorurteilen verfahren, so wie die das machen. Das wir hat natürlich auch ganz viele schöne Seiten. Und das wir hat auch ein ganz bezauberndes Lächeln, mit dem zwar der Hass versteckt mitgrinst, aber wer schaut heutzutage noch so weit hinter die Kulissen, dass er das erkennen würde? Ich schätze ja den Teufel nicht so grausam ein, wie den Menschen. Aber ist ja nur so eine Überlegung, wird euch ja egal sein. Luzifer ist auch ein viel schönerer Name, als … Tja, jetzt kommt es natürlich darauf an, wen du hier einsetzen und du hier wie benennen willst. Jetzt bist du gefragt und kannst dir ja denken, was ich einfügen würde. Nämlich würde und natürlich nicht mache. Oder hast du schon vergessen, dass man unbemerkter durchs Leben kommt, wenn man die Klappe hält?
Leise sein, ist natürlich nicht immer gut. Was wäre denn die Welt, wenn nicht ab und an jemand dabei wäre, der sie besser zu machen versucht? Aber wenn man selber nicht die richtigen Worte findet und nicht weiß, wie man hinsehen soll, ohne, dass man sich besagte Schrotflinte ausborgt, dann ist es besser, man dreht sich um, macht sich unsichtbar und versucht seine eigene kleine Welt besser zu machen. Manche Leute sagen nämlich ernsthaft zu mir, dass ich ein Loch reinreißen würde, das man nicht mehr flicken kann, wenn ich gehen würde. Nett, oder? Ja, es gibt auch Menschen, denen man gerne die Hand gibt, weil sie einen daran erinnern, dass man doch nicht alleine ist. Leute, die mich kennen, wissen ja nun, dass sie gemeint sind. Man muss ja nicht immer reden, um sich zu verstehen. Manchmal genügt auch ein Lächeln oder ein Blick oder sowas. Jetzt aber nicht zu sentimental werden, hinter meiner Mauer hat beim besten Willen nicht jeder was verloren.
Aber alles was seine guten Seiten hat, will ja auch unbedingt einen schlechten Gegenpart haben. Jaja, den hab ich genauso wie ihr. Mein persönliches, kleines und sehr hartnäckiges Gegenstück sitzt manchmal rechts, aber oft auch links auf meiner Schulter. Man sollte nie darauf vergessen, wo es grade sitzt, dann kann man es wunderbar umgehen. Ich könnte ja auch einfach sagen, wie klasse die Welt ist. Könnte ich. Ich könnte auch einfach schlafen gehen und nicht mehr aufwachen. Könnte ich. Ich könnte auch darüber nachdenken, wieso das alles so passiert. Könnte ich. Sollte ich aber nicht, weil mich das wieder zum wir führt und dort ist kein gutes Viertel für mich.
Müsst ihr aber selber wissen, wo ihr hingeführt werden wollt. Ja, ihr habt das selber in der Hand, wenn ihr wollt. Ihr könnt auch die Augen zumachen und euch vom wir leiten lassen. Schon nett vom wir, dass wir das selber entscheiden können, oder? Aber keine Sorge, egal für was du dich entscheidest, das wir bleibt sowieso immer da. Immer an deiner Seite; wird es dir auch schon immer sympathischer, so wie mir? Ach komm schon, das muss dir doch gefallen, dass du immer von etwas abhängig bist, es nie loswirst und es ständig in deinem Kopf rumschwirrt. Manche beschreiben ihre Beziehung so. Schön, oder? Nicht vergessen, es ist ein Nebeneinander und kein Miteinander.
Ich für meinen Teil hätte ja gerne ein Miteinander, versuche nicht zur Schrotkugel zu werden und einfach statt an das wir, an mich zu denken.
Neben dem wir, steht so viel ich in diesem Text. Ob die wohl damit einverstanden sind? Ob ihr das versteht? Ob wir das wollen? Und als ob ich nicht mit einem Lächeln dastehen würde, hinter dem sich mein eigener kleiner Dämon versteckt, der mir ständig ins Ohr flüstert: Wenn du das ich weitererhalten willst, dann geh deinen Weg. Wenn du aber von dem wir die Schnauze voll hast und keinen Ausweg mehr siehst, dann sei doch so frei und borg dir von denen ihre Schrotflinte. Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich mir deren Meinung ins Hirn blase. Mein kleiner persönlicher Aufpasser meint dazu aber, dass wir – nämlich er und ich – sehr wohl was dagegen haben. Wie man sieht, ist im wir und ihr auch ein ich und du möglich, wenn das ich sich sein eigenes wir schafft. Seine eigene kleine Welt, die zwar wesentlich zerbrechlicher aber doch beständiger ist.
Und immer wieder frage ich mich, ob es etwas gibt, das keinen Widerspruch fordert.
Eva Wimmer
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mosaik11_Collectio
mosaik11 - Collectio
ab sofort erhältlich und in Kürze auch digital.
mit:
Adreas Haider, Lisa Viktoria Niederberger, Birgit Birnbacher, Thomas Mulitzer, Markus Hittmeir, Florian Lambrecht, Claudia Kraml, Christine Gnahn, Ogi Georgiev, Ina, Nadine Fejzuli, Andreas Neuhauser, Marko Dinic, Sarah Eder, Marlen Mairhofer, Werner Schlor, Peter.W., G13, Karin Seidner, Annemarie Hochkönig, Gerhard Steinlechner, Sabine F., Christian Lorenz Müller, Anja Wanger, Sigrid Klonner, Birgit Schwap, Max Güntert, Theresa Seraphin, Juliane Winter, Eva Wimmer, Wolfgang Fels, Barbara Keller, Andrea Weiss, Natasa Tasic, Fabian Widerna, Marian Wehmeier, Magdalena Ecker, Edda Emilia Steiner, Dominik Obermaier und Josef Kirchner.
Eiskalt und zugleich so weich
Eiskalt und zugleich so weich,
So voller Lebendigkeit und Wonne,
Dies ist meine Zeit, mein Reich.
Der Schnee ist meine Sonne.
Eva Wimmer