Gehwegplatte
Ein erstaunlich dunkler Samstag Nachmittag im Juli. In der Vorstadt ist die Luft dick und die steingrauen Wolken hängen tief. Ich trage lustlos zwei Einkaufstaschen, die, nur mit Luft gefüllt, schon zu schwer sind. Die Gehwegplatten liegen lose da, manchmal knirschen zwei verärgert, wenn ich sie mit einem Schritt in den alten Sand darunter und an den Kanten gegeneinander drücke. Im Garten meines Vaters lagen genau diese Platten auch, in so großen Abständen, dass sie für mich immer ein Hüpfspiel bildeten, auch noch, als ich kurz vor den Abschlussprüfungen stand. Wenn ein Regenguss uns in den Sommerferien überraschte, fluchte meine Mutter immer, das sei nicht barrierefrei für kurze Beine wie ihre, wenn sie daneben trat und im Matsch landete. Wir anderen lachten dann laut, mein Vater zog sie auf die Füße und mit zusammengekniffenen Augen und eingezogenem Kopf retteten wir Grillwürstchen, Auflauf, Eis und Kuchen in die muffige Gartenhütte, schlidderten mit nassen nackten Füßen auf der billigen Linol-Auslegeware, in deren schmutziges Schachbrettmuster die Mäuse und Käfer Jahr um Jahr neue Muster fraßen.
Wenn das Wetter gut war und die Gehwegplatten fast von wildem Klee überwuchert, machte ich mir den größten Spaß daraus, eine nach der anderen mit spitzen Fingern für einen Augenblick anzuheben, mit dem Ohr ganz flach auf dem Boden daneben. Zuzusehen, wie erschrocken Raupen davon larvten in das Dschungeldickicht des Rasens und Ameisen ihr Hab und Gut schnell in die hunderte winzige Löchlein verschleppten. Das Licht warf in dieser unterirdischen Steppenlandschaft, kam es einmal bis dorthin, erstaunlich lange Schatten. Mein Vater musste jedoch immer nur kurz ein Räuspern von sich geben, irgendwoher, schräg hinter den Rosenbüschen, aus dem Kartoffelloch, von der Krone des Apfelbaums oder dem Ufer des kleinen Teiches aus. Schon legte ich die Platte wieder vorsichtig zurück, darauf bedacht, dass jede der Kanten eins zu eins mit den schwarzen Quadraten schloss, dass die Platte sich im Gras zurecht gelegen hatte. Und immer die schöne Gewissheit, dass darunter Leben war. Ich war lange nicht mehr im Garten meiner Eltern. Vermutlich ist mittlerweile alles überwuchert, aber selbst wenn man die Betonplatten nicht mehr sehen kann wüsste ich genau: sie sind noch da.
Auf dem Rückweg vom Supermarkt kaum eine Menschenseele. Ein Dackel, der niemandem zu gehören scheint. In einem Auto, das auf der anderen Straßenseite parkt, streitet sich stumm und wild gestikulierend ein junges Paar. Irgendwoher schreit ein Kind. In der Ferne donnert es. Die Luft ist noch feuchter geworden, der Dreck klebt an meinen Händen, als ich mich hinhocke, gucke, ob keiner guckt, versuche, eine der Platten vorsichtig anzuheben.
Miku Sophie Kühmel
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