freiTEXT | Carina Plinke
2. März 2018Literatur,freiTEXTProsa,Carina Plinke
Druck nach Unten/ Trixi
„Ey Trixi, du siehst so geil aus. Du leuchtest richtig. Ich glaub, wenn du frei bist, schillerst du am meisten.“
Ich lächel und nicke, versinke in den merkwürdig aufdringlichen Farben, im Beat. Wir stehen mitten auf der Tanzfläche und unsere nassgeschwitzte Haut berührt sich. Unangenehm. Sie fasst mir mit der Hand an den Hinterkopf, als ob sie mir einen Kuss aufzwingen wollen würde. Sie kommt so nah an mich heran, dass ich sie riechen muss, und hören, weil die Musik ja sonst zu laut ist. Ich muss sie hören.
„Du bist so eine, dich muss man immer freilassen, ne? Bloß nicht festhalten,“ und während sie das sagt, rutscht sie mir mit ihrer Hand in den Nacken.
„Sag mal Trixi, wieso hast du überhaupt n`Kind bekommen?“
Mein Körper bewegt sich nicht mehr. „N`Kind?“
Ich zucke die Schultern: „Keine Ahnung!“
Ich will doch bloß tanzen. Warum fragt sie überhaupt, was geht sie das an?
„Druck nach unten. Seit der Geburt meiner Tochter habe ich immer so einen Druck nach unten.“
Die Therapeutin schaut mich nachdenklich an und fragt dann:
„Hast du dich jemals gefragt, ob du dein Kind liebst?“
„Nein, ich mein, ist doch klar, dass man sein Kind liebt! Der Druck kommt von der Gebärmutter.“
„Warst du mal beim Arzt?“
„Nein. Ich mag keine Ärzte“
Ich lehne mich übers Waschbecken und bilde mir ein, dass eine Spinne über meine Hand läuft, dabei war es vermutlich nur ein Schatten. Oder ein Haar. Oder eine Spinne. „Sandra, hast du die Spinne gesehen?“
„Was für ne Spinne, Trixi?“
„Ach, keine!“
„Lass mal was zu trinken holen!“
„Ne, ich glaub ich habe genug. Ich glaub, ich fahr gleich nach Hause!“, während ich das sage, sehe ich schon wieder diese kleine Spinne. Diesmal auf der anderen Hand. Sie ist so klein und flink, ich kann sie nicht im Auge behalten.
„Trixi, du hast endlich mal Ausgang. Ziad wird sich schon gut um die Kleine kümmern. Ich hol uns was. Du brauchst das!“ Du. Brauchst. Das. Was? Wirklich?
Sie schiebt mich an die Bar.
Ich schaue auf die Uhr, es ist drei. Um drei wird Mia meistens wach und will zu uns ins Bett. Um sechs will sie Frühstück. Das sind bloß noch drei Stunden.
Sandra schiebt mir nen Wodka zu.
„Habt ihr schon mal als Familie Urlaub gemacht?“
„Nein!“
„Warum?“
„Kein Geld!“
„Was macht dein Mann?“
„Er ist neu in Deutschland, er arbeitet nicht!“
„Fehlt dir das?“
„Dass er arbeitet? Manchmal fehlt es mir, dass sich jemand um mich kümmert, also finanziell! Ziad kümmert sich hervorragend um mich und Mia.“
„Gibt es denn kulturelle Differenzen?“
„Nein, bei Ziad und mir ist alles in Ordnung. Bloß...“
„Ja?“
„Manchmal fehlt er mir so... ohne Mia!“
Wir stehen wieder auf der Tanzfläche. Die Welt ist ad absurdum geführt, unter dem Alkohol keine Welt mehr, sondern ein Traum, einer ohne Mia und Ziad. Sie fehlen mir n` bisschen, aber der Typ hinter mir gefällt mir ganz gut, er legt mir die Hand um die Hüfte, zieht mich an sich heran. Seine Hand gleitet bis zwischen meine Beine, mitten auf der Tanzfläche. So was hätte ich auch betrunken früher nicht gemacht. Aber ich will den Mann. Jetzt und sofort. Ich mach das. Wir treffen uns auf der Toilette.
„Ich habe mal einen Text zu deiner Frage geschrieben.“
„Zu welcher Frage?“
„Ob ich meine Tochter liebe! Soll ich ihn vorlesen?“
„Gerne!“
„Als du vor einem Jahr geboren wurdest, lagst du vor mir und ich wusste nicht, wer du bist. Dabei wusste ich das, als du in meinem Bauch warst noch ganz genau, da habe ich dich noch gespürt, dich berührt, du warst mit mir, in mir. Ich war so verliebt in dich.
Bei der Geburt stellte ich mir nur noch die Frage: Was zur Hölle ist das? Über die Schmerzen hat man ja schon viel gehört. Aber das sind keine Schmerzen, das ist die Hölle. Irgendwann stieg ich aus. Die Schmerzen zu stark, fern ab von der Realität. Ich wollte mich verabschieden, von der Realität, in eine Zwischenwelt. Irgendwo da, wo ich mich nicht mehr spüre, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Da habe ich dich aber auch nicht mehr gespürt und da bin ich geblieben. Da bin ich immer noch. Ich spüre dich nicht. Ich spüre Mia nicht. Aber da ist trotzdem Liebe und die ist unendlich groß und es hört sich verrückt an, aber die Liebe macht mir die größten Vorwürfe. Als würde sie mir zurufen: Ich bin da, warum spürst du mich bloß nicht? Warum liebst du sie nicht genau so, wie du sie in deinem Bauch geliebt hast?“
„Trixi, das auf deiner Hand vorhin war keine Spinne, das war ne Motte, auf der Toilette sind ganz viele kleine Motten.“ Motten? Motten mögen das Licht. Ich auch! Ich vermisse das Licht, ich vermisse die Sonne. Aber ich habe nie Zeit mich zu sonnen. Zu viel Sonne ist nicht gut für Mia. Ich geh zurück auf die Toilette und schlage alle Motten tot. Schlage sie tot und schreie. Ich schlage um mich und schreie und schreie und schwitze und ich will sie doch lieben aber ich kann nicht weil ich mein altes Leben zurück will das schreie ich und sie kommen und stehen im Türrahmen dieser Clubtoilette und starren mich an wie eine Wahnsinnige was ist denn mit der die ist ja verrückt hat wohl zu viel gesoffen so schmeißt sie doch endlich raus raus mit ihr.
Das Krankenhauslicht ist so kalt geworden. Ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Sie muss endlich raus, holt sie zur Hölle aus mir heraus.
„Ziad?“
„Yes my dear!“
„What you think? What if Mia never existed? Would we still be lovers?“
Carina Plinke
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
der mosaik-März
28. Februar 2018Linz,Bregenz,Leipzig,Wien,Ankündigungen,Veranstaltungen,Kulturszene,Buchpräsentation,LesungSalzburg,Lisa-Viaktoria Niederberger,Franziska Füchsl
Im März beginnt's! Oder so ähnlich... Auf jeden Fall wird der mosaik-März intensiv. Lesungen, Konzerte, Diskussionen, Gespräche - in fünf Städten!
-
Samstag, 10. März | 19:30 | Salzburg: academy Bar
Lisa-Viktoria Niederberger & Two on Glue
Lesung & Konzert
Natur und im Speziellen die Mistel zieht sich wie ein roter Faden durch den gleichnamigen Band von Lisa-Viktoria Niederberger. Mit ihrer einzigartigen Verbindung von Hochsprache mit österreichischer Umgangssprache bindet sie nicht nur unpretentiös Bilder und Vergleiche ein, sie behandelt gleichzeitig mit einer nie dagewesenen Leichtigkeit scheinbar unaussprechliches.
Die Musik von Two on Glue ist eine Mischung aus akustischen Punksongs und Mundart-Liedern mit Schlager- und Ska-Einflüssen. Die Songs bestechen durch persönliche Texte mit Tiefgang, abwechslungsreichen Sound und politisch nicht immer ganz korrekten Humor.
Und weils was zu feiern gibt: DJ-Line bis zur Sperrstunde!
>> zur Facebook-Veranstaltung <<
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Samstag, 17. März | 16:00 | Leipzig: Buchmesse, Forum Literatur Halle 4
Andere Formate?
Redakteure diskutieren Literaturzeitschriften, die sich zu Plattformen erweitern.
Die gedruckte Litertaturzeitschrift, die einmal pro Quartal erscheint, ist schon länger nicht mehr das einzige Medium, das neue Stimmen in die Literaturlandschaft bringt. Und natürlich kommen nicht alle interessanten Formate aus Berlin oder Wien. Andreas Heidtmanns „poetenladen“ aus Leipzig bot als eine der ersten Seite im Netz Lyrikern die Möglichkeit, ihr Schaffen in kleiner Auswahl vorzustellen. Mittlerweile kamen die Literaturzeitschrift „poet“ und ein eigener Verlag hinzu. „Faust Kultur“ aus Frankfurt am Main, vertreten durch Alexandru Bulucz, versteht sich als „wwweltbühne für Autoren und Künstler“. Man findet hier kurze Kulturtipps genauso wie ausführliche Besprechungen und literarische Texte. „mosaik“ ist ein junges Magazin aus Salzburg. Die Beteiligten organisieren dort die „Kritischen Literaturtage“ mit, man bemüht sich um allerlei „Vernetzung und Vermittlung gegenwärtiger Literaturen“. Und nicht zuletzt ist das Heft kostenfrei erhältlich. Josef Kirchner ist für „mosaik“ auf dem Podium. Die Schriftstellerin und Kritikerin Sabine Scholl moderiert.
Samstag, 17. März | 20:00 | Leipzig: textat. Textatelier
mosaik-Auswärtsspiel
Buchpräsentationen Franziska Füchsl & Lisa-Viktoria Niederberger
Zwei der spannendsten Stimmen junger Literatur stellen ihre ersten Bände vor: Franziska Füchsl arbeitet sich mit viel sprachlichem Feingefühl an grundlegenden Fragen der Bedeutungsebenen ab; Lisa Viktoria Niederberger entwickelt in ihren Texten einen Sog, der scheinbar unaussprechliches sinnlich erfahrbar macht.
Eine Kooperation der edition mosaik mit dem Textat Textatelier.
>> zur facebook-Veranstaltung <<
Franziska Füchsl: rätsel in großer schrift. edition mosaik (Salzburg), 2018.
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Sonntag, 18. März | 20:00 | Wien: Café Anno
Anno Literatur Sonntag mit Lisa-Viktoria Niederberger
Der Anno Literatur Sonntag (ALSO) bietet junge, zeitgenössische Literatur in gemütlicher und entspannter Kaffeehausatmosphäre.
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Dienstag, 20. März | 19:30 | Linz: Sputnik Rock Café
Lisa-Viktoria Niederberger & Hoizkopf
Lesung & Konzert
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Samstag, 24. März | 16:00 | Salzburg: Buchhandlung Stierle
indiebookday, u. a. mit Lisa-Viktoria Niederberger
Lesung und Gespräch
Den ganzen Tag über Lesungen und Gespräche mit Autor*innen, Konzerte u. v. m. Mit Lisa-Viktoria Niederberger, Jochen Jung, Mareike Fallwickel u. v. m.
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Donnerstag, 29. März | 20:00 | Versatorium (Geusaugasse 39, Wien)
Buchpräsentation: Franziska Füchsl - rätsel in großer Schrift
„nous nous devons au mot. schulden wir uns dem wort? schulden wir ihm unser fragen? die frage : wie klein ist wort? wie klein mot? wie groß die fragen, wie viele die antworten?“
Franzsika Füchsl begibt sich in ihrem ersten Band auf die Suche nach dem Wort und findet die rätselhafte Bleibe eines Freundes. Bedeutungsebenen überlagern sich oder verschwimmen – ebenso wie Genrezugehörigkeiten.
Samstag, 31. März | 19:00 | Bregenz: Hotel Schwärzler
Literatur im Schwärzler, u. a. mit Franziska Füchsl
Zum 4. Mal finden im Hotel Schwärzler Literaturtage statt - dieses Jahr mit Franziska Füchsl und 9 weiteren Autor*innen: Sabine Bockmühl, Moritz Heger, Michael Köhlmeier, Deborah Macauley, Alexander Peer, Hans Platzgumer, Verena Rossbacher, Tabea Steiner und Christian Zillner.
Franziska Füchsl: rätsel in großer schrift. edition mosaik (Salzburg), 2018.
freiVERS | Melanie Khoshmashrab
25. Februar 2018Literatur,LyrikfreiVERS,Rüdiger Käßner,Melanie Khoshmashrab
den haben wir nicht
für Rüdiger Käßner*
ich mag diese küchengespräche, sag ich
wenn du das schwarz erpresst, werd ich ruhig
draußen sind alle schaufenster vernagelt
ich mag die katze, die über dir hängt, sag ich nicht
danke / wenn sich die bahn nachts verspätet, steigen wir auf
oberflächen mit innenalsterblick, du rauchst vor apple
ich mag sitzenbleiben, bis ich zu allem zu spät komm
die ubahn fährt nicht nach münchen, sagst du
bist eigentlich häuslich & einen weltraumbahnhof
Melanie Khoshmashrab
* Rüdiger Käßner war ein feinsinniger Förderer der Literatur. Er hat Lesungen organisiert, jungen Autor*innen einen Bühne geboten und 20 Jahre lang die Hamburger Weblesungen organisiert: Autor*innen kamen in seine Küche, haben mit ihm Kaffee getrunken und anschließend einen Text eingesprochen. Käßner, 1953 in Hamburg geboren, verstarb am 2. Februar 2018 nach langer Krankheit.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Stefanie Schweizer
23. Februar 2018Literatur,freiTEXTProsa,Stefanie Schweizer
Nachts gehen die Lichter aus
Ein Auto fährt vorbei und wir drehen uns zu den Feldern in die Dunkelheit. David steckt die Kappe wieder auf den Filzstift. Er grinst und klopft auf das Metallschild mit dem Ortsnamen darauf. Sofie und ich legen den Kopf schief. Nee. Was nee, fragt David. Ja das funktioniert nicht. Noch ein Auto kommt und wir wenden uns wieder ab. Das ist halt nicht witzig, sage ich. Hanna hat Recht, mit Möckmühl geht das nicht so richtig. Aber man muss doch nur das c streichen, sagt David. Und das k. Und ein s einfügen. Und ein e. Oh. Merkste selbst? David nickt und Sofie steckt sich eine Zigarette in den Mund. In ihrer hohlen Hand explodieren kleine Funken.
David kommt in den Laden und trägt eine Kiste Kartoffeln. Ich nicke und er stellt sie auf die Theke. Ich krame unter dem Tresen herum, nehme eine Rolle Münzgeld und schlage sie in die Kassenschale. Tick, Trick und Track haben was geschickt, sagt Hannes und zieht einen Zettel aus dem Blaumann hervor, war heute Morgen am Fendt. Ich hebe den Kopf und lese: Wir sehen uns am Freitag beim Rettichfest – Chrissi, Simon, Lukas. Ich sehe David an. Das ganze Dorf geht zum Fest, natürlich sehen wir uns da. Was soll denn das für eine Drohung sein? David zuckt mit den Schultern.
Sofie und ich hängen unsere Badeanzüge an einen der Haken unter der Ablage. Die Dusche ist warm und ich tauche mit dem Gesicht unter. Die Frau vom Hins kommt rein und stellt sich unter die andere Brause. Grüß Gott. Ich verdrehe die Augen. Hallo, sagt Sofie. Tut schon gut, gell? Was, frage ich und blinzle durch den Schaum. Tut gut! Sofie nimmt ihr Handtuch und trocknet sich ab. Mädlen? Sofie und ich tauschen einen Blick und ich nehme mein Handtuch. Reist euch am Freitag mal zusammen, sagt die Hins, wir wollen nicht so einen Ärger wie letztes Mal. Sofie salutiert und wir gehen.
Wir liegen auf dem warmen Feldweg und sehen uns die Sterne an. Der Mais steht hoch und das Land ist knochentrocken. Ab und zu explodiert ein Korn im Kolben. Warum eigentlich, frage ich. Was, fragt Sofie. Das mit Tick, Trick und Track. Ist bestimmt so ein Familienfehdeding, sagt David, bestimmt haben sich schon unsere Ureltern gehasst. Ich hasse die nicht, sage ich. Vielleicht sind wir mit denen sogar verwandt, sagt Sofie. David richtet sich auf. Auf gar keinen Fall! Keiner von uns ist so ein scheiß Angeber, oh ich bin es, der Lukas, ich habe einen neuen Rasenmäher bla bla. Ich sehe Sofie an und wir grinsen.
Es trommelt an den Rollladen vor meinem Fenster und ich fahre im Bett hoch. Ich ziehe den Laden nach oben und mir schlägt Blaulicht ins Gesicht. Ich muss die Augen schließen. Mein Cousin rückt die Uniform zu Recht und nickt auf den Wagen hinter sich. Was dieses Mal, frage ich und winke David und Sofie zu. Einbruch, Diebstahl eines Aufsitzmähers, Zerstörung eines Aufsitzmähers. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben. Du kannst froh sein, dass ich Dienst habe. Ich nicke und hole die beiden aus dem Wagen.
Der Löhneberger trägt sogar seinen Feuerwehrhut und der Dachser sieht sich um. Die beiden stehen auf dem Platz vom Rettichfest. Das Gras, das ist viel zu trocken, sagt der Löhneberger und schrubbt mit dem Schuh auf der Erde herum. Das muss man bewässern. Spinnst du? Das kostet einen Arsch voll Geld. Der Löhneberger fasst sich an den Hut und der Dachser verdreht die Augen. Und wenn es morgen noch regnet, fragt der Dachser. Dann muss man nicht bewässern. Der Dachser zieht ein paar Scheine aus seiner Hosentasche und steckt sie dem Löhneberger vorne an den Hut.
Chrissi, Simon und Lukas schieben sich zwischen den Bierbänken hindurch zu uns. Das ist unser Bierstand, sagt Chrissi. Sei nicht albern. Es gibt hier nur einen, sage ich. Und das ist unserer. Und das steht wo, sagt Sofie und lässt ihre Gabel sinken. Simon tritt an sie heran und ihre Nasenspitzen berühren sich beinahe. Sofie schmiert Simon den Rettich ins Gesicht und stößt ihn weg. Luka zieht nochmal an seiner Zigarette, schnippt sie weg und verpasst David eine. Ich packe Chrissi. Er packt mich an den Haaren, lässt aber sofort wieder los. Es riecht nach Gas. Ein Schlag ist zu hören und das Wellblechdach der Bierbude fliegt hoch in die Luft.
Der Bierstand ist komplett ausgebrannt. Das Gras zieht einen Kreis aus Feuer um die Bierbänke. Ein Funke hat das Dach des Grillhäuschens entzündet und ein paar Männer zerren die Gasflaschen heraus. Eine Stichflamme schießt brennende Fettpfützen auf die Bierbänke davor. Die Leuchtgirlande darüber brennt durch, schwingt wie eine Liane herunter und setzt den Baum in Brand. Es surrt und aus dem Stromkasten sprühen Funken. Die Preise der Schießbude schmelzen in sich zusammen. Plastik und Bratwurst liegt in der Luft.
Stefanie Schweizer
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Unda Maris
18. Februar 2018Literatur,LyrikfreiVERS,Unda Maris
Novemberhesperiden
Es war im drůsen Spätherbst
daß mal wieder so einiges gemağgolokkerte
und das Laub behehlebęnde
in die Gegend diffundierte
Im Prater wurstelte die Plebs
so vor sich hin, behelfmichnich, aber kregel
Keckernde Krähen behůdelten den Himmel
und schærwanzten die ein oder andere
Eulenspiegelei über die Szenerie
Melechnitòth lagen die Fahrgeschäfte im Südosten
beharnischt zwar, aber ohne Lach oder Sang
Hier und dort noch ein Echo
von glottermōgelndem Sprechmichdoch
Und in der Geisterbahn schließlich
— unheimlich ist es zu sagen —
ein von Mirespiłłiden verlassener Sarg
Unda Maris
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Ronir Mina
16. Februar 2018Literatur,freiTEXT
Ein Tag im September
Als ich heute morgen aus dem Haus trat und das Gartentor aufsperrte, fiel mir noch nichts Außergewöhnliches auf.
Erst als ich mich umdrehte um meinen Weg in die Stadt anzutreten, sah ich, dass der gesamte Weg von Fischen übersät war.
Es waren hauptsächlich Forellen und Brassen, mit weit aufgerissenen Mündern und stumpfen Augen. Auffällig waren blutige Striemen, die sich quer durch ihre Kopfpartie zogen.
Kurz bildete ich mir ein aus dem linken Augenwinkel noch ein Zucken, ein Zappeln eines Fischschwanzes wahrgenommen zu haben, ein letztes Aufbäumen noch vorhandener Lebenskraft.
Sonst war alles still.
Bei meinem Weg in die Stadt sah ich kaum Menschen. Eine ältere Frau kehrte die Straßen vor ihrer Haustür. Ihr gesamter Vorgarten war voller Hechte. Als sie mich sah, kehrte sie sich rasch um und schloss die Türe hinter sich.
Je weiter ich ging, desto mehr schien es mir, als wäre ich der einzige Mensch auf Erden. Keine Straßenbahn fuhr mehr, die Geschäfte waren geschlossen. Mit Menschen kam ich nicht in Berührung, abgesehen von ein paar wenigen dunklen Schatten an den Straßenecken. Als sie mich sahen, verschwanden sie jedoch und zogen sich in die dunkleren Ecken der Stadt zurück.
Ich ging die Herrengasse entlang, als ich plötzlich in einer Seitengasse, die mit Garnelen bedeckt war, einen Mann mit oranger Warnweste stehen sah. Er trug Brille und Klemmbrett und schien sich etwas zu notieren. Als ich Anstalten machte, mich zu ihm hinzubewegen, fuchtelte er wild mit den Armen und wies mich an, stehenzubleiben.
"Was machen Sie denn da?" schaffte ich es zu fragen, während er wild damit beschäftigt schien einen Bereich mit Klebeband abzusperren. Meine Worte trugen einen eigenartigen Nachhall. Dennoch war ich im selben Moment als die Worte meinen Körper verließen, unsicher ob ich die Frage überhaupt gestellt hatte. Er sah zunächst unsicher aus, ob ich eine Antwort wert wäre, dann schien er sich zu fassen und setzte eine gewichtige Miene auf. Er sei vom Ministerium, teilte er mir mit, und seine Aufgabe sei es, die vorhandenen Fische zu klassifizieren und in nach Größe zu ordnen. Generell beschränkte sich das Fischvorkommen auf die Familie der Lippfische, die Garnelen in der Gasse seien jedoch ein neuer Fund. Dies bedeutete wahrscheinlich, dass ihm eine nähere Verwandtschaft zwischen Garnelen und Lippfischen entgangen sei, viel konkreter und drängender war jedoch die Frage, ob er die Garnelen in der Größenaufstellung und dem Säulendiagramm berücksichtigen sollte, oder nicht. Gliederfüßer zählten schließlich, strenggenommen, nicht einmal zu den Wirbeltieren, die zu klassifizieren er den Auftrag hatte. Als ich ihn von den Brassen in meiner Wohngegend in Kenntnis setzte, die seiner Lippfisch-basierten Theorie grundlegend widersprachen, winkte er mich ungeduldig fort, als hätte ich ihn bei etwas Wichtigem gestört.
Der Rückweg erwies sich als anspruchsvoller als gedacht. Die Fische hatten alles, was sie jemals an Anmut an sich gehabt hatten, verloren. Stattdessen hatten sie begonnen einen starken Verwesungsgeruch von sich zu geben. Sich einen Weg durch die Fische zu bahnen, war ebenfalls schwieriger geworden. Einige waren, wahrscheinlich durch meine eigenen Fußtritte, schwer beschädigt worden und präsentierten ihre offenen, aufgeplatzten Wunden der steigenden Mittagssonne.
Ich wollte nicht warten, bis die Fliegen kamen, und legte die Strecke nach Hause so schnell wie möglich zurück. Als ich mich jedoch noch einmal umdrehte und die Stadt mit ihren tausenden und abertausenden Fischen dampfend vor mir liegen sah, musste ich zugeben, dass ich nie Schöneres gesehen hatte.
mosaik25 – Eisvogelkarosserien
15. Februar 2018Enno Ahrens,Maddalena Vaglio Tanet,Kinga Toth,Marlies Blauth,Lisa Krusche,Philipp Kampa,Barbara Rieger,Sascha Preiß,Nicola Quaß,Valentin Feneberg,Caca Savic,mosaik-Zeitschrift,Nicoletta Grillo,mosaik - Zeitschrift,mosaik25,Lisa Viktoria Niederberger,Anne Bünning,Marko Dinic,Caren Jeß,Martin Piekar,Felix Ebert,Peter.W.,Holger Dauer,Philipp Böhm,Janis Elsbergs,Tobias Roth,Jonathan Perry,Alisha GamischLasse Jürgensen
mosaik25 – Eisvogelkarosserien
Intro
Würde uns jemand vermissen?
Das Damoklesschwert, das aktuell über vielen Institutionen der freien Kunstszene in Österreich hängt, ist eigentlich ein Säbel. Unsicherheiten bezüglich der finanziellen Grundlage aufgrund des Regierungswechsels sind allgegenwärtig. Die Angst greift wieder um sich.
Und das mosaik? Es ist kein Geheimnis, dass eine kostenlose Zeitschrift, Lesungen, Bücher und noch vieles mehr nur mit Geld aus der öffentlichen Hand finanzierbar sind. Zwei Fragen drängen sich auf: Müssen wir Angst haben? Und: Wie sollen wir uns positionieren?
„zittere nicht fürchte dich nicht“ (Kinga Tóth, S. 42)
Zunächst: Wir bewundern mutige Schritte wie beispielsweise den von Kabeljau und Dorsch, mal eine Saison auszusetzen, wenn das Geld fehlt; wir beobachten besorgt die finanziellen Schwierigkeiten von anderen Projekten, aktuell etwa bei Fixpoetry. Dennoch arbeiten und planen wir weiter, denn euer Interesse an unserer Arbeit schärft unsere Blicke und motiviert uns, tagtäglich nach vorne zu schauen, wenn es um spannende neue Stimmen in der Literatur- und Kulturszene geht.
Das mosaik ist unpolitisch. Das war lange Zeit unsere Prämisse. Irgendwo in der Ferne hallen noch die letzten Worte der Politolog*innen nach – „Alles ist Politik!“ –, aber wir wollten uns bewusst nie positionieren. Wenn dies Autor*innen oder Redakteur*innen von uns tun, soll es uns Recht sein, das Projekt allerdings hat keine politische Position. Immer öfter allerdings die Fragen: „Stimmt das überhaupt noch?“ und: „Kann/darf man heute keine Position haben?“
„Wir Dichter sind Lügner, – ja, aber wir gebens offen zu. Trotz gegen die Kälte.“ (Gespräch Piekar-Roth, S. 58)
„Warum Kunst?“, fragt Veronika Atzwanger vor ihrer Kunststrecke und findet ihre persönliche Antwort, die sich jede*r wahrscheinlich irgendwann zurechtgelegt hat oder zurechtlegen muss. Und unabhängig von der politischen Großwetterlage, dem Kontostand oder der Windrichtung, die einen trägt oder bremst: Diese subjektive, universelle Antwort funktioniert immer. Immer wieder aber auch: „Warum mosaik?“ Und obwohl wir die Antwort zu kennen glauben, die Unsicherheit bleibt: Gibt es Erschütterungen, die diese Antwort nichtig machen würden? Sind wir durch die politische Nicht-Positionierung austauschbar? Würde uns jemand vermissen?
Inhalt
Alle graben Gräber
- Enno Ahrens: Die Winter
- Holger Dauer: Vielleicht eine Erinnerung
- Sascha Preiß: Vor der Irrfahrt
- Philipp Böhm: Unter dem Strand
- Nicola Quass: es ist nicht winter
- Marlies Blauth: Illustration
Hilflose Menschlein
- Felix Ebert: Anleitung zum langsamen Tod
- Lasse Jürgensen: Bulgarorszag
- Caren Jeß: Und im Hintergrund der kleine Danny (6) küsst sein Spiegelbild
- Lisa Krusche: Alpen I
- Alisha Gamisch: Ein Ort außerhalb allem
- Marlies Blauth: fünfminutenheimat
- Marlies Blauth: Illustration
Ungefragt aufgelöst
- Valentin Feneberg: murxen, knarzen, tremolieren
- Philipp Kampa: An das Wippen der dürren Äste im Wind
- Anne Bünning: live your dream abgekratzt
- Jonathan Perry: Warnung vor der Pielach
- Barbara Rieger: nicht ich – ich nicht
Kunststrecke von
BABEL – Übersetzungen
- Kinga Tóth: huszonhetedik ének/Lied siebenundzwanzig, negyvenharmadik ének/Lied dreiundvierzig (Ungarisch & Deutsch)
- Caca Savic: Ohne Titel/Senza Titolo (ins Italienische von Nicoletta Grillo)
- Maddalena Vaglio Tanet: Il lago di Lindow/Der See bei Lidow (Aus dem Italienischen von Tobias Roth)
- Nicoletta Grillo: Feierabend (Aus dem Italienischen von Tobias Roth
- Jānis Elsbergs: Rīta kafija/Morgenkaffee (Aus dem Lettischen von Patricius d’Suicidius)
Kolumnen
- Peter.W. – Krieg und Möbel, Hanuschplatz #13
- Marko Dinic – Jugolokale, Lehengrad #4
Buchbesprechung
- Lisa-Viktoria Niederberger – . Rezension Simone Hirth – Bananama (Kremayr & Scheriau)
Interview
- „Man kann die Schönheit nicht den Krämern überlassen.“ – Gespräch Tobias Roth & Martin Piekar
Kreativraum mit Mario Osterland
freiVERS | Michael Pietrucha
11. Februar 2018Literatur,LyrikfreiVERS,Michael Pietrucha
Samenkorn Zeit
Ich habe dir Zeit gegeben,
du hast sie mit den Augen geküsst,
habe sie unterwegs aufgehoben,
bevor sie unter meinem Schuh verschwunden wäre,
sie abgewogen; das Sonnenlicht von oben
und das Mikroskop hier unten sagten,
es sei ein Samenkorn, und geschoben
in ein Kuvert stecktest du es ein.
Ist denn das Samenkorn zu einer Ranke
auf deinem Fensterbrett gewachsen?
Michael Pietrucha
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Markus Streichardt
9. Februar 2018Literatur,freiTEXTProsa,Markus Streichardt
Provisorium
K., der gerade ins Taxi gestiegen ist, sieht einen Mann auf sich zukommen und dann mit den Fingerknöcheln gegen die Autoscheibe klopfen. Er fragt ungläubig: „Ist er das?“, und noch ehe K. antworten kann, brüllt er lauter: „Ja, das ist er! Das ist er!“ K. starrt regungslos in das entsetzte Gesicht, starrt in zwei stecknadelgroße Pupillen und einen weit aufgerissenen Mund. Er zählt drei Plomben, ehe das Taxi losbraust.
K. dreht sich um und ist überrascht, wie viel Aufmerksamkeit der Zwischenfall verursacht hat. Passanten halten ihre Handys in seine Richtung, als würden sie Fotos machen, während der Mann, der ihn angeschrien hat, aufgeregt telefoniert.
Als das Taxi abbiegt, richtet K. den Blick wieder nach vorn und lässt sich tiefer in den Sitz fallen. Nimmt der Tag gar kein Ende?, fragt er sich genervt. Immer kommt mir was in die Quere. Erst die Flugverspätung und dann noch Schienenersatzverkehr am Bundesplatz. Zwei Busse für eine rappelvolle S-Bahn und das im Hochsommer, na geht’s noch?!? „Ja, aber ist gut für unser Geschäft“, antwortet der Taxifahrer, was K. irritiert. Habe ich laut gesprochen?
„Außer die Spinner steigen zu uns ins Taxi. Genau wegen denen hab‘ ich meine Schicht gewechselt. Nachts ist es nicht mehr auszuhalten in Berlin. Zu viele Verrückte“, flucht der Taxifahrer und fügt mit weicherer Stimme hinzu, „auch zu viel Elend.“ „Kommt das oft vor?“, fragt K. und erhofft sich Ablenkung. „Inzwischen jede Nacht. Früher is so ne Type mal am Wochenende aufjetaucht, hat nen bisschen Radau jemacht und war dann wieder wech. Kenn‘ mich da aus, weeß wovon ick rede. Bin Urberliner. Vor 56 Jahren hier jeeborn, aufjeewachsn und nie rausjehkommn, wie ick zusagen pflege.“ K. grinst und denkt, ich ja, ich bin rausgekommen und habe die weite Welt gesehen.
Wegen Sanierungsarbeiten verengt sich die Fahrbahn auf eine Spur. Der Verkehr stockt. Die Stille setzt K. zu. Er bittet, das Radio einzuschalten. Mit überdrehter Stimme kündigt der Moderator den nächsten Song an: A horse with no name von America. Die Musik erfüllt ihren Zweck und bildet ein angenehmes Hintergrundrauschen. Während K. im Viervierteltakt auf die Knie trommelt, beobachtet er, wie eine Walze langsam den aufgetragenen Asphalt der Fahrbahn verdichtet und zwei Bauerarbeiter mit Besen hinterher fegen. Mit diesem beruhigenden Bild vor Augen möchte er am liebsten einschlafen und den Tag vergessen.
Die Musik wird jäh unterbrochen: »Der aus der psychiatrischen Anstalt Entlaufende wurde zuletzt in einem Taxi auf der Bundesallee Richtung Friedrich-Wilhelm-Platz gesehen. Die flüchtige Person ist ca. 1,85m groß und schlank. Die Haare sind schwarz und kurz geschnitten. Er hat inzwischen seine Kleidung gewechselt. Er trägt ein dunkelblaues Jackett und eine schwarze Hose. Wie er sich aus dem gesicherten Bereich der Psychiatrie befreien konnte, ist weiterhin ungeklärt …«
K. weiß, er ist gemeint. Die aufkommende Panik versucht er mit rationalen Argumenten kleinzuhalten. Die Personenbeschreibung trifft auf jeden x-beliebigen Mann zu, denkt er angestrengt, der 1,85m groß ist, bei C&A einkaufen geht und Sport treibt. Vor anderthalb Stunden bin ich erst in Tegel gelandet. Das lässt sich leicht nachprüfen und - verdammt, ich sitze hier nur wegen diesem blöden Schienenersatzverkehr. Der Rollkoffer!, fällt ihm schlagartig ein, niemand flieht mit einem Rollkoffer! Die Vorstellung, wie er den Polizisten verschwitzte Hemden und seinen Kulturbeutel vorführt, belustigt ihn. Sein Grinsen erstarrt aber zur Grimasse, als sich sein Blick mit dem des Taxifahrers im Rückspiegel trifft. K. will die Sache klarstellen, aber dann glaubt er, eine Bewegung des Fahrers zum Handschuhfach auszumachen. Er brüllt „STOPP!“, reißt im nächsten Moment die Tür auf und springt hinaus. Dann läuft er in die entgegengesetzte Richtung davon.
Ich muss auf die Nebenstraßen ausweichen, überlegt K. verzweifelt, bevor mich der Mob fängt und massakriert. Er versucht langsamer zu laufen, aber sobald er mehr als zwei Personen auf sich zukommen sieht, macht er kehrt und zieht das Tempo an. Unterwegs wirft er sein Jackett achtlos fort.
Er flieht in die Kleingartenkolonie „Sonnenbad“, rennt die verschlungenen Pfade entlang, solange bis er sich hinter einer dichten Hecke wiederfindet. Er hört sich laut atmen und presst beide Hände auf seinen Mund.
Nach einigen Minuten steht K. vorsichtig auf, blickt sich um. Er ist auf einem verlassenen Grundstück. Der Rasen ist stellenweise verbrannt. Dahlien, Nesseln, Zinnien und Sonnenhüte säumen den Weg zum Bungalow - ein in L-Form gehaltener Flachbau mit Holzverkleidung und überdachter Steinterrasse. Im Hintergrund stehen zwei Apfelbäume, groß und mächtig, deren Äste die Außenfassade der Gartenlaube streifen. Ein verwunschener Ort, denkt K., bis ihm der Geruch von Grillfleisch und Brennspiritus in die Nase steigt und ihn an die Wirklichkeit erinnert.
Er geht zum Bungalow und rüttelt an der Tür. Verschlossen. Unter der Gartenbank entdeckt er neben Wassereimern und angerosteten Gießkannen einen halbvollen Bierkasten. Die Flaschen sind alle leicht staubig. K. pfeift. Irgendwo findet sich bestimmt ein Zweitschlüssel, denkt er, und ich komme rein.
K. füllt einen Eimer mit kaltem Wasser und legt einige Bierflaschen hinein. Dann schlendert er durch den Garten, inspiziert die Gemüsebeete und macht aus einer Laune heraus den Rasensprenger an. Gebannt verfolgt er, wie die Düsen um ihre eigene Achse rotieren und Sprühwasser im hohen Bogen ausstoßen. Das rhythmische Klicken der Automatik vermischt sich mit Kindergeschrei in der Ferne.
Dann zieht er seine Kleidung aus. Ganz selbstverständlich erst Schuhe und Socken, dann Hose und Hemd.
Während K. im selbst geschaffenen Sommerregen steht, wird ihm klar, dass die Geschehnisse, die zu seiner Verwechslung geführt haben, problemlos rekonstruiert werden können. Ich weiß, wer ich bin, denkt er und die Anderen werden es auch.
Trotzdem stellt er sich vor, wie es wäre, sich hier eine Zeit lang zu verstecken. Ich würde die reifen Tomaten und Auberginen vom Schneckenbefall befreien und ernten. Ich würde mir den Bungalow gemütlich einrichten und jeden Abend ein Lagerfeuer machen. Ja, das würde ich. Vielleicht wäre es nur ein Leben im Provisorium, denkt er, aber dieses Leben täte mir zur Abwechslung gut.
Auf diese Aussicht gönnt sich K. das erste gekühlte Bier.
Markus Streichardt
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Lütfiye Güzel
4. Februar 2018Literatur,LyrikLütfiye Güzel,freiVERS
man lebt nicht jeden tag
-
eine spinne mit den augen
verfolgt
mit gutem gewissen
ihr netz nicht zerstört
dann obst von den bäumen
geschüttelt
& drei runden geweint
Lütfiye Güzel
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>