Die Wahrheit ist ein vages Ding und schwer zu greifen

Die Wahrheit ist ein vages Ding und schwer zu greifen

Rezension

Kintsugi ist eine japanische Keramikbearbeitungsmethode, in der Brüche oder kaputte Stellen vergoldet, statt versteckt werden. Das soll die die Wertschätzung des Fehlerhaften, die Schönheit im Defekten ausdrücken. Fehlerhaft und defekt sind auch die vier Protagonist*innen in Miku Sophie Kühmels gleichnamigen Debüt, das im August bei S. Fischer erschienenen ist. Aber auch ihnen wird viel Wertschätzung entgegengebracht: Als Vexierspiel angelegt und von Dramoletten durchwachsen, die die Handlung zwischen den einzelnen Kapiteln vorantreiben, führt uns die Autorin durch wechselnde Erzählperspektiven

Kintsugi beginnt etwas schwer und konstruiert, wird aber noch im ersten Viertel ruhiger und entwickelt gleichzeitig eine irre Sogwirkung. Kühmels Figuren sind gleichsam liebenswert und verabscheuungswürdig, süß und unsympathisch – ein Emotionscocktail, dem man sich als Leser*in schwer entziehen kann. Vier Menschen, drei Männer und eine Frau, verbringen ein Winterwochenende gemeinsam am See.

Max und Reif sind seit zwanzig Jahren ein Paar, nehmen sich in ihrem Ferienhaus regelmäßig Auszeiten von ihren Leben als Künstler und Universitätsprofessor für Archäologie – manchmal auch von ihrer Beziehung. Und das, obwohl sie von allen beneidet werden: Für ihre Liebe, die schon so lange hält, und die Harmonie, obwohl oder gerade weil sie nicht verheiratet sind. An diesem Wochenende begleiten sie ihr langjähriger Freund Tonio und dessen studierende Tochter Pega, die für Max und Reif wie ein eigenes Kind ist. Pega sieht das mittlerweile anders und überhaupt ist keine der Beziehungen so, wie sie auf den ersten Blick scheint. Da geht es viel um Liebe: Zwischen Mann und Mann, Mann und Frau, Vater und Tochter, Kumpel und Kumpel.Es fließen Tränen, brechen Teetassen und Herzen. Manches kann man kitten, anderes nicht. Oft verschwimmen Vergangenheit und Gegenwart. Da geht’s um Abhängigkeitsverhältnisse, finanziell, gefühlsmäßig. Um Schuld, um Versäumnisse – aber auch, wie man am besten betrunken von einem zugeschneiten Hochstand im Wald herunterkommt, ohne sich etwas zu brechen. Es entwickeln sich Dynamiken: Konflikte brechen aus, manche neu, manche seit Jahrzehnten am heimlichen Brodeln. Miku S. Kühmel kann bodenständig und authentisch ohne Kitsch – aber mit schönem Pathos – über Liebe schreiben. Die Beziehung zwischen Reif und Max kann stellvertretend für alle Beziehungen gelesen werden, so klar sind die Bilder, die die Autorin darstellt, so kunstvoll verpackt sie Romantik und Tragik im Alltäglichen:

„Es beeinflusst meine Wahrnehmung vielleicht nicht mehr so sehr, die Proportionalitäten ändern sich, und spätestens, wenn wir zu zweit im Auto sitzen und auf unseren Schenkeln trommeln und laut Roxane singen, weiß ich, dass Reif das alles nicht missen oder eintauschen wollen würde.“ (S. 54)

Ebenso bemerkenswert stimmig ist der Stil, die Sprache in Kintsugi: Konsequent und realistisch lesen sich alle vier Protagonist*innen. Als 1992 geborene Autorin drei Männern Ende Vierzig eine glaubhafte Stimme zu verleihen, ist eine literarische Herausforderung, der sich Miku S. Kühmel nicht nur gestellt hat, sondern in der sie brilliert. Kritisieren kann man die gelegentlich zu bildungsbürgerlichen Formulierungen

„Ich gluckse, als sie mich an diesen alten Namen erinnert, den sie im Kindergarten oktroyiert bekommen hat und mit dem wir sie ewig getriezt haben“ (S. 116)

und die teils sehr abrupten Übergänge zwischen Rückschau und Realität. Aber das sind Bagatellen, denn hier liegt ein ausgezeichneter Roman vor. Unaufgeregt, ohne banal zu werden, mit einer Liebe zur Sprache und großem handwerklichen Geschick erschaffen. Mit Inhalten, in denen man sich als Leser*in sofort wiederfindet, ohne jemals gelangweilt zu werden. Mit Details, die in Erinnerung bleiben. Ein Buch, das schnell gelesen, aber keinesfalls schnell vergessen ist.

 

Miku Sophie Kühmel: Kintsugi, S. Fischer Verlag 2019, 304 S.

mehr von Miku lesen: freiTEXT: Gehwegplatte

 

Lisa-Viktoria Niederberger


Lieber Thomas Brezina, hat das wirklich sein müssen?

Lisa-Viktoria Niederberger über Thomas Brezinas neues Knickerbockerbandenbuch „Alte Geister ruhen unsanft“. Ein bisschen Rezension, ein Hauch Begeisterung, eine große Dosis Unverständnis und ACHTUNG: ein paar ganz massive SPOILER.

Für alle, die auf der anderen Seite der Grenze aufgewachsen sind: de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Brezina

Er kann's einfach nicht lassen, der Brezina. Weit über 500 Bücher, Drehbücher und Hörspiele hat er schon verfasst. Seit über zwanzig Jahren ist er nicht nur im Literaturbetrieb, sondern auch in meinem Bewusstsein immer mehr oder weniger präsent. Ich hab sie gefressen, als Kind, die Tom Turbo-Bücher. Hab mich stundenlang für Autogramme angestellt, mein Vater hat mir mein Kinderfahrrad damals sogar umgebaut, so dass es ähnlich wie Tom aussieht. Mit der Knickerbockerbande war es ähnlich; in zahlreichen Banden bin ich mit meinen Freundinnen gewesen. Aus Mangel an Burschen in unsere Runde hab ich auch immer freiwillig Axel gespielt. War mir egal, Axel war cool.

„Was ist eigentlich geworden aus ihnen, meinen Helden von damals?“

Irgendwann mit der Pubertät hat dann aber auch bei mir das Umdenken begonnen: Wie komisch ist eigentlich die Knickerbockerbande? Wie unrealistisch ist das, dass zwei 13-jährige mit einer 9-jährigen befreundet sind? Dass sie permanent um die Welt reisen und Abenteuer erleben? Dabei oft fast sterben, entführt, manchmal sogar auch richtig arg gefoltert werden? Welcher Erwachsene kann das mit einem guten Gewissen schreiben, bzw. seinen eigenen Kindern schön verpackt unter den Christbaum legen? In „Der tätowierte Elefant“ werden Axel und Lilo kopfüber über ein Becken mit glühenden Kohlen gehängt – das war dann mein letztes Knickerbockerbandenbuch, das ich gelesen habe, weil mich das so verstört hat.

Thomas Brezina hat natürlich nicht aufgehört, sie zu schreiben. Über 70 Bände gibt es mittlerweile, jüngst erschienen: „Alte Geister Ruhen unsanft“, ein Buch, das nicht nur mit einem unnötig sperrigen Titel auf sich aufmerksam macht, sondern generell ganz aus dem klassischen Schema fällt, schließlich sind die Knickerbocker hier alle Mitte bzw. Anfang Dreißig. Brezina bedient sich hier demselben Marketingmechanismus wie J. K. Rowling in der Harry Potter-Reihe, nämlich das Zielpublikum mit den Protagonisten mitwachsen zu lassen um immer maximales Indentifikationspotential zu bieten.

„Gott sei Dank schaltet sich kurz vor dem Ende eine neue Person ein und erspart den Knickerbockern durch seine Offenbarung wahrscheinlich jahrelange Therapie.“

„Alte Geister ruhen unsanft“ ist genau für Leute wie mich gemacht: Erwachsene, die zwecks des Nostalgieeffekts ohne zu zögern 18 € über den Tresen wandern lassen, wieder zu den Büchern mit dem altbekannten roten Logo greifen, zu Hunderten Thalia-Filialen in ganz Österreich stürmen, wenn er dort Lesungen hält, weil man ja trotzdem irgendwie wissen will: Was ist eigentlich geworden aus ihnen, meinen Helden von damals?

Und das ist schnell erzählt: Dominik ist berühmter Schauspieler in Amerika, hat nicht nur die Hauptrolle in einer Netflixserie, sondern auch ein ordentliches Alkohol- und Drogenproblem. Minizoobesitzerin Poppi lebt ein idyllisches Tierarztleben mit ihrem Ehemann in Graz, hat allerdings Angst, dass sie unfruchtbar ist. Axel ist natürlich Sportlehrer geworden, in Linz picken geblieben und lebt dort mit einer Frau, von der er das ganze Buch über sehr schwärmt und die sich erst kurz vorm Ende als seine Tochter, die er alleine großzieht, entpuppt. Superhirn Lilo ist noch immer bergfixiert, hat zwei Masterstudien absolviert und arbeitet in Innsbruck auf der Uni. Hat allerdings Schlafstörungen und Depressionen. Es sind also durchaus realistische Personenentwicklungen, die Brezina da schildert. Nichts ist übertrieben, niemand hat das perfekte Leben, alles glaubwürdig, passend zu dem, wie er sie als Kinder kreiert hat.

„Nein, das war kein Zufall, das war alles von Anfang an Teil eines viel größeren Plans.“

Nach zwanzig Jahren ohne Kontakt zueinander, treffen sich die vier erstmals auf einer Insel vor der südenglischen Küste wieder. Wer sie dorthin eingeladen hat, bleibt lange unklar. Dort finden sie nicht nur wieder zueinander, beseitigen umständlich alte Konflikte, knüpfen neue amouröse Bänder (immerhin ist es ja ein Buch für Erwachsene), klären nebenbei einen Jahrzehnte alten Mordfall (immerhin sind es die Knickerbocker), haben horrorfilmmäßige Halluzinationen, die so plastisch und ekelhaft sind, dass sie auch gut Stephen King schreiben hätte können, und finden gegen Ende des knapp 400 Seiten starken Schmökers auch tatsächlich heraus, warum sie als Kinder bzw. Jugendliche in so viele haarsträubende Abenteuer verwickelt waren. Denn nein, das war kein Zufall, das war alles von Anfang an Teil eines viel größeren Plans.

Damals, in Kitzbühel, als die Knickerbocker ihren ersten Fall „Rätsel um das Schneemonster“ gelöst haben, ist der Produzent einer Substanz, die Menschen dazu bringen soll, in Stresssituationen optimal zu reagieren und den Intelligenzquotienten erhöhen soll, auf sie aufmerksam geworden und hat beschlossen, sie jahrelang ohne ihr Wissen als Probanden zu missbrauchen. Anhand dieser Studien wollte er das Mittel perfektionieren, um es später gewinnbringend an Heere, Warlords oder Geheimdienste verkaufen zu können. Den Knickerbockern wurde nicht nur über den gesamten Verlauf ihrer Juniordetektivkarriere dieses Mittel über Speisen und Getränke verabreicht, sie wurden auch immer über Tonaufnahmen überwacht, ihre Entscheidungen und Ermittlungen minutiös protokolliert, nein – durch getürkte Preisausschreiben und ähnliche Täuschungen, wurden sie von besagtem Waffenproduzenten auch bewusst in Abenteuer verstrickt.

„Meint ihr, es war Zufall, was ihr alles erlebt habt? (…) Meine Mitarbeiter haben ununterbrochen nach mysteriösen, ungelösten Kriminalfällen gesucht und ich habe euch auf sie angesetzt. Für spezielle Tests haben wir sogar Fälle erfunden und für euch inszeniert, aber das kam nur sehr selten vor.“ (S. 369).

 

Als sich die Knickerbocker damals als Teenager trennten (primär deswegen, weil Axel von der Substanz schlimme Halluzinationen hatte, die dazuführten, dass Lilos Vater in eine Lawine geriet, die ihn fast getötet hätte und weil sie sowieso alle mehr Lust hatten, hormonell gesteuerte Jugendliche zu sein, als Detektive), war der böse Strippenzieher natürlich unglaublich frustriert. Deswegen hat er nun, nach zwanzig Jahren, beschlossen, dieses Treffen zu inszenieren, um die Bande erneut der Substanz auszusetzen und zu sehen, wie sie auf Erwachsene wirkt.

„Was bleibt, ist die Unsicherheit, der Schock über die plötzliche Erkenntnis: Wir waren gar nicht so klug und so super, wie wir unsere ganze Kindheit über gedacht haben.“

In einer persönlichen Konfrontation im letzten Buchdrittel gibt er sich zu erkennen, klärt alles auf und fordert einen finalen Test, verspricht, sie dann für immer in Ruhe zu lassen: Sie sollen beschließen, wer das schwächste Mitglied im Team ist und diese Person dann gemeinsam von einer Klippe stoßen. Aber die Knickerbocker sind keine Kinder mehr, sie haben jetzt einen Kumpel, und der hat ein Gewehr, der Bösewicht wird also problemlos überwältigt und verhaftet.

Was bleibt, ist die Unsicherheit, der Schock über die plötzliche Erkenntnis: Wir waren gar nicht so klug und so super, wie wir unsere ganze Kindheit über gedacht haben. Wir sind einer Droge ausgesetzt worden, ohne die wir wahrscheinlich kompletter Durchschnitt gewesen wären. Die vier Protagonisten sind am Boden zerstört.

Gott sei Dank schaltet sich kurz vor dem Ende eine neue Person ein und erspart den Knickerbockern durch seine Offenbarung wahrscheinlich jahrelange Therapie. Ihnen wird nämlich ein Brief von einem gewissen Mister Watanabe zugespielt, der sich als der tatsächliche chemische Entwickler der Substanz zu erkennen gibt (der vorher war nur der Geldgeber) und der ihnen versichert, dass diese aufgrund eines Fehlers der Rezeptur nicht nur immer komplett wirkungslos gewesen ist, sondern dass sie auch keine Angst vor etwaigen Folgeschäden haben müssen. Die Knickerbocker, frisch von der Gesundenuntersuchung, können also erleichtert aufatmen, sie waren also doch Genies als Kind. Warum Watanabe zwanzig Jahre gewartet hat, um ihnen das mitzuteilen, beziehungsweise warum er als seriöser Wissenschaftler sich überhaupt an Experimenten an Kindern beteiligt hat, wird auch erklärt. Er hat eine kranke Tochter, deren medizinische Versorgung nur durch sein Stillschweigen gewährleistet werden konnte. Mhm.

"Jeder kehrt nach diesem abenteuerlichen Wochenende wieder zurück in seinen Alltag, man trifft sich ja bald wieder auf Skype."

Und dann ist alles gut, die Freundschaft ist stärker den je, Axel und Lilo gestehen sich nach zwanzig Jahren ihre Liebe, man verspricht, den Kontakt ja nicht wieder abreißen zu lassen und jeder kehrt nach diesem abenteuerlichen Wochenende wieder zurück in seinen Alltag, man trifft sich ja bald wieder auf Skype.

„Aber wie hoch sind unsere Chancen?“, fragte Lilo nervös. Axel nahm sie an den Schultern, blickte ihr fest in die Augen und sagte schelmisch: „Wir werden das nicht errechnen, Frau Superhirn, das können wir nur durch Versuche herausfinden.“ Vor dem Pub stehend, beobachteten Dominik und Poppi die beiden und grinsten. „Na endlich“, stellte Poppi fest. „Gut Ding braucht Weile.“, steuerte Dominik eine kleine Weisheit bei. (S.390/91)

Was bleibt, ist die Verwunderung beim Leser: Lieber Thomas Brezina, hat das wirklich sein müssen? Nicht das Buch an sich, das hat schon seine skurrile Daseinsberechtigung, seinen Unterhaltungswert, seinen Schmäh in den Dialogen, seinen eindeutig für erwachsene Leser gedachten und trotzdem angenehm flüssigen Stil. Die Rahmenhandlung mit dem uralten Mordfall ist ein netter Krimi. Es hat mir einen sehr schönen, nostalgischen Nachmittag beschert. Aber diese Erklärung mit der Substanz, die man erst an Kindern testen muss, um sie dann später an Soldaten verkaufen zu können?! Es wirkt fast, als hätte Brezina jetzt auf einmal ein schlechtes Gewissen, weil er fiktive Kinder jahrzehntelang einfach nur zu Unterhaltungszwecken in lebensbedrohliche Situationen gebracht hat und jetzt im Nachhinein versuchen muss, das irgendwie zu legitimieren. Ob es jetzt moralisch vertretbarer ist, wenn Kinder von bolivianischen Drogenhändlern gekidnappt werden, wenn es darüber noch eine Instanz gibt die „eh aufpasst“, weil das „eh nur ein Experiment“ ist, ist meiner Ansicht nach nicht nur sehr, sehr fraglich sondern zerstört retrospektiv immens viel der Magie, die die Abenteuer der Knickerbocker auf meinen kindlichen Geist damals ausgeübt hat.

Lisa-Viktoria Niederberger

NEU: Birgit Birnbacher - Wir ohne Wal

Birgit Birnbacher, langjähige Weggefährtin des mosaik, veröffentlicht diesen Herbst ihr Prosadebut im Salzburger Jung und Jung-Verlag. Ab heute ist es erhältlich - wir haben schon mal reingeschaut...

Viel war die Rede von denen über 30. Doch was machen die mit Mitte 20? Ausbildung, studieren, etwas anderes, alles anders. Feiern, die Welt verbessern, labern. Aber das Leben: Ist das schon das Leben? Ist das alles schon ernst? Während sie noch darauf warten, dass es beginnt, müssen sie erkennen, sie sind längst mittendrin. Und aus diesem Mittendrin stürzt sich jemand von der Brücke und einer schaut zu.

"Bei uns ist ja der Himmel fast immer weiß und der Verkehr gleichmäßig laut. Er ist einfach da und irgendwann nicht mehr, und obwohl er ein Wal über einer Stadt ist, bemerkt man ihn kaum."

>> Leseprobe

"Birgit Birnbacher muss ich hier nicht vorstellen. Auch nicht ihre haarsträubende Beobachtungsgabe und ihr Stil, diesen Sprachfluss, der Atem und Klangfarbe an sich hat, in dem die Ebenen von Erinnerung, Gegenwart, Vorgang und Vorstellung ineinander übergehen. Und ganz sicherlich nicht das, was auch die neuere Germanistik bereits als Birnbachersche Ellipse in den Blick genommen hat, und was immer wieder die Plötzlichkeit des Geschehens, des Denkens und Erlebens in Sprache deutlich, also das, was während schon das nächste. Wir ohne Wal, Birgit Birnbachers Debut, webt sich aus zehn Geschichten zu einem Roman zusammen. [...] Die Geschichten konzentrieren sich auf zehn Beobachterfiguren, in deren Spiegelkarussell der Roman zum Reigen wird."

Tobias Roth

die vollständige Rezension von Tobias Roth erscheint in mosaik21 (November 2016)

Wir ohne Wal ist ab heute, 8. September 2016, erhältlich.

Birgit Birnbacher: Wir ohne Wal. Salzburg, Jung und Jung, 2016. 182 Seiten, gebunden, € 18,-

 

Weitere Texte von Birgit findest du in >> mosaik6, >> mosaik8, >> X-Kurzprosa, >> mosaik11 & >> mosaik15

Fotos: (c) Josef Kirchner


Eine lohnenswerte Reise

Ein alter Passagierdampfer. Dahinter zahlreiche Segel von anderen Schiffen vor einem Himmel, der aussieht wie vergilbtes Papier. Die ersten Assoziationen von Abenteuer und Entdeckergeist, historischer Romantik und Realität werden nicht enttäuscht werden: Matthias Engels legt mit Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun einen ansprechenden (literatur-) historischen Roman vor. Gut recherchiert, gut arrangiert.

"Kurz nach Neujahr 1882 erreichte ein junger Mann nach seiner Überfahrt von England den Hafen von New York. Längere Planungen und vielfältige Korrespondenzen waren der Reise vorausgegangen und wenn alles gut liefe, würde sein Aufenthalt ein großer Erfolg werden."

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"Kurz nach Neujahr 1882 schiffte sich ein junger Mann für die Überfahrt von Bremerhaven nach New York beim Norddeutschen Lloyd ein. Wie aus heiterem Himmel hatte sich die Gelegenheit geboten und er hatte nicht gezögert, sie zu ergreifen."-

Fast zur selben Zeit brechen zwei der wichtigsten Figuren der Literaturlandschaft des späten 19. Jahrhunderts zum selben Ziel auf: Amerika. Was für den einen eine Luxusreise zu Lesungen und Konferenzen werden soll, ist für den anderen die letzte Hoffnung der heimatlichen Tristesse des (noch) nicht entdeckten Schriftstellers zu entfliehen. Die Ausgangslage von Oscar Wilde und Knut Hamsun könnte kaum unterschiedlicher sein.

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"Für die Wohlwollenden, Geduldigen & Unentbehrlichen"

 

Auf 450 Seiten entwirft der Buchhändler Matthias Engels ein Parallelportrait zweier Herren, die unabhängig voneinander ihre Erfahrungen in der Gesellschaft und im Literaturbetrieb gemacht haben. Wilde trifft wichtige Personen des Zeitgeschehens, die weniger die Handlung vorantreiben als das intellektuelle Interesse der LeserInnen bedienen - mitunter wähnt man sich in einem Bill Bryson-Roman, wenn man in einem der zahlreichen Exkurse von Edison die Glühbirne erklärt bekommt oder lernt, was Chirologie ist:

"Lassen Sie uns nun die Finger getrennt vom Rest der Hand betrachten:
Der erste Finger wird als Diktator, Gesetzgeber, als Zeiger des Ehrgeizes angesehen. Wenn dieser Finger ungewöhnlich lang und fast gleich dem zweiten ist, sind alle diese Tendenzen sehr ausgeprägt. [...]
Der Charakter wird maßgeblich durch den Daumen abgebildet: [...]
Je kürzer und dicker die Partie um den Nagel ist, desto unregierbarer ist das Temperament dieser Person. Solche Menschen haben keine Kontrolle über sich selbst und werden beim kleinsten Widerspruch in blinde Wut verfallen. Diese Erscheinung wurde auch als Mörderdaumen bekannt, weil viele, die einen Mord in einem verrückten Anfall von Leidenschaft begangen haben, diese Art von Daumen besaßen."

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Hat man diesen ersten Teil überwunden und weiß man nach etlichen Wiederholungen ausführlich, welche Kniebundhosen der groß gewachsene Wilde zu welcher Oberbekleidung und Frisur getragen hat, so konzentriert sich der Rest des Buches auf die interessanten Biographien der Autoren und der ihnen nahestehenden Personen. In den Details, die konsequent in den Mittelpunkt gestellt werden, bekommt man einen Überblick über das Zeitgeschehen und den Zeitgeist eines ausgehenden Jahrhunderts und erfährt ganz nebenbei, wie sich Häftlinge in britischen Gefängnissen damals die Zeit vertrieben haben.

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Doch während die Biographie von Wilde nach der Rückkehr nach Europa immer mehr nach unten zeigt, kann jene von Hamsun nur nach oben gehen. Während ersterem der offene Umgang mit seiner Homosexualität zum Verhängnis wurde, veröffentlichte letzterer mit Hunger jenes autobiographisch angehauchte Werk, das ihm erstmals die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bescherte. Doch jeder Ruhm ist vergänglich. Dass Hamsun seine Literaturnobelpreismedaille Joseph Göbbels schenkte, wird ihm nach dem Krieg und am Ende des Buches ebenso zu Fall bringen.

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behutsam Erfundenes

 

Engels hält die Freiheit des historischen Erzählens hoch. Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun ist kein populärwissenschaftliche Nacherzählung, wie Engels im Nachwort festhält: "vielmehr nimmt er sich die Freiheit, mit den (oft widersprüchlichen) Quellen zu spielen und diese zu einem So-könnte-es-gewesen-sein zuzuspitzen". Es ist dies eine Herangehensweise, die in den letzten Jahren unter anderem Michael Köhlmeier mit Zwei Herren am Strand populär gemacht hat.

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Insbesondere das geschichte Arrangement von Briefen, Zeitungsartikeln und sonstigen historischen Quellen fällt auf: Gekonnt vermitteln kurze geographische und meterologische Berichte am Anfang der Dokumente einen Überblick über die Ausgangslage. Trotz der Episodenhaftigkeit, die eine inhaltlich motivierte Konzentration auf einzelne Abschnitte bedingt, werden die einzelnen Details durch die verbindende Prosa gefühlvoll und mit exakter Sprache zu einem flüssigen Ganzen verwoben.

10.08.1888 - Kopenhagen, Dänemark

55°40'25.262" Nord | 12°34'05.329" Ost

Ein kräftiges Tief vom Nordatlantik verdrängt warme Luft aus dem Süden und über Russland. 46° Fahrenheit.

Der Feuilleton-Redakteur der Politiken, Edvard Brandes, saß mit einer Hinterbacke auf der Kante seines Schreibtisches und sprach aufgeregt auf einen Gast in seinem Büro ein, der im Lehnstuhl ihm gegenüber Platz genommen hatte. [...]
"Behrens", sagte er, "Können Sie sich denken? Als ich heute Morgen an der neuen Ausgabe arbeitete, kam ein junger Norweger und wollte mit mir sprechen. Und natürlich hatte er ein Manuskript in der Tasche! Aber das interessierte mich anfangs weniger als der Mensch selber."

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Die heiklen Passagen ist Unterhaltung und legere Bildung zugleich, verbirgt sich jeodch hinter einem unnötig sperrigen Titel. Der offensichtliche Rechercheaufwand macht sich bezahlt, die abwechslungsreiche Gestaltung rechtfertigt den Umfang - dem kleinen Ein-Frau-Verlag Stories & Friends ist ein auch äußerlich schönes Buch gelungen, das eine Nische für bibliophile und literaturbegeisterte LeserInnen füllt.

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Lisa Viktoria Niederberger & Josef Kirchner

Beitragsbilder (c) mosaik


Robinson im Raumanzug

„Ich bin sowas von im Arsch.“ Mit diesen Worten beginnt der erste Logbucheintrag des Astronauten Mark Watney, und so beginnt auch Andy Weirs Roman „Der Marsianer“. Und treffender kann Watney seine Situation auch gar nicht beschreiben. Er war das Mitglied einer sechsköpfigen Expedition zum Roten Planeten.

Aufgrund seines heftigen Sandsturms mussten die Raumfahrer ihr Basislager aber schleunigst verlassen und sich sofort in den sicheren Marsorbit evakuieren. Nach nur sechs Marstagen war die eigentlich auf über fünfzig Tage anberaumte Marsmission zu Ende. Und dann passiert bei der Flucht durch den Sturm ein verehrender Unfall: Ein Stück Antenne, das der Sturm von der Wohneinheit abgerissen hatte, trifft Watney. Das letzte, was seine Kameraden von ihm sehen, ist wie er, aufgespießt von einem Metallstab vom Sturm in ein undurchschaubares Sandchaos verblasen wird. Die anderen halten ihn für tot und starten die Maschinen zum Heimflug Richtung Erde. So etwas kann man nicht überleben, nicht an einem so lebensfeindlichen Ort wie dem Mars.Read more