In Cowboystiefeln auf Bob Dylans Couchtisch springen - zum 20 Todestag von Townes Van Zandt

Am 1. Jänner 2017 jährte sich der Todestag von Townes Van Zandt zum 20. Mal. Grund für Andreas Haider, einem seiner musikalischen Vorbilder einen Artikel zu widmen.

„Ich denke nicht, dass alle meine Lieder so traurig sind. Ich habe ein paar, die sind nicht traurig – die sind nur hoffnungslos.“ – Townes Van Zandt

Am 1. Jänner feiern gleich zwei ganz große der Country Music ihren Todestag. „Feiern“ ist ja, wenn es ums Sterben geht, nicht gerade der gelungenste Ausdruck, aber für diese beiden Musiker passt er. Denn sowohl Hank Williams (17.09.1923 - 1.1.1953), viel mehr aber noch  Townes Van Zandt (7.3.1944 - 1.1.1997), besangen in ihren Songs die Bitterkeit des Lebens, aus der wohl nur der Tod die ersehnte Erlösung bringen kann. Und natürlich diverse Suchtmittelchen. So starb Hank Williams auf dem Weg zu einem Konzert auf dem Rücksitz seines Cadillacs an einer Mischung aus Alkohol, Schmerzmitteln und anderen Medikamenten. Und auch Van Zandt war Zeitlebens dem Suff und anderen Substanzen nicht abgeneigt.

https://youtu.be/AjGOxo0KDMs

 

Townes Van Zandt wurde am 7. März 1944 geboren, hinein in eine der „First Families“ von Texas.  Das gilt sowohl historisch, als auch gesellschaftlich. Seine Vorfahren siedelten sich irgendwann im 18. Jahrhundert in Texas an, zu einer Zeit, als das Gebiet noch Teil des spanischen Kolonialreich war. Eines der texanischen Countys (vergleichbar mit einem Landkreis in Bayern oder einem Gau in Salzburg) wurde nach der Familie Van Zandt benannt. Und seine Vorfahren machten richtig Geld, mit allem, womit man in Texas reich werden konnte: Land, Rindern und Erdöl; waren Politiker, Offiziere, Philanthropen. Beste Voraussetzungen für Townes, in eine große Zukunft zu starten.

 

Als Kind kam er auf ein Elitemilitärinternat, mit dem Ziel, Berufsoffizier zu werden. Und seine Schulzeit stellte die Weichen für sein zukünftiges Leben, doch in eine ganz andere Richtung, als erhofft. Im Internat machte er nämlich, mit Klebstoffschnüffeln, erste Suchterfahrungen. Einmal sprang er während einer Party von einem Balkon im vierten Stock eines Hochhauses, angeblich nur, um zu spüren, wie es sich anfühlt, zu fallen. Die besorgten Eltern brachten ihn in die Psychiatrie. Dort wurden eine bipolare Persönlichkeitsstörung und Suizidgefahr diagnostiziert. Behandelt wurde Townes mit der damals gängigen äußerst brutalen Insulinschocktherapie. Sie hatte zum Ergebnis, dass Townes seine Kindheitserinnerungen verlor, am Ende der „Therapie“ erkannte er nicht einmal mehr seine eigenen Eltern. An eine Offizierskarriere war nicht mehr zu denken.

 

Als Kind bekam Townes von seinem Vater eine Gitarre geschenkt, unter der Bedingung, dass er dessen Lieblingslied, Bobby Helms‘ „Fraulein“, lernen müsste. Townes hielt sein Versprechen. Sein erster öffentlicher Auftritt war noch als Schüler, während eines Schulballs. Er brachte sich das Instrument selber bei, orientierte sich dabei hauptsächlich am Stil des Bluesmusikers Lightnin‘ Hopkins. Was die Lyrics betrifft waren Hank Willams und Bob Dylan Van Zandts Vorbilder. Was sich in seinen poetischen Balladen mit ausdrucksstarken Metaphern niederschlug, begleitet mit dem ihm eigenen Flatpicking. Um 1965, Townes Van Zandt hatte geheiratet und war mit seiner ersten Frau nach Houston gezogen, begann er dort in Clubs aufzutreten und seine eigenen Lieder zu schreiben. Wenig später nehm er auch die ersten Schallplatten auf. Die Studioalben gingen in ihren Arrangements, das seine düsteren Texte mal mit dissonanten Streichern, mal mit Hornpassagen oder einsam im Wind verhallenden Mundharmonikaklängen unterlegte, weit über typische Country-Music hinaus.  Es sind jedoch seine Live-Alben, die den authentischen Townes Van Zandt zeigen, der zwischen seinen Songs Anekdoten und Witze bringt und seine Songs ganz alleine, nur mit der gezupften Gitarre, vorträgt. Als sein wichtigstes Album zählt bei Fans und Kritikern „Live at the Old Quarter“

 

Erfolg, darin sind sich alle, die Townes persönlich kannten einig, bedeutete ihm nicht viel. Der Schlagzeuger Leland Waddel, der Van Zandt in den Siebzigern besuchte, erinnert sich: „Townes war erfolgreich, hatte ein paar gute Alben rausgebracht. Ich dachte, er hätte ein tolles Haus, mit ein paar schicken Autos vor der Tür. Als wir dort ankommen, sehen wir einen ollen Wohnwagen ohne Fenster, keine Möbel, eine Matratze im Schlafzimmer, eine Couch und ein paar Hühner, die herumlaufen. Da wusste ich, dem geht’s um die Musik.“ Steve Earle, für den Townes Van Zandt väterlicher Freund und Mentor war, meinte in einem Interview, dass das auch der Hauptgrund wäre, warum er, trotz seines musikalischen Genies, nie ein Megastar wie Johnny Cash, Bob Dylan oder Willie Nelson wurde. Ihm fehlte es einfach an Ehrgeiz. Steve Earle kann ich in Zusammenhang mit Townes Van Zandt natürlich unmöglich erwähnen, ohne sein berühmt gewordenes Zitat zu bringen: „Townes Van Zandt ist der beste Songwriter in der ganzen Welt, und ich würde in meinen Cowboystiefeln auf Bob Dylans Couchtisch springen, und das wiederholen!“  - Van Zandt entgegnete übrigens lakonisch: „Ich kenne Bob Dylan. Und ich kenne seine Bodyguards. Ich glaube nicht, dass Steve auch nur in die Nähe von Dylans Couchtisch kommt.“

 

Den Erfolg hatten andere, mit Coverversionen. Willie Nelson und Merle Haggard etwa mit „Pancho And Lefty“ (wohl Van Zandts größter Hit). Im offiziellen Musikvideo dazu hat Townes Van Zandt sogar zwei Cameo-Auftritte (einmal als mexikanischer Offizier und in der Schlussszene als er selbst). Emmylou Harris coverte „If I Needed You“, die Cowboy Junkies „To Live Is To Fly“, Bobby Bare „White Freight Liner Blues“, Norah Jones „Be Here To Love Me”; Steve Earle verlässt die Bühne nie, ohne mindestens einen Song seines langjährigen Freundes gesungen zu haben. Sogar Nobelpreisträger Bob Dylan coverte „Pancho And Lefty“.

 

Die Liste der Musiker, Musikerinnen und Bands, die Townes Van Zandt als Vorbild, Einfluss oder Inspirationsquelle nennen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Im Laufe der Jahre beriefen sich eine Menge Künstler und Künstlerinnen aus Country, Folk, Blues, Singer/Songwriter, Grunge, Metal, Rock, Pop, Jazz usw. auf Van Zandt. Als sich in den 1980er Jahren die Americana- und Alternative-Country-Szene bildete, wurde er rasch als Vordenker und Idol dieses Stils erkannt.

 

Kurz vor seinem Tod hatte sich Van Zandt die Hüfte gebrochen. Statt den Bruch aber behandeln zu lassen, ließ er sich im Rollstuhl ins Tonstudio fahren, um ein Album aufzunehmen. Um trotz der massiven Schmerzen singen und Gitarre spielen zu können, füllte er sich mit Unmengen an Alkohol und Schmerzmittel ab - eine schaurige Parallele zum eingangs erwähnten Hank Williams. Die Aufnahmen dieser Session - sie sind teilweise im Dokumentarfilm „Be here to love me“ zu hören - zeigen einen Townes Van Zandt, der immer mehr die Kontrolle über sich selbst verliert, lallt, ausfällig wird. Irgendwann reichte es dem Produzenten und er ließ die Session abbrechen. Erst danach wurde Van Zandt ins Krankenhaus eingeliefert, wo seine Hüfte endlich operiert wurde. Nach dem Eingriff fiel er zeitweise ins Delirium, als er sich aber wieder einigermaßen stabilisiert hatte, wurde er auf eigenen Wunsch entlassen. Seine dritte Ex-Frau, zu der er nach wie vor ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, kümmere sich um ihn. Am Morgen des 1. Jänner 1997 fand ihn sein Sohn Will leblos auf dem Sofa liegend. Auf den Tag genau 44 Jahre nach seinem Vorbild Hank Williams starb Townes Van Zandt an Herzversagen.

Die Schlusspointe gebührt Van Zandts langjährigem Freund Guy Clark (der selbst erst letzen Mai verstorben ist). Der nie um einen Scherz verlegene Clark sang bei der Beerdigung und bemerkte, als er sich die Gitarre umschnallte: „Für diesen Gig wurde ich schon vor dreißig Jahren gebucht.“

Andreas Haider


Jahresrückblick 2016 - Teil2: Webstatistiken

Haben wir eigentlich schonmal gesagt, dass ihr der Wahnsinn seid? Nicht?! Dann wird es höchste Zeit. Die Statistiken des Jahres auf mosaikzeitschrift.at

Fangen wir mit dem Neuesten an: Ihr habt uns wieder mal eines besseren belehrt. Feierten wir noch Ende November den "stärksten Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnungen", so legt ihr im Dezember noch einen drauf und beschert uns das schönste Weihnachtsgeschenk überhaupt: euer Vertrauen.

So sah es im Jahresverlauf aus:

Statistik

Insgesamt zählen wir 2016 mehr als 43 000 Besucher auf mosaikzeitschrift.at. Dazu kommen dann nochmal etwa 6000 Besucher auf lyrikfueralle.at, die wir hier mal nicht eingerechnet haben. Um unser Selbstvertrauen zu stärken gleich mal diese Übersicht:

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Wie seid ihr zu uns gekommen?

Facebook führt nach wie vor unangefochten, gefolgt von Suchmaschinen. Jedoch: google.de hat erstmals google.at überholt. Btw: Eigentlich benutzt ja jede*r eine jener alternativen Suchmaschinen um das böse böse Google zu vermeiden. Ja eh. Nur nicht um uns zu finden...

Und wenn ihr genug hattet (durchschnittlich nach 1-5 Minuten), seid ihr weitergegangen. Zu Facebook (eh klar), aber spannenderweise auf Platz 2: Zu den Kolleg*innen der metamorphosen. Auch dahinter folgten einige Zeitschriften und Preise, was uns zeigt, dass der Überblick über weitere Einsendeschlüsse durchaus Sinn macht. Wir werden da in Zukunft verstärkt dran arbeiten. Versprochen!

Was hat euch am meisten interessiert?

Geht man nach den Download-Zahlen, so die Leseproben von

Geht man nach den Verkäufen, dann liegt auch Alke Stachler vorn,

verweisen die anderen jedoch auf die Plätze. Am Ende der Liste findet sich mosaik18 (print), mosaik21 (eBook) und die Audioaufnahmen von dünner ort (zu Unrecht, wie wir meinen).

Spannend auch: eure liebsten Seiten und Beiträge. Bei den Seiten haben wir ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Adventmosaik und der Ausschreibung zu roll.

Der stärkste Tag war allerdings der 20.12. - an diesem Tag besuchten uns mehr als doppelt so viele als am zweitstärksten Tag im Dezember. Aber: Meistgelesener Text des Advent-mosaik war jener von Pega Mund am 1.12. - damit ist das auch der stärkste literartische Beitrag des Jahres.

Zum ersten Mal ist in diesem jahr jedoch eine Rezension häufiger angeklickt worden als jeder literarische Beitrag.

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unsere Lieblingskategorie: Eure Suchanfragen.

Was tippt ihr denn so oben rechts rein? "mosaik", "Lyrik für alle", "freiTEXT" - alles erwartbar. Erstmals hat heuer jedoch ein Autor bei den Suchanfragen die Nase vorn.

Und dann gibt es da noch die Liste, die wir uns nicht erklären können. Seid ehrlich: Ihr macht das nur um am Ende des Jahres hier aufzutauchen, oder?

Unsere Hitliste 2016:

  • "literaturwettbewerbe dunkle energie"
  • "fliesen mosaik weihnachtl" (Anm.: ist das Advent-mosaik gemeint?)
  • "literatur und religion und kultur"
  • "fickpalme" (kam auch tatsächlich mal in einem Text vor)
  • "kaugummi aus fußmatte kauen"

 

Damit entlassen wir euch in ein spannendes neues Jahr. Danke, dass ihr uns die Treue haltet. Macht das weiterhin - wir werden euch nicht enttäuschen. Nur soviel sei verraten: Bald - sehr bald - wird sich einiges ändern hier...

(c) Fritz Æwert
(c) Fritz Æwert

Jahresrückblick 2016 - Teil 1: Was passiert ist.

Es war im Frühjahr und ein Autor meinte: "Glaub mir: 2016 wird DAS Jahr!" Wir waren skeptisch. Aber er hatte recht. Was für 1 Jahr.

Was im ersten Halbjahr passiert ist, haben wir im Halbjahresbericht schonmal zusammengefasst. Im Schnelldurchlauf:

Wir hatten vorgelegt. Doch das zweite Halbjahr wusste nachzulegen - wenngleich auch anders...

 

Die mosaik-Klausur

Im Sommer begannen wir einen Prozess, der langsam zu seinem Abschluss findet. Wir luden euch alle ein, euch an der Umgestaltung des mosaik zu beteiligen. Es bildete sich ein kompetentes und engagiertes Team heraus, das in der Folge viele Neuerungen diskutieren und schließlich auch umsetzen konnte. 2017 wird vieles überraschend anders werden - bald gibt es mehr Infos dazu...

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Neue Lesungen

Anfang Oktober: KulturKeule goes Pop. Anfang November waren wir zu Gast bei den ersten Wissenstagen Salzburg, betreuten die Leselounge und das Rahmenprogramm, u.a. mit Lesungen mit Lisa Viktoria Niederberger, Marko Dinic und Tobias Roth. Einen Monat später organisierten wir den Gemeinschaftsstand der Literaturzeitschriften bei den Kritischen Literaturtagen, schlossen neue Kontakte und stellten mit einer Lesung von Lisa Viktoria Niederberger, Veronika Aschenbrenner und Andreas Reichelsdorfer die gemeinsame Anthologie - Zweifel zwischen Zwieback - vor.

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Bücher, Bücher, Bücher

Jaja, Zweifel zwischen Zwieback, die Jubiläumsprosaanthologie zur 20. Ausgabe des mosaik hat uns das ganze Jahr begleitet und war im Dezember endlich da! Kurz davor erschien auch Idealismus und Kulturpräkariat, die Studie zeitgenössischer junger Literaturprojekte von Josef Kirchner - mit Essays von Marko Dinic und Max Czollek. Gleichzeitig erschien auch mosaik21 - der Schwerpunkt auf Übersetzungen geht weiter! Und dann war da noch roll, jene Kurzprosaanthologie in ungewöhnlichem Format mit sieben wunderbaren Texten zu eben diesem Thema. Und um die literarische Vielfalt zu manifestieren dann auch noch eine Lyrikanthologie mit Namen Lyrik für alle!

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Lyrik für alle!

Vom 7. bis 11. Dezember 2016 fand in Salzburg die dritte Babelsprech-Konferenz unter dem Motto „Lyrik für Alle!“ statt. Es nahmen 28 Lyriker*innen aus 7 Ländern teil (Deutschland, Schweiz, Österreich, Liechtenstein, Südtirol/Italien, Slowenien, Ukraine). Mit Babelsprech.Salzburg hat die Stadt „wenn nicht die größte, so doch die großartigste Lyrikveranstaltung erlebt, die hier je stattgefunden hat“ (Josef Kirchner). Damit trägt die Konferenz auch einer Entwicklung Rechnung, die Salzburg in den vergangenen Jahren zum Zentrum junger Gegenwartsdichtung in Österreich gemacht hat.

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An zwei Konferenztagen standen Diskussionen über die Möglichkeiten und Aufgaben zeitgenössischer Lyrik neben lyrischer kollektiver Praxis im Fokus. Die Diskussionen waren getreu dem Motto „Lyrik für Alle!“ in einem Blog (betreut vom Erfurter Lyriker Mario Osterland) und einem Live-Stream mitzuverfolgen. Bei den abendlichen Live-Veranstaltungen im Markussaal präsentierte sich die Gegenwartslyrik in ihrer ganzen Vielfalt zwischen Musik, Performance und Text.

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Was wird 2017 bringen? Wir planen schon eifrig. Stay tuned...

ZZZ 8/12 | Silke Vogt

Silke Vogt wurde 1966 in Hannover geboren, studierte bis 1992 in Bonn Geographie, Volkswirtschaft und Städtebau. Mitte und Ende der 90er Jahre war sie für insg. drei Jahre in Japan. Seit 1999 wohnt sie im Westerwald, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die Dissertation wurde 2001 beim Deutschen Institut für Japanstudien (DIJ) publiziert. Zur Zeit ist sie “schreibende Hausfrau” und hat erste Lyrik- und Kurzprosabeiträge in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht.

Silke ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "Unzweifelhafte Zwieback-Geschichten" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und am 2. Dezember 2016 erschienen sind.

 

Unzweifelhafte Zwiebacks-Geschichte(n)

Zweifel zwischen Zwieback - ein zweifelhaftes Thema? Nein, weltbewegend, wie einige Stippvisiten in verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte beweisen. Chronologisch aufbereitet, damit der rote Faden zweifelsfrei erkennbar ist, kein geneigter Leser vor zu viel Neigung aus dem Gleichgewicht kommt, wobei er sich auf der globalen Universalreise verzweifelt verkrümeln könnte, unterwegs aufgepickt wird wie bei Hänsel und Gretel. Hier geht es nicht um Märchen, sondern um nackte, de facto zugleich anziehende Tatsachen. Anzügliche lassen wir weg.

Das am längsten zurückliegende Ereignis verdient ebenso die Bezeichnung historisch wie hysterisch. Es widerfuhr dem Erfinder des Zwiebacks, einem antiken Griechen Namens Πυρά, gelesen Pira, was, nomen est omen (kleiner Exkurs ins Lateinische), wahlweise „Feuerstelle“ oder „Scheiterhaufen“ bedeutet. Nicht bloß Name, zugleich Berufsbezeichnung, war er doch als versierter Bäcker berühmt für seine leckeren Brote, die nach wohltemperiertem, zeitlich minutiös, nein, sekundiös dosiertem Backen eine unvergleichliche Saftigkeit aufwiesen. Kein Konkurrent konnte ihm das Mehl reichen, was manch einen zum Konkursenten degradierte. Mit der Zeit schürte das, analog zum Feuer, auch den Neid.

Eines unglückseligen Tages ließ der größte Nebenbuhler einen metaphorisch-finalen Rettungsschuss in den Ofen los: Er lenkte das Genie mit einer schier endlosen Geschichte über unglaublich günstige Kornbezugsquellen derart geschickt ab, dass der Superbäcker, ganz Feuer und Flamme, alle Brote in der Hitze des Gefechts, in diesem Falle Ofens, vergaß. Tatsächlich schaute er erst wieder nach ihnen, als sie das Doppelte der üblichen Zeit darin geschmort hatten, eingegangen in die Geschichte als „Doppler-Effekt“. Rein mathematisch betrachtet, worin die alten Griechen schon seit Adam riesig sind, war der Teig quasi zweimal gebacken worden. So blieb ihm nur, knochentrockene, hellbraune, fast steinharte Gebilde aus der Glut hervorzuholen, und das, obwohl er sonst nichts anbrennen ließ. Die Dauer der Backzeit dauerte ihn zutiefst, mit höchst fatalen Folgen.

Unser Grieche war nicht nur antik, zugleich auch äußerst antiquiert, weshalb er Neuerungen jeglicher Art zweifelnd, dem von ihm zwangserfundenen Zwieback sogar verzweifelnd gegenüberstand. Für ihn als Mann von Ehre, die damals noch viel zählte (eins, zwei, drei, viele), bot sich nur ein vertretbarer Ausweg an: er musste aus dem Weg, weg. Minimal zwiespältig biss der Zwiebäcker todesmutig in eines der misslungenen Etwasse hinein, brach dabei einen unter Kollateralschaden zu verbuchenden Schneidezahn ab und spülte das Zwieback-Zahn-Blutgemisch, für uns heute schier unglaublich, mit einem Schierlingsbecher hinunter.

[...]

Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback


24 | Stefan Heyer

Ein Stück Seife

In die Socken hatte er den Zettel getan. Mühe sich gegeben. Viel Mühe. Die schönste Schrift. Mit Bleistift und Lineal Linien gezogen auf dem Blatt. Vorgeschrieben jeden Buchstaben. Jeden Schwung. Auch beim Pfarrer war gewesen. Zum Beichten. Wie jedes Jahr. Es war schwierig, ihn zu finden. Gerne wollte er einen Christbaum. Doch es war keiner aufzutreiben. Nicht für Geld, nicht im Tausch. Wie immer würde er an Weihnachten in die Kirche gehen, zum Gottesdienst. Auch ein altes Spielzeug wollte er dem Pfarrer geben, für andere Kinder. Doch fand kein geeignetes. Früher hatte sein Großvater immer besondere Süßigkeiten gebacken. Hatte eine eigene Bäckerei gehabt. Jetzt gab es diese Backstube nicht mehr. Aber Großvater buk hin und wieder, wenn er Mehl bekam, Brot im Keller. Dort hatte er jetzt einen kleinen Ofen, hatte ihn selbst gebaut. Aus Ziegel. Tat seinen Dienst. Aber es war schwierig an Mehl zu kommen. Weihnachten würde auch dies Jahr schön werden, ganz bestimmt. Wie jedes Jahr. Auf den Zettel hatte er nicht viel geschrieben. Ein Stück Seife hat er sich gewünscht, sein Vater machte sie immer noch, auch wenn Olivenöl knapp geworden war, Lorbeer war noch seltener. Ein Stück Seife. Er träumte von einem Bad. Das Haus stand schon lang nicht mehr. Sie wohnten jetzt bei den Großeltern, die hatten mehr Glück gehabt. Bombenangriffe. Auch die Kirche hat es getroffen. Eingestürzt. Nur noch Schutt und Asche. Der Pfarrer lebt noch. Irgendwo würde die Heilige Nacht gefeiert werden. Freiwillig würde seine Familie die Stadt nicht verlassen. Nachts hatte er oft Angst. Schüsse. Raketen. Bomben. Da verkroch er sich ganz tief in sein Bett. Seine Großmutter erzählte dann immer von früher. Aleppo war eine schöne Stadt gewesen. Früher. Eine sehr alte Stadt. 4000 Jahre alt. Viele Menschen haben hier gewohnt, früher, vor dem Krieg. Seine ganzen Freunde sind geflohen. Oder tot. Oft hat er Hunger. Er wusste nicht, ob er die Toten beneiden sollte. Er hat sich ein Stück Seife gewünscht. Weihnachten würde schön werden. Bestimmt. Ganz bestimmt. Und Schnee hatte er sich gewünscht. Schnee für Aleppo. Dann wäre die Stadt wieder schön. Aleppo als Schneelandschaft, kein Staub mehr, keine Steinwüste. Alles wäre ruhig.

Stefan Heyer

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23 | Markus Grundtner

Das Streben nach Unglück

Wenn ich daran denke, wie ich damit umgehe, mir etwas zu wünschen und es tatsächlich zu bekommen, erinnere ich mich an die Nächte vor Weihnachten, als ich noch ein Kind war:

Das Kind schwingt sich auf sein Stockbett und schmiegt den Kopf in das weiche Kissen, um tief und fest einzuschlafen. Dann beginnt das Kind zu träumen. Es träumt von seiner Vorfreude auf Familie und Geschenke. Es träumt von einer Maschine, die das Vergehen der Zeit beschleunigt. Es träumt, wie es sich hellwach hin und her wälzt. Es träumt, dass es im Bett nur Unruhe findet. Es träumt von seiner feuchten Stirn und seinem trockenen Mund. Es träumt von seiner Decke, die einerseits zu dick und andererseits zu kurz ist.

Unerwartet nähert sich der erhoffte Moment dann doch. Das Kind träumt, wie seine Glieder nicht mehr zucken, sondern matt werden. Es träumt, wie sein Geist sich entspannt und zerfließt. Es träumt, wie seine Augen sich schließen und geschlossen bleiben. Das Kind träumt vom Einschlafen.

Der Glücksfall tritt ein. Doch dabei drängen sich Zweifel auf: „Einfach so, ganz plötzlich und unverdient? Das kann doch nur ein Trugbild sein.“ So vertraut das Kind seiner eigenen Gewissheit: „Tatsächlich schlafe ich gar nicht.“ Als der Schlaf im Traum kommt, nimmt das Kind den einzig logischen Ausweg aus seiner Angst, getäuscht zu werden, und erwacht so in eine Nacht, die noch lange andauert.

Inzwischen verlebe ich meine Tage nach diesem Muster. Ich fliehe vor Wünschen, von denen ich nicht glauben will, dass sie schon wahr geworden sind, damit sie sich endlich erfüllen.

Markus Grundtner

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ZZZ 7/12 | Ulrich Moebius

Geboren 1964 in Bonn, studierte Sonderpädagogik, Erziehungswissenschaften und Geschichte in Hamburg und Colorado, arbeitet seit 1992 als Lehrer in Berlin und lebt in Kreuzberg. Reist viel und gern. Schreibt Kurzgeschichten und Skizzen.

Ulrich ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "Home sweet Home" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.

 

Home sweet home

Sein Blick blieb auf dem Display des Telefons hängen, als könnte von dort noch ein Nachsatz kommen. Arun hatte gerade mit seiner Mutter telefoniert. Es war das übliche Sonntags-Ritual. Wenn es irgendwie ging, rief Arun seine Mutter nach dem Frühstück an. Das passte meist. Seine Mutter versuchte dann im Haus ihres Bruders zu sein. Hier gab es seit einem Jahr einen Anschluss. Es hatte lange gedauert, bis sich Aruns Mutter daran gewöhnt hatte, mit ihm zu telefonieren. Sie war nicht ungestört bei ihrem Bruder, aber so konnten sie gut Kontakt halten. Seinen Schwestern fiel das leichter – sie schickten ihm mittlerweile Nachrichten über Skype, wenn sie in einem der Internetcafés der Stadt waren.

Aruns Mutter hatte sich anfangs schwer getan, aus der Distanz mit ihm zu reden. Die Zeitverschiebung betrug 5 Stunden. Sein Leben in Deutschland war ihr fremd. Es waren immer wieder die gleichen Fragen, die sie stellte.

Heute war es anders gewesen. Heute hatte sie nicht gefragt, heute hatte sie ihm erklärt, was sie für ihn geplant hatte, wenn er im Juli nach Battambang käme. Sie war in ihrem Eifer nicht zu bremsen gewesen. In ihrem Kopf hatte sie sich schon alles ausgemalt. Lange hatte sie auf diesen Tag gewartet.

Martin werkelte draußen im Garten, Arun sah ihn durch die Fenster in der Erde buddeln. Er war ganz eifrig dabei, Ordnung in den noch frischen Garten zu bringen. Mit kräftigen Armen grub er voller Tatendrang ein Beet um. Fast zwei Jahre wohnten Arun und er nun in diesem Reihenhaus in Teltow. Der Garten war Martins Sonntagsritual.

Arun spürte, dass er rausgehen und ihm helfen sollte, blieb aber am Telefon stehen.

Das Gespräch mit seiner Mutter wiederholte sich in seinem Kopf. Er versuchte die Worte zu begreifen. Warum hatte er ihr nicht widersprochen? Alles drehte sich. Wörter in Khmer, Deutsch und Englisch... und dann immer wieder ihr Name: Srey Leak! Srey Leak, das perfekte Mädchen. Hatte er sie schon einmal gesehen, so wie seine Mutter es gesagt hatte?

[...]

Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback


22 | Andreas Haider

Weihnachtsgschicht 2016

In Idomeni kumt a kloans Kind auf’d Wöt,
in an koidn Zöt,
weis Boot wieda amoi voi is;

In Afghanistan flücht a junge Familie,
mit nix aussa eahn nocktn Lebn,
weis eahna des a nu nehma wion.

In Syrien haum a poar Terroristn
in an Weisnhaus
hundat Kinda ogschlocht;

Waun i heit de Zeidung lies -
Herbergssuche, Flucht, Kindamord -
es is eh fost wia im Weihnachtsevangelium;
wia vor zwatausnd Johr -
und de Menschheit wird net gscheida!

Andreas Haider

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21 | Valerie-Katharina Meyer

Die Bluse meiner Tante

Weisser Duft umhüllt das feine Fadengeflecht. Immer die Hände waschen, bevor du dich auf den Schoss setzt. So bleiben der Duft, die weissen Fäden unbefleckt. Und dann kommt die Geschichte, die mehr wie ein Lied ist. Das wissen deine Kinderhände. Sitzt du aber mit sauberen Händen im Schoss der Tante, so schmiegst du dich an das Kleid, drückst die Rotznase in das duftende Geflecht: Jasmin, Geborgenheit und Tante fügen sich zusammen. Kein anderes Stoffstück ist edler, feiner und zarter. Perlenstoff ist die Bluse für deine Kinderhände, und sie streicheln immer wieder darüber. Perlenstoff mit Zauberknöpfen. Sie umklammern ihn mit ihren schweissigen Fingern und wollen nicht mehr loslassen, warten auf die Geschichte, die mehr ein Lied ist. Für immer im Kokon der Tante eingehüllt sein - umspannt von der Geborgenheit der Stoffperlen, umflogen von der tiefen Stimme. Und die Tante singt ein Lied, das eigentlich eine Geschichte ist.

Valerie-Katharina Meyer

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20 | Sabrina Albers

Der Nebel In Mir

Mein Schmollen hat mir dieses Mal nur ein Rückfahrticket für den Zug eingebracht. Dass der ICE dabei überfüllt war und gar nicht bis in meine Stadt fuhr, war dir egal. Mir auch. Ich war mit Schmollen beschäftigt. Du sagst, du hast mich mehr als gern, und dafür kann ich dich nicht ausstehen. Du sagst, wir leben seit fünf Jahren so. Das ist wohl der Grund, warum ich keine Luft bekomme. Deine Nähe engt mich ein. Dein Fernbleiben noch viel mehr. An deiner Seite bin ich so inkonsequent, dass es schon wieder eine gewisse Konsequenz in sich birgt. Warum ich dich mag, weiß ich nicht. Warum deine Gleichgültigkeit mich wahnsinnig macht, noch viel weniger.
Du bist der Grund für alles und nichts. Die Lösung und das Problem. Jeden Satz wäge ich ab, aus Furcht, er könnte mich näher zu dir bringen, näher zum Abgrund. Wie es dir dabei ergeht, darüber wage ich noch nicht einmal nachzudenken. Doch ich habe eine Ahnung, dass es nicht viel anders ist.
Ich bewundere, dass du nie von deinem Weg abkommst, du magst keine Abhängigkeiten, nichts, was dich ablenkt. Ab und an gönnst du dir mich zum Zeitvertreib, als wäre ich die einzige Schwäche, die du dir gelegentlich leistest. Wenn ich wieder weg bin, hast du mehr Platz in deinem Bett, keine Klamotten mehr in der Wohnung verteilt, deine Ruhe zurück. Ich frage mich, ob du mich trotzdem ein bisschen vermisst, mein Kissen zum Einschlafen benutzt, dich fragst, wo ich gerade bin und mit wem. Als ob es neben dir jemand anderen gäbe.
Ich vertraue dir nicht, und das ist das Verrückte. Nach allem, was war, nach allem, was ist und sein wird, vertraue ich dir nicht. Das mache ich mir zumindest selbst glauben, obwohl ich genau weiß, dass ich diejenige bin, der man nicht trauen kann. Du hast es schon einmal versucht, ich bin weggelaufen. Und nun kostest du deinen Triumph über mich aus. Ich kann dich wirklich nicht ausstehen.
Die Fenster im Zug sind verschmiert, den typischen Nebel kann ich spüren, aber nicht sehen. Muss ich auch gar nicht. Ich weiß, dass er da ist. Dass er mich umgibt, seit der Minute, als ich letzte Woche beschlossen habe, zu dir zu kommen. Seitdem ist der Nebel und taucht alles um mich herum in Milch. Ich kann dich noch immer an mir riechen. Deinen Atem an meinem Ohr spüren. Deine Blicke sehen.
Deine Küsse kann nicht mehr schmecken, sie verblassen mit jedem Kilometer, den ich weiter von dir wegfahre. Was bleibt, ist dein Geruch auf meinem Körper und die Erinnerung an deine Blicke, fordernd und vorwurfsvoll. Ich vermisse dich schon jetzt. Und verfluche den Nebel. Es ist, als schicktest du ihn jedes Mal, um mich abzuholen. Wenn ich bei dir bin, kreierst du eine Zuckererbsenidylle, in der ich mich wohlfühle, mich ausruhe, du mir Sicherheit gibst, aber nur so viel, dass es gerade ausreicht, um mich in die Falle zu locken. Dann lässt du mich los und durch den Aufprall bekomme ich blaue Flecken, die mich Wochen später noch daran erinnern, dass du ebenso wenig weißt wie ich, welche Rolle ich in deinem Leben spiele. Ohne dich wäre mein Leben nicht so.
Ohne dich wäre mein Leben nicht so ...
Ob ich dich vermissen würde, ohne dich zu kennen? Die berüchtigte Sehnsucht nach einem unbekannten Ort? Ich erinnere mich noch genau an die Nacht, in der wir uns zum ersten Mal sahen. Vor dir tue ich gerne so, als wäre das nicht der Fall. Vielleicht, weil es dem Ganzen mehr Bedeutung gibt, wenn du es bist, der davon sprichst. Dann kann ich für einen Moment sehen, wie wichtig ich für dich bin. Das es stimmt, dass du mich mehr als gern hast. Dass ich mehr als ein bisschen Zerstreuung für dich bin. Nicht nur eine Laune, der man ab und an nachgeht.
Natürlich erinnere ich mich noch genau an unseren ersten Kuss, denn seit dieser Nacht trage ich vor dir keine Maske mehr. Ich legte meine ganze Verletzlichkeit vor dir offen, um zu sehen, ob du damit zurechtkommst, ob du stark genug bist, an meiner Seite zu sein. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass das Ergebnis mich so sehr erschrecken würde. Manchmal fordert man etwas heraus, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein.
Zu dem Nebel mischt sich nun Regen. Ich musste den Zug wechseln, da er im Nirgendwo hielt und beschloss, keine einzige Station mehr weiterzufahren. Zwar hat der neue Zug saubere Scheiben, aber die Klimaanlage zwingt mich dazu, in meinem Mantel zu bleiben. Meine Haare riechen nach deinen Haaren, ich frage mich, wie das möglich ist. Meine Sentimentalität kotzt mich an. Du machst dich jetzt wahrscheinlich völlig zurecht über mich lustig. Du sagst, ich sei wie ein Kind. Immer dann, wenn ich meinen Willen nicht bekomme, wenn ich verschlafen bin, wenn ich gegen die Glasscheibe laufe, die du gelegentlich zu deiner Unterhaltung zwischen uns aufbaust. Und während ich dich dann trotzig anschaue und meine Beule am Kopf mit dem Eiswürfel aus meinem Havanna-Cola kühle, frage ich mich, ob du weißt, welch schönes Kompliment das ist. Wie du kann auch ich die meisten Menschen nicht ausstehen. Sie langweilen und lähmen mich. Dennoch suche ich immer nach der einen Kleinigkeit, die mich an ihnen erfreut, die mir zeigt, dass noch nicht alles verloren ist. Ich weiß, wie düster diese Welt sein kann und habe trotzdem noch genügend Naivität in mir, um das Schöne im Dunkeln zu sehen. Ist es das, was du an mir magst? Ich habe keine Ahnung, was es sonst sein soll. Was es ist, das eine Faszination über so lange Zeit aufrechterhält. Natürlich haben wir dazwischen andere gesehen, waren aus, aber am Ende gab es immer nur uns zwei. Wir haben Beziehungen beendet, als wären sie bedeutungslos, wir haben uns dem entledigt, was uns lästig war. Mir schien immer, als würdest du aus Vernunft handeln. Eine Trennung aus Vernunft. Wahrscheinlich weigere ich mich deshalb, dir mehr als das zu geben, denn irgendwann müsstest du feststellen, dass ich das wohl Unvernünftigste in deinem Leben bin. Würdest du mich einfach so wegstreichen können? Was würdest du dann tun?
Ich kann die Veränderung zwischen uns spüren, wir sind an dem Punkt, an dem ich nur verlieren kann. Das Interessante ist, dass die Veränderung nicht schleichend kam, nicht langsam zwischen uns wuchs, bis wir unfähig waren, sie zu fassen. Sie kam ganz plötzlich. Eben war sie noch nicht vorhanden, eine Sekunde später in deinem Blick. Wir schimpften uns zum Spaß, doch damit fügten wir uns keine Verletzungen zu. Das, was uns seit Jahren verletzte, war das Unausgesprochene zwischen uns. Das, was im richtigen Moment nicht gesagt wurde, das, was beabsichtigt im Raum stand, das, was im Nebensatz fiel und wie kleine Bomben auf unserer Haut explodierte. Wir begegnen einander vertrauensvoll misstrauisch. Die Frage ist einfach, ob wir einander Fluch oder Segen sind – oder schlicht nur das, was wir verdienen.
Ich werde dir zu anhänglich, deshalb gehst du auf Distanz zu mir. In ein paar Wochen wirst du für einige Zeit das Land verlassen. Du reist gerne mit wenig Gepäck, ein vorwurfsvoller Blick von mir passt da nicht rein, so viel Platz hast du für mich nicht übrig. Mir ist bewusst, dass normale Menschen in unserer Situation schon längst ein klärendes Gespräch gesucht hätten. Dinge müssen einen Namen haben, Beziehungen als solche zu erkennen sein. Für mich sind das Trivialitäten. Du hast einmal gesagt, ich solle den Moment genießen. Jetzt, da ich es tue, scheinst du mir nicht zu glauben. Dabei müsstest du doch wissen, wie sehr es mir gefällt, mit dir Zeit zu verschwenden.
Doch ich bin mir selbst genug, auch wieder alleine klar zu kommen. Ist es das, was du an mir nicht magst? Ich will doch nur im Moment sein. Irgendwann werden wir wieder andere Lippen küssen. Wir werden uns davon erzählen, als ob es das dazwischen - das Uns - nie gegeben hätte. Wir werden so tun, als freuten wir uns füreinander, und den anderen in Gedanken mit einem Messer töten. Ich werde meine Beziehung in dem Moment beenden, wenn er meine Freundschaft zu dir in Frage stellt, du deine, wenn sie deinen Plänen widerspricht. Dann haben wir wieder nur uns zwei und sind einmal mehr der Absurdität dieser Situation ausgesetzt. Alles andere wäre uns zu einfach. Zu gewöhnlich. Gar nicht wir.
Mein Zug irrt noch immer quer durch das Land und ich widerstehe der Idee, meine Haare im Waschbecken der Zugtoilette zu waschen. Der Geruch nach dir nervt mich. Ich wette, du hast mich schon längst wieder losgelassen, während ich noch mit deinem Geist kämpfe. Der Nebel wird immer dichter und ich starre mein Telefon an, um es zum Klingeln zu bringen, dabei weiß ich es doch besser. Du kannst telefonieren sogar noch weniger ausstehen als ich. Jedes Mal musst du dich zu einem Telefonat mit mir durchringen, doch wenn wir dann miteinander sprechen, all die Belanglosigkeiten miteinander teilen, so tun, als wären wir normal, genießen wir es. Du liebst es, meine Stimme zu hören, und ich plappere von all den Albernheiten meines Alltags. Und ich, die es mag, wenn man ihr Geschichten erzählt, lass dich von deinem erzählen.
Ich setze meine Kopfhörer auf und höre »Am I Only« von Black Rebel Motorcycle Club. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich in deine Augen. Den warmen, forschenden Blick. Als würdest du mit deinen Gedanken ein Bild von mir machen und in deinen Erinnerungen abheften. Du schlingst deine Arme um mich, ziehst mich an dich und flüsterst meinen Namen, als wäre er ein Fluch, unter dem du leidest.
Eine Hand berührt meine Schulter. Ich schrecke auf und schaue verschlafen den Schaffner an, der mir sagt, dass wir an der Endstation angekommen sind. Ich nehme meine Reisetasche, steige hinaus in die Nacht und rieche an meinen Haaren, die nun gar nichts mehr von dir, sondern wieder alles von mir haben. Ich bin wieder ganz ich. Aber nur solange, bis du wieder vor mir stehst.
Oder ist es genau anders herum?

Sabrina Albers

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