05 | Dennis Hannemann

Tapete

Kerzenlicht die Tapete glänzt türkis
tropfender Zapfhahn abgegriffenes Holz
Bestellungen treiben den Kellner vor zurück
ich höre das Pochen der angehaltenen Zeit
ich sehe die Risse im weißen Fensterrahmen
ich will es öffnen stechender Schweißgeruch
von irgendwo Tattoos Gespräche kippen
Diesseitsbucht der eine steht wie ein Fels

Dennis Hannemann

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04 | Luca Manuel Kieser

nimm den Job
oder das Blut das in den Ohren am schönsten rauscht

und damit war Aber berufen
zu vermitteln im Streit
zwischen Blätter und Meer

und also rannte Aber
um den das Gerücht geht er sei schon bei seiner Geburt gerannt
den lieben Tag lang
zwischen Waldrand und Küste
hin und her
unermüdlich
ging es von Waldrand
zu Küste
zu Waldrand zu Küste usw und stand
Aber der Küste gegenüber ging sein Text
ich Blätter rausche schöner als du Meer

und stand Aber dem Waldrand gegenüber ging sein Text
ich Meer rausche schöner als du Blätter

und immer wieder hieß es für Aber Kehrtwende zurück mit der Antwort nein
ich Blätter rausche schöner als du Meer
nein
ich schöner als du
nein ich
nein ich
und immer hörte Aber aufmerksam zu prägte sich die Antwort ein (nein) und drehte (kehrt) um zurück

gerade aber da die Sonne untergegangen war
blieb Aber auf einmal auf der Stelle
von der erzählt wird sie sei die Mitte zwischen Waldrand und Küste
stehen
und wollte mit der Auszählung (einmal Blätter einmal Meer) beginnen

aber da Aber
vom hin und her dermaßen außer Atem war dass da
wo die Sonne untergegangen war
der Horizont im selben Rot wie in seinem (also Abers) Innern glühte
brach der Horizont wie durch seine (also Abers) Brust
und Aber schnappte nach Luft HALT

STOP

Aber stand ja gar nicht
Aber stürzte

und auch brach der Horizont nicht
sondern da war Kainer
der mit einem Stein blabla wie ihr alle wisst und weswegen IHR
seither
RENNT
noch heute rennt
bis an den Horizont rennt nämlich jenen
wie wir alle wissen
ZAUN
an dem der unter euch der
den Satz darüber schafft
gewinnt

heißt
wenn Kainer gestorben ist

Luca Manuel Kieser

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Lieber Thomas Brezina, hat das wirklich sein müssen?

Lisa-Viktoria Niederberger über Thomas Brezinas neues Knickerbockerbandenbuch „Alte Geister ruhen unsanft“. Ein bisschen Rezension, ein Hauch Begeisterung, eine große Dosis Unverständnis und ACHTUNG: ein paar ganz massive SPOILER.

Für alle, die auf der anderen Seite der Grenze aufgewachsen sind: de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Brezina

Er kann's einfach nicht lassen, der Brezina. Weit über 500 Bücher, Drehbücher und Hörspiele hat er schon verfasst. Seit über zwanzig Jahren ist er nicht nur im Literaturbetrieb, sondern auch in meinem Bewusstsein immer mehr oder weniger präsent. Ich hab sie gefressen, als Kind, die Tom Turbo-Bücher. Hab mich stundenlang für Autogramme angestellt, mein Vater hat mir mein Kinderfahrrad damals sogar umgebaut, so dass es ähnlich wie Tom aussieht. Mit der Knickerbockerbande war es ähnlich; in zahlreichen Banden bin ich mit meinen Freundinnen gewesen. Aus Mangel an Burschen in unsere Runde hab ich auch immer freiwillig Axel gespielt. War mir egal, Axel war cool.

„Was ist eigentlich geworden aus ihnen, meinen Helden von damals?“

Irgendwann mit der Pubertät hat dann aber auch bei mir das Umdenken begonnen: Wie komisch ist eigentlich die Knickerbockerbande? Wie unrealistisch ist das, dass zwei 13-jährige mit einer 9-jährigen befreundet sind? Dass sie permanent um die Welt reisen und Abenteuer erleben? Dabei oft fast sterben, entführt, manchmal sogar auch richtig arg gefoltert werden? Welcher Erwachsene kann das mit einem guten Gewissen schreiben, bzw. seinen eigenen Kindern schön verpackt unter den Christbaum legen? In „Der tätowierte Elefant“ werden Axel und Lilo kopfüber über ein Becken mit glühenden Kohlen gehängt – das war dann mein letztes Knickerbockerbandenbuch, das ich gelesen habe, weil mich das so verstört hat.

Thomas Brezina hat natürlich nicht aufgehört, sie zu schreiben. Über 70 Bände gibt es mittlerweile, jüngst erschienen: „Alte Geister Ruhen unsanft“, ein Buch, das nicht nur mit einem unnötig sperrigen Titel auf sich aufmerksam macht, sondern generell ganz aus dem klassischen Schema fällt, schließlich sind die Knickerbocker hier alle Mitte bzw. Anfang Dreißig. Brezina bedient sich hier demselben Marketingmechanismus wie J. K. Rowling in der Harry Potter-Reihe, nämlich das Zielpublikum mit den Protagonisten mitwachsen zu lassen um immer maximales Indentifikationspotential zu bieten.

„Gott sei Dank schaltet sich kurz vor dem Ende eine neue Person ein und erspart den Knickerbockern durch seine Offenbarung wahrscheinlich jahrelange Therapie.“

„Alte Geister ruhen unsanft“ ist genau für Leute wie mich gemacht: Erwachsene, die zwecks des Nostalgieeffekts ohne zu zögern 18 € über den Tresen wandern lassen, wieder zu den Büchern mit dem altbekannten roten Logo greifen, zu Hunderten Thalia-Filialen in ganz Österreich stürmen, wenn er dort Lesungen hält, weil man ja trotzdem irgendwie wissen will: Was ist eigentlich geworden aus ihnen, meinen Helden von damals?

Und das ist schnell erzählt: Dominik ist berühmter Schauspieler in Amerika, hat nicht nur die Hauptrolle in einer Netflixserie, sondern auch ein ordentliches Alkohol- und Drogenproblem. Minizoobesitzerin Poppi lebt ein idyllisches Tierarztleben mit ihrem Ehemann in Graz, hat allerdings Angst, dass sie unfruchtbar ist. Axel ist natürlich Sportlehrer geworden, in Linz picken geblieben und lebt dort mit einer Frau, von der er das ganze Buch über sehr schwärmt und die sich erst kurz vorm Ende als seine Tochter, die er alleine großzieht, entpuppt. Superhirn Lilo ist noch immer bergfixiert, hat zwei Masterstudien absolviert und arbeitet in Innsbruck auf der Uni. Hat allerdings Schlafstörungen und Depressionen. Es sind also durchaus realistische Personenentwicklungen, die Brezina da schildert. Nichts ist übertrieben, niemand hat das perfekte Leben, alles glaubwürdig, passend zu dem, wie er sie als Kinder kreiert hat.

„Nein, das war kein Zufall, das war alles von Anfang an Teil eines viel größeren Plans.“

Nach zwanzig Jahren ohne Kontakt zueinander, treffen sich die vier erstmals auf einer Insel vor der südenglischen Küste wieder. Wer sie dorthin eingeladen hat, bleibt lange unklar. Dort finden sie nicht nur wieder zueinander, beseitigen umständlich alte Konflikte, knüpfen neue amouröse Bänder (immerhin ist es ja ein Buch für Erwachsene), klären nebenbei einen Jahrzehnte alten Mordfall (immerhin sind es die Knickerbocker), haben horrorfilmmäßige Halluzinationen, die so plastisch und ekelhaft sind, dass sie auch gut Stephen King schreiben hätte können, und finden gegen Ende des knapp 400 Seiten starken Schmökers auch tatsächlich heraus, warum sie als Kinder bzw. Jugendliche in so viele haarsträubende Abenteuer verwickelt waren. Denn nein, das war kein Zufall, das war alles von Anfang an Teil eines viel größeren Plans.

Damals, in Kitzbühel, als die Knickerbocker ihren ersten Fall „Rätsel um das Schneemonster“ gelöst haben, ist der Produzent einer Substanz, die Menschen dazu bringen soll, in Stresssituationen optimal zu reagieren und den Intelligenzquotienten erhöhen soll, auf sie aufmerksam geworden und hat beschlossen, sie jahrelang ohne ihr Wissen als Probanden zu missbrauchen. Anhand dieser Studien wollte er das Mittel perfektionieren, um es später gewinnbringend an Heere, Warlords oder Geheimdienste verkaufen zu können. Den Knickerbockern wurde nicht nur über den gesamten Verlauf ihrer Juniordetektivkarriere dieses Mittel über Speisen und Getränke verabreicht, sie wurden auch immer über Tonaufnahmen überwacht, ihre Entscheidungen und Ermittlungen minutiös protokolliert, nein – durch getürkte Preisausschreiben und ähnliche Täuschungen, wurden sie von besagtem Waffenproduzenten auch bewusst in Abenteuer verstrickt.

„Meint ihr, es war Zufall, was ihr alles erlebt habt? (…) Meine Mitarbeiter haben ununterbrochen nach mysteriösen, ungelösten Kriminalfällen gesucht und ich habe euch auf sie angesetzt. Für spezielle Tests haben wir sogar Fälle erfunden und für euch inszeniert, aber das kam nur sehr selten vor.“ (S. 369).

 

Als sich die Knickerbocker damals als Teenager trennten (primär deswegen, weil Axel von der Substanz schlimme Halluzinationen hatte, die dazuführten, dass Lilos Vater in eine Lawine geriet, die ihn fast getötet hätte und weil sie sowieso alle mehr Lust hatten, hormonell gesteuerte Jugendliche zu sein, als Detektive), war der böse Strippenzieher natürlich unglaublich frustriert. Deswegen hat er nun, nach zwanzig Jahren, beschlossen, dieses Treffen zu inszenieren, um die Bande erneut der Substanz auszusetzen und zu sehen, wie sie auf Erwachsene wirkt.

„Was bleibt, ist die Unsicherheit, der Schock über die plötzliche Erkenntnis: Wir waren gar nicht so klug und so super, wie wir unsere ganze Kindheit über gedacht haben.“

In einer persönlichen Konfrontation im letzten Buchdrittel gibt er sich zu erkennen, klärt alles auf und fordert einen finalen Test, verspricht, sie dann für immer in Ruhe zu lassen: Sie sollen beschließen, wer das schwächste Mitglied im Team ist und diese Person dann gemeinsam von einer Klippe stoßen. Aber die Knickerbocker sind keine Kinder mehr, sie haben jetzt einen Kumpel, und der hat ein Gewehr, der Bösewicht wird also problemlos überwältigt und verhaftet.

Was bleibt, ist die Unsicherheit, der Schock über die plötzliche Erkenntnis: Wir waren gar nicht so klug und so super, wie wir unsere ganze Kindheit über gedacht haben. Wir sind einer Droge ausgesetzt worden, ohne die wir wahrscheinlich kompletter Durchschnitt gewesen wären. Die vier Protagonisten sind am Boden zerstört.

Gott sei Dank schaltet sich kurz vor dem Ende eine neue Person ein und erspart den Knickerbockern durch seine Offenbarung wahrscheinlich jahrelange Therapie. Ihnen wird nämlich ein Brief von einem gewissen Mister Watanabe zugespielt, der sich als der tatsächliche chemische Entwickler der Substanz zu erkennen gibt (der vorher war nur der Geldgeber) und der ihnen versichert, dass diese aufgrund eines Fehlers der Rezeptur nicht nur immer komplett wirkungslos gewesen ist, sondern dass sie auch keine Angst vor etwaigen Folgeschäden haben müssen. Die Knickerbocker, frisch von der Gesundenuntersuchung, können also erleichtert aufatmen, sie waren also doch Genies als Kind. Warum Watanabe zwanzig Jahre gewartet hat, um ihnen das mitzuteilen, beziehungsweise warum er als seriöser Wissenschaftler sich überhaupt an Experimenten an Kindern beteiligt hat, wird auch erklärt. Er hat eine kranke Tochter, deren medizinische Versorgung nur durch sein Stillschweigen gewährleistet werden konnte. Mhm.

"Jeder kehrt nach diesem abenteuerlichen Wochenende wieder zurück in seinen Alltag, man trifft sich ja bald wieder auf Skype."

Und dann ist alles gut, die Freundschaft ist stärker den je, Axel und Lilo gestehen sich nach zwanzig Jahren ihre Liebe, man verspricht, den Kontakt ja nicht wieder abreißen zu lassen und jeder kehrt nach diesem abenteuerlichen Wochenende wieder zurück in seinen Alltag, man trifft sich ja bald wieder auf Skype.

„Aber wie hoch sind unsere Chancen?“, fragte Lilo nervös. Axel nahm sie an den Schultern, blickte ihr fest in die Augen und sagte schelmisch: „Wir werden das nicht errechnen, Frau Superhirn, das können wir nur durch Versuche herausfinden.“ Vor dem Pub stehend, beobachteten Dominik und Poppi die beiden und grinsten. „Na endlich“, stellte Poppi fest. „Gut Ding braucht Weile.“, steuerte Dominik eine kleine Weisheit bei. (S.390/91)

Was bleibt, ist die Verwunderung beim Leser: Lieber Thomas Brezina, hat das wirklich sein müssen? Nicht das Buch an sich, das hat schon seine skurrile Daseinsberechtigung, seinen Unterhaltungswert, seinen Schmäh in den Dialogen, seinen eindeutig für erwachsene Leser gedachten und trotzdem angenehm flüssigen Stil. Die Rahmenhandlung mit dem uralten Mordfall ist ein netter Krimi. Es hat mir einen sehr schönen, nostalgischen Nachmittag beschert. Aber diese Erklärung mit der Substanz, die man erst an Kindern testen muss, um sie dann später an Soldaten verkaufen zu können?! Es wirkt fast, als hätte Brezina jetzt auf einmal ein schlechtes Gewissen, weil er fiktive Kinder jahrzehntelang einfach nur zu Unterhaltungszwecken in lebensbedrohliche Situationen gebracht hat und jetzt im Nachhinein versuchen muss, das irgendwie zu legitimieren. Ob es jetzt moralisch vertretbarer ist, wenn Kinder von bolivianischen Drogenhändlern gekidnappt werden, wenn es darüber noch eine Instanz gibt die „eh aufpasst“, weil das „eh nur ein Experiment“ ist, ist meiner Ansicht nach nicht nur sehr, sehr fraglich sondern zerstört retrospektiv immens viel der Magie, die die Abenteuer der Knickerbocker auf meinen kindlichen Geist damals ausgeübt hat.

Lisa-Viktoria Niederberger

03 | Katja Johanna Eichler

Zerlaufen

Ich hatte sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Sie sah müde aus. Dass sie eigentlich vorgehabt habe, in die Ritzen zwischen den alten Holzdielen zu zerlaufen. Die alten Holzdielen. Die Guten. Ließen alles über sich ergehen.

Das sagte sie irgendwann. Sie sei lose Masse gewesen. Schwarz, hässlich, träge. Sie habe schon eine ganze Weile auf den Dielen gelegen. Sie wollte gerade in deren Ritzen zerlaufen. Da habe das Handy geklingelt. Hätte das Handy nicht geklingelt, wäre sie jetzt der schwarze Dreck zwischen den Dielen. Ich verstand sie nicht. Aber ich mochte sie, so wie damals.

Sie schwieg.

Ich schwieg.

Dass ich sie sofort wieder erkannt hatte. Das sagte ich irgendwann. Und dachte, dass sie ausgesehen hatte, wie ein Bambi, das sich in unsere Zivilisation verlaufen hatte. Ausgerechnet in einen Drogeriemarkt. Ein Bambi aus dem Wald, das ungewollt zu trashiger Weihnachtsdeko geworden war. Große verlorene Augen zwischen Shampooflaschen, Slipeinlagen und blinkenden Lichterketten.

Ihre Augen waren es gewesen, die ich wieder erkannt hatte. Hätte sie mich nicht angeschaut, hätte ich mich wenig später nicht an sie erinnert. Hätte nicht bei ihren Eltern nach ihrer Nummer gefragt. Hätte sie nicht angerufen.

Hätte sie mich nicht angeschaut, wäre sie jetzt der schwarze Dreck zwischen den alten Holzdielen. Es ist gut, sich anzuschauen. Hatte ich das gesagt?

Sie schaute mich an.

Ich schaute sie an.

Vor zwanzig Jahren war uns das auch passiert. Das mit dem Anschauen. Immer wieder war uns das passiert. Zwischen den Tanten, Paten und Omas hindurch. Über die Klöße hinweg.

Ich hatte ständig schlucken müssen. Wegen der engen Krawatte des Konfirmationsanzuges und des reifenden Adamsapfels. Wegen der trockenen Klöße. Wegen ihres Blickes. Das war ein besonderer Tag gewesen damals. Hatte sie das gesagt?

Sie lächelte.

Ich lächelte.

Ich dachte, dass ich sie mochte. Dass ich alles von ihr wissen wollte. Mir fiel dabei ein, dass ich keine Zeit hatte. Dass es unfreundlich wäre, auf die Uhr zu schauen. Und dass Anna gestern Abend kaputt und gereizt gewesen war. Wegen der Kinder. Und ich spät von der Arbeit nach Hause gekommen war. Wegen des Projekts. Mir fiel ein, dass ich für das hier gerade keine Zeit hatte. Wegen der Kinder und wegen des Projekts. Und weil Dezember war. Mir fiel wieder auf, wie müde sie aussah. Nicht das Wenig-Schlaf-Müde. Das andere. Mir fiel auf, dass zwanzig Jahre nur ein Augenblick waren, wenn man jemand mochte.

Was machst du eigentlich so, fragte ich sie.

Nichts. Sehr leise sagte sie das. Nach einer Weile. Ich zerlaufe ins Zwischen. Nur das.

Ich verstand sie nicht. Ich verstand nicht, wie man zerlaufen konnte. Ich verstand nur etwas vom Verlaufen und vom Verrennen. Ich sagte nichts, weil ich sie nicht verstand. Weil sie schwarze zerlaufende Masse war und heute Dreck zwischen Holzdielen wäre, hätte ich sie nicht angerufen.

Das war ein besonderer Tag gewesen damals. Das hatte sie schon einmal gesagt. Es gibt viel zu wenige davon. Das hatte sie vorher noch nicht gesagt. Die Menschen schauen sich zu wenig an. Das sagte sie auch.

Ich nickte.

Sie nickte.

Irgendwann stand sie auf und ging. Es war spät. Nicht das Uhren-Schau-Spät. Das andere. Ich ruf' dich an. Das rief ich ihr hinter her. Sie nickte, ohne sich umzudrehen.

Katja Johanna Eichler

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02 | Johann Wiede

Es herrschen Schulden in der Musik, zurück
bleiben die Ringe der Mutter, bleibt der Motor
und kreist in Sirenen über die gelbe Stadt, alle Gewinner
zielen auf das Radio, sie bringen Papier mit, horchen aus,
mit der Drehbühne inszenieren sie die letzten dreißigjährigen
Frieden, beinahe auswendig, fast bedauerlich,
wie lose Daten aus dem Casio das Gegenteil schlachten,
ein offenes Gesicht vielleicht, Einzelfälle, was anderes
als sparen, wenn nur eine Bleistiftskizze erlaubt
den Sprecher aus Groll für tot zu erklären.

Johann Wiede

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01 | Sigune Schnabel

Frostgrenze

In deinen Worten fliegen Zugvögel.
Der Fluss rauscht lauter als sonst,
sammelt Schnee von den Bergen.

Alle Sätze müssen sterben.
Am Fuß der Kastanie
liegen die toten.

Zwischen Blättern
sitzt du und brichst mir
das Jahr von den Lippen,
trägst letzte Silben
verwittert in ein Gedicht.

Sigune Schnabel

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freiVERS | Peter Paul Wiplinger

Nada und France

Über die teller
gebeugt essen wir
jeder unsere suppe

wie schmeckte sie
damals in Dachau
wie in Mauthausen

einen langen weg
seid ihr gemeinsam
im leben gegangen

jetzt seid ihr müde
aber ihr erzählt mir
von euren Erinnerungen

Nada bringt das fleisch
France schenkt wein ein
wir hören die Nachrichten

noch immer dieser krieg
dieses mal in eurem land
auch wenn er weit weg ist

das letzte sonnenlicht
leuchtet noch glutrot
in das zimmer herein

dieser verdammte krieg
sagt France verbittert
und Nada nickt stumm

Peter Paul Wiplinger

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freiTEXT | Katharina Rios

Funkelnde Scherben

Der Forstweg schlängelt sich den Berg hinauf, hinter einer Kurve verliert er sich zwischen den Tannen. Ich gehe mit festem Tritt, den Kopf gesenkt. Die Kieselsteine bohren sich durch die Schuhsohle, wenn ich den Fuß abrolle. Bei jedem Schritt knirscht es, das Geräusch der sich aneinander reibenden Steine dröhnt in meinen Ohren. Laut. Es ist zu laut.
Ich bleibe stehen, lausche in den Wald. Nur der Pulsschlag in meinen Ohren. Der flache Atem, der kleine Dunstwolken vor mir in die Luft malt. Der Himmel hängt tief, die Spitzen der hohen Tannen verstecken sich im Nebel. Ich sehne mich nach Vogelgezwitscher, nach einem Igel, der durch die Bäume raschelt, irgendwas. Es ist zu still.
Ich laufe weiter den steilen Forstweg hinauf, atme im Rhythmus der Schritte. Leichter Nieselregen setzt sich auf meine Haut. Ab und zu vermischt er sich mit Tränen. Ich wische sie weg, sehe nach vorn. Da ist niemand. Niemand außer mir.

Du solltest jetzt nicht allein sein, sagen sie. Du kannst das nur verarbeiten, wenn du darüber sprichst.
Worte. Ich suche nach ihnen. Benutze sie, um zu beschreiben, wie es mir geht. Doch während ich bei Freunden sitze, sie an meinen Lippen hängen und mich aufmunternd ansehen, fallen leere Hülsen aus meinem Mund.

Der Forstweg gabelt sich. Rechts schlängelt sich der Hauptweg durch die Bäume nach unten. Ich gehe nach links, auf einem schmalen Pfad weiter bergauf. Der Boden wird weicher, an manchen Stellen ist er von Wurzeln durchzogen. Meine Lungen brennen vor Anstrengung. Neben mir fällt der Hang steil ab, je höher ich komme, desto lichter wird der Wald. Ich gehe schneller, Schweiß rinnt den Rücken hinab. Ich fühle die Muskeln in meinen Beinen, die Schwere des Rucksacks auf den Schultern. Der Geruch nach feuchter Erde und Nadeln hängt in der Luft, ich atme tief ein, schließe für einen Moment die Augen.

Er hat dich nicht verdient, sagen sie. Er lässt an dir aus, womit er selbst nicht klarkommt.
Ich höre ihnen zu, kann sie nicht verstehen. Er und ich, wir sind etwas Großes. Etwas ganz Großes, das zu Boden fällt. Ich will es auffangen, aber es gleitet mir aus den Händen, zerschellt. Die Scherben liegen vor mir. Langsam gehe ich in die Hocke, beuge mich über sie. Mein zerbrochenes Gesicht erscheint in den dunkelroten Glasstücken.
Ich könnte versuchen, sie zusammenzukleben.

Als ich wieder aufblicke, steht ein Fuchs am Wegrand. Ich bleibe stehen, halte die Luft an. Ein paar Meter entfernt, zwischen den Bäumen, beobachtet er mich. Mein Herz schlägt ruhig, ich stehe da, spüre den Boden unter den Füßen, die feuchte Luft auf meiner Haut. Der Fuchs macht zwei Schritte auf mich zu, streckt die Schnauze in die Luft, sieht mich noch einmal an und verschwindet im Dickicht.
Langsam gehe ich weiter. Nach einer Kurve komme ich an ein Viehgatter, an dem ein schmaler Pfad vorbeiführt.
Dahinter erstreckt sich eine Hochebene. Das Gras sieht weich aus, wie ein riesiger Teppich. An manchen Stellen ragen Felsbrocken aus der Erde, vereinzelt stehen Tannen auf der Wiese. Es ist heller hier oben. Ich kann die Sonne nicht sehen, und doch streicht sie sanft über mein Gesicht.

Es tut mir leid, hat er gesagt. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich fühle nichts mehr.
Ich hebe die Scherben vorsichtig auf. Sie haben scharfe Kanten.
Auch nicht für mich?, habe ich gefragt, konnte ihn dabei nicht ansehen.
Nein, hat er gesagt.
Die Scherben schneiden mir in die Hand.

Ich stapfe durch den Matsch auf die Berghütte zu, vorbei an den Kühen, die mit halb geschlossenen Augen Gras kauen. An der Tür zur Stube lehnt die Bäuerin, die mir mit zusammengekniffenem Mund zunickt. Ich bestelle mir Kaffee setze mich auf eine der Holzbänke, die von der Witterung fast schwarz geworden sind.
Die Berge erheben sich in dunklem Grün, hinter ihnen ragen die steinigen Gipel der Alpen in den Himmel. Das Glockenläuten der Kühe durchbricht die Stille, hinter mir höre ich Hühner gackern. Ich wühle im Rucksack, fische die Schachtel Zigaretten heraus und zünde mir eine an. Als ich von der Glut aufblicke, sehe ich die Landschaft nur noch verschwommen.
Die Bäuerin zuckt zusammen, als sie aus der Tür tritt und mich sieht. Sie stellt den Kaffee vor mir ab, betrachtet mich einen Augenblick. „Hier“, sagt sie und hält mir ein weißes Taschentuch aus Stoff hin. Der Rand ist blau bestickt – kleine Schnörkel, die mich ans Meer erinnern. „Behalten Sie es.“ Sie verschwindet wieder in der Hütte.

Er und ich, das war etwas Großes. Jetzt bin ich klein. Fast unsichtbar.

Ich lasse die Tränen laufen. Sitze auf der Bank, schluchze, ziehe mit zitternden Lippen an der Zigarette, stoße den Rauch aus und sehe dabei zu, wie er sich vor mich auflöst.
Immer wieder tupfe ich mit dem Taschentuch mein Gesicht ab. Der Stoff kratzt und riecht nach Holz.
Hinter mir höre ich die schweren Schritte der Bäuerin. Sie läuft durch die Stube, ich stelle mir vor, wie sie über die gestärkten Tischdecken streicht und aus dem Fenster sieht. Ich falte das Taschentuch zusammen und stecke es in meine Jackentasche.
Langsam atme ich den Schmerz ein und wieder aus. Er lässt nach. Ich bin froh, dass der Moment vorüber ist. Habe Angst, dass er bald wiederkommt.

Auf dem Weg zurück ist der Himmel milchig, ein leichter Wind weht. Ich verstaue meine Regenjacke im Rucksack, kremple die Ärmel hoch. Auf der Hochebene setze ich mich mitten auf den Grasteppich und sehe in die Ferne.
Hinter mir ertönt Glockenläuten. Ich drehe mich um. Ein paar Meter weiter steht eine Kuh mit ihrem Kalb. Es ist hellbraun und hat einen dunklen Fleck auf seiner linken Flanke. Es hebt den Kopf und sieht mich an, die Mutter rupft mit dem Maul Gras aus dem Boden. Das Kalb kommt auf mich zu. Langsam stehe ich auf und gehe rückwärts in Richtung Wanderweg. Ich behalte die Kuh im Auge, mein Herz schlägt schneller. Doch sie scheint sich keine Sorgen zu machen. Sie sieht ihrem Jungen hinterher und widmet sich wieder dem Gras.
Ich bleibe stehen. Die Sonne wärmt meinen Körper, in dem Baum neben mir zwitschert ein Vogel. Das Kalb macht noch einen Schritt. Und noch einen. Als es genau vor mir steht, senkt es den Kopf. Drückt seine Stirn an meinen Bauch. Ich setze einen Fuß nach hinten, um die Balance zu halten. Vorsichtig hebe ich die Hand und lege sie zwischen die Ohren des Jungtiers. Es schnauft. Ich kraule es, spüre das borstige Fell, den Druck seines Kopfes an meinem Bauch. Die Wiese leuchtet unter der Sonne hellgrün. Nichts scheint sich zu bewegen, die Luft ist weich. So weich. Ich lächle. Schaue auf das Kalb hinunter und wünsche mir, dass es noch eine Weile hier stehen bleibt. Nur eine kleine Weile.

Auf dem Parkplatz lehne ich am Auto und verschränke die Arme vor der Brust. Der Himmel färbt sich orange, die schräg durch die Bäume fallenden Sonnenstrahlen werden blasser. Mein Blick fällt auf ein paar Scherben, die neben einem Mülleimer liegen. Sie funkeln im Licht der untergehenden Sonne.

Katharina Rios

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freiVERS | Helmut Glatz

Meine Einsamkeit

Jetzt im Herbst hat die Einsamkeit
die Strickweste an und den langen geblümten Rock
Sie schlurft um das Haus und versucht
die Blätter zu dressieren
Sie rascheln schon und machen Männchen im Wind
Ich liebe Menschen die Schatten werfen
für die zwei mal zwei nicht vier ist
sondern fünf minus eins
denke ich während ich am Fenster stehe
und sie beobachte
Es ist meine Einsamkeit da unten jetzt legt sie
den Besen weg und geht die Straße hinunter
Ich hätte sie nicht gehen lassen sollen
jetzt im Spätherbst denke ich
auch zwanzig durch fünf  hätte ich gelten lassen sollen
denke ich während sie die Straße hinunter schlurft
mit ihrem Schatten der immer länger wird

Helmut Glatz

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freiTEXT | Kai Bohnert

Die Fischsuppe

Gestern hat es Fischsuppe gegeben. Heute allerdings ist F. unwohl, und zunächst ist er versucht, es dem Stress zuzuschieben, denn seit geraumer Zeit plagen ihn ins Stocken geratene Geschäfte; dann aber erscheint ihm doch die gestrige Fischsuppe durchaus verdächtig. Morgens begann es in seinem Magen zu gären; gleichsam als flöße Schaum durch die Eingeweide blähte sich sein Bauch auf, stieße man eine Nadel hinein, er würde die Haut an der Oberfläche sogleich von Innen aufreißen und herausquellen, wie bei einem Plüschtier – schnitte man es der Länge nach auf – das Futter. Reglos liegt F. seither im Bett, zwischen Tür und Fenster.

Die Sonne scheint fahl und kalt hinter dem Glas; wo ihr Licht über seine Wangen fließt, färbt es sie blass, wie der Bauch eines Fisches, wenn er leblos auf dem Wasser treibt; F. wäre über diesen Morgen sonst zornig gewesen, nun aber ist er nicht einmal dazu imstande; einmal versucht er sich herum und aus dem Bett zu werfen, gelangt jedoch kaum auf die Seite, fällt stattdessen sogleich am ganzen Leib zuckend auf das Bett zurück, als habe ihn jemand in den kleinen Zeh gezwickt. Danach regt er sich noch weniger, als schon zuvor nicht.

Mit trüben Augen starrt er zur grauen Decke. Warum hat er auch die Fischsuppe essen müssen? Wo doch schon der Anblick des Marktes vor dem Fenster ihm Übelkeit bereitet! Dorthin nämlich war der Bedienstete gegangen, um die Zutaten für die Suppe einzukaufen; was für ein elender Ort dieser Markt ist: Jedermann brüllt, auf Anfrage werden einem die Waren ohne Prüfung in den Korb geschleudert, ja man weiß zuweilen nicht einmal, was man überhaupt eingekauft hat. Und selbst wenn man – allen Erwartungen zum Trotz – doch einmal die richtigen Zutaten erhält, so bleibt doch das größte Übel der Fisch selbst.

Zwar wird er gewissermaßen frisch aus dem Fluss geangelt, aber was bedeutet dies schon im Falle des Flussfisches, dieses armseligsten aller Fische? Sein ganzes Leben hängt er nur in der Strömung – zwischen Oberfläche und Flussbett – herum, sogar die Fischer ermüdet es, ab und an schlafen sie beim Angeln ein; beinahe genügte es schon, wenn man den Eimer nur am Ufer abstellte, der Fisch spränge dann nahezu von selbst hinein. Wenn er nur zum Springen in der Lage gewesen wäre! Wo aber doch nichts lächerlicher erscheint, als ein Flussfisch, der springt!

Aus solchen Fischen hat nun also der Koch die Suppe zubereitet. Und F. sieht ihn im Geiste vor sich, wie er, bei dem Gedanken, diese Suppe nicht selbst essen zu müssen, teils erleichtert, teils schadenfroh lächelt. Zunächst ist F. daher versucht, schlichtweg dem Koch die Schuld zu geben, dann dem Bediensteten, endlich sich selbst, da er immerhin die Suppe, obwohl genau Bescheid wissend, gegessen hat.

„Du bist auch Schuld“, sagt F. bewusst vorwurfsvoll.

Auf dem Stuhl neben der Tür, sitzt an einem Tisch sein Vater; aber er macht ein Gesicht, als sei allein in dieser Ecke Winter. Dann schließt F. die Augen und lehnt sich zurück: Während seiner Kindheit hatten sie am Meer gewohnt. Und jeden Tag war sein Vater zum Fischen hinunter an den Strand gegangen, wo die See schier ohne Ende erscheint. Wenn der Wind Regen und Gischt gegen das Fenster peitschte, starrte F. in den Sturm hinaus. Würde der Vater sicher wieder nach Hause kommen? Schlussendlich tauchte der gelbe Regenmantel vor der Tür auf, er trat ein und schleuderte ein Bündel Fische wortlos auf den Tisch. Dieser Meeresfisch bebte selbst noch in Gefangenschaft, würfe man ihn in einen Eimer Wasser, so schwämme er sogleich herum.

Wie anders hingegen der Flussfisch!

Ob er reglos im Flussbett hängt, ob er im Eimer die graue Wand anstarrt – es ist völlig gleich; ja, vor allem im Eimer bewegt er sich noch weniger, als er es ohnehin schon nicht tut. Wo der Meeresfisch selbst auf dem Schlachtbrett noch vor Leben geradezu strotzt, da trifft einen aus dem trüben Auge des Flussfisches nur dieser – gegen sich selbst mehr als gegen den Fischer gerichtete – vorwurfsvolle Blick.

Schon als Kind hatte F. dies nur allzu gut verstanden.

Er öffnet die Augen – und der Stuhl am Tisch neben der Tür ist leer. Das hat er nun also davon noch in der übelsten Fischsuppe einen Fingerzeig auf das Meer finden zu wollen. Während die aus Meeresfisch zubereitete Suppe durchaus vergangene Geschichten über die Kindheit und noch vergangenere über das Meer zu erzählen vermag, macht diese hier unweigerlich krank. F. kann nicht einmal aus dem Fenster sehen.

Dort draußen angelt soeben ein Fischer einen Fisch aus dem Fluss. Er wirft ihn auf den Tisch, schlägt ihn ein paarmal gegen die Kante und betrachtet ihn dann eingehend, woraufhin sich aber seine Stirn in Falten legt. Schließlich wirft er ihn in hohem Bogen zurück ins Wasser. Der Fisch kommt mit dem bleichen Bauch nach oben zurück an die Oberfläche und leblos auf dem Wasser treibt er davon.

Kai Bohnert

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