freiVERS | Fabian Lenthe

Schritte aus dem Moloch
Schwere trägt ihren Gang
Sohlen schweben über den Morast
Zerknirschte Erden graben sich ein

Gestern liegt tief in den Augen und
Wind baut heimlich Wände
Regen wäscht gegen das Gesicht
Prallt in Gedanken auf Beton

Blicke finden einander und sterben
Aus Gassen fluten zähe Schatten müde Lichter
Glimmen zwischen zittriger Finger und
Glut schnürt blasse Fäden um rauchende Glieder

Erschöpft fallen Träume von den Dächern
Schlagen Krater in den Straßen
Sind Nahrung für am Boden Gebliebene und
Trophäen für die Götter

Fabian Lenthe

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ZZZ 11/12 | Marlene Schulz

*1961, Studien des belletristischen und journalistischen Schreibens, Stipendiatin am Institut für kreatives Schreiben in Bad Kreuznach, Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum und Anthologien sowie in mehreren Schulbüchern des Cornelsen Verlags. 2015 Nominierung für den Mannheimer Literaturpreis der räuber `77.

Marlene ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "morning has broken" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und am 2. Dezember 2016 erschienen sind.

Morning has broken

Nie wieder sah ich ihn. Er war elf, genau wie ich, damals. Kam einfach nicht mehr zur Schule. Sein Platz blieb für ein paar Tage leer, dann setzte Frau Hohenadel jemand anderen darauf.

Ferdi hatte blaue Augen, hell wie Gletschereisbonbons. Zwei Bänke vor und eine Reihe neben mir saß er. Wenn er sich meldete, sein Arm kerzengerade nach oben schoss und er ihn mit der anderen Hand abstützte, schaute er sich manchmal nach mir um.

Wir hatten uns ein einziges Mal verabredet. Es war der Sommer, bevor er nicht mehr kam. Nachmittags um drei Uhr, an einem Freitag. Ich hatte mein gestreiftes Kleid angezogen, das einen Reißverschluss bis zum Bauchnabel hatte. Der Rock war in Rot gehalten, die Streifen im Oberteil rosa und ein bisschen weiß. Der Reißverschluss hatte einen münzgroßen Ring. Ich steckte gerne den Finger hinein und zog den Verschluss rauf und runter. Ich hatte ein wenig Angst, dass Ferdi daran ziehen könnte. Heimlich schlüpfte ich in die schwarzen Lackschuhe, die im Schuhschrank standen und die ich nur sonntags anziehen durfte zum Kindergottesdienst. Meine rote Handtasche mit dem goldfarbenen Drehschloss nahm ich mit. Unser Treffpunkt war die Bank auf dem Spielplatz. Niemand spielte im Sand, als ich dort saß und auf Ferdi wartete. Niemand schaukelte oder schubste für sich selbst das Karussell an.

Abwechselnd stellte ich die Handtasche auf meine Oberschenkel und auf die Bank. Malte mit meinen Lackschuhen Furchen in den Sand. Ein paar Mal öffnete ich den Verschluss meiner Tasche und sah das gebügelte Schnäuztuch mit aufgedrucktem Schneewittchen. Zwei Lutschbonbons lagen auf dem weißen Plastiktaschenboden. Ich wollte Ferdi eines davon abgeben. Er war über der Zeit. Die Kirchturmuhr schlug. Vor einer Viertelstunde waren wir verabredet. Das Warten wurde lang. Ich entschied: Noch fünf Mal Tasche aufmachen, dann.

Das erste Mal. Jetzt Taschentuch auseinander und wieder zusammen falten, Tasche zumachen, einen großen Kreis mit dem rechten Fuß in den Sand malen, einen kleinen mit dem linken. Wieder verwischen. Tasche öffnen, Bonbons in die Hand nehmen, wieder fallen lassen. Tasche schließen. Die Schuhe aneinander klopfen. Den Reißverschluss ein bisschen nach unten ziehen, wieder zurück, Tasche öffnen, Taschentuch unter die Bonbons, Tasche schließen, ein Rechteck in den Sand, Tasche öffnen, Tasche schließen, Kopf nach rechts, links, Ohren gespitzt, Tasche öffnen, ein Bonbon auswickeln, in den Mund schieben und Schluss. Tasche schließen. Beim Weggehen: Bonbonpapier in den Mülleimer.

[...]

Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback


freiTEXT | Andreas Reichelsdorfer

Zwecks der öffentlichen Wirkung (1965)

Während der Anwalt versuchte, sich in der Zelle mit dem zum Tode Verurteilten zu verständigen, patrouillierte vor den Gittern die Selbstmordwache. Der Vollzug war für nächsten Donnerstag angesetzt.

Andreas Reichelsdorfer

Andreas ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der 20. Ausgabe der Zeitschrift mosaik.

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freiVERS | Ianina Ilitcheva

Alltag, Liebe, Weltraum

5 Gedichte, 2016

1

Weltallfantasien
Selbstmordfantasien
er will Astronaut sein
er kehrt von einer Marsmission zurück
er erzählt, er habe in Paris Philosophie studiert
das zehrt natürlich
aufs Telefon sehen
warten auf das Zeichen
gib mir einen Grund, wie deinen

 

2

ich beobachte  das inaktive System. das System schläft.

kann denn schwarze Energie Sünde sein
ich sage Seele, wenn ich diesen verwirrten Ausdruck haben will

Computerliebe
es läuft darauf hinaus:
ein 3D Drucker schafft einen Körper, mit dem man kein Mitleid
empfinden muss

E im luftleeren Raum
Signalübertragung per miau
das Gegenteil von etwas ist alles, was es nicht ist
was ist daran so schwer zu verstehen, dass das Gegenteil von Vakuum

das Ereignis tritt in der Innenwelt ein
Multiple Innenwelt Theorie
früher nannten sie es Äther
Vakuum kam erst später

alles ist möglich, solange
Spiegelteilchen

miaut das Kätzchen, oder miaue ich

sehe ich dich an, verändert sich etwas
deinem inneren Joghurt den Befehl zu Schimmeln gegeben
mit meinem Blick
du süßer Wahn

"kritzlself" - Selbstportrait
"kritzlself" - Selbstportrait

3

wie in bulgarischer Disco
der Wetterbericht war falsch
Pegel von schwellendem Vogelsang
womit dealst du in der Nacht
schick dein Teil ins Labor
bevor wir satt sind
schließen sie das Tor
uns Vogel warnt schon
lauft schon lauft schon!
läppisch läppisch!
klingt wie What is Love
los schnell sonst
warum machen wir nicht
Urlaub auf den Faröern

 

4

Ich habe eine kryptische Ader
ich will dich darin
Fischkapseln essen sehen
und dann Wege rendern
mit so überkrass Charisma

und ich könnte mehr
Ausdauer beweisen lassen
in meiner Liebe
als Stonehenge
und ein Sieb geht zum Brunnen
in aller Feierlichkeit
die den Badboys gebührt
wandern sie zum Uluru

von wegen Feste Strukturen
bis die Gipfel verschorfen
rufe ich niemanden
bis in der Vorschau
ein weißer Tiger springt
ein nuklearer Februar
tapfer ertrage ich meine Zufriedenheit
morgen nehmen wir Drogen

 

5

frischverschlossene
an einem furchigen
an einem noch Feuchteabend

und du mein Anòrak
und der Anschein der Wahrzeichen
die Pfingstrosen
Gesichter zu lecken
ich kaufe dir dort den Planeten

husch husch die Kröten
husch husch die Löwenmäulchen
so geil auf Passanten
sensibel für den Ausdruck
am Automaten

und lass an dort der Mündung
das Ereignis gesprochen
call me in Realität Domja Vata
und die gefleckten Schultern
und das Sternnebel Ereignis
und die Nachbarn
gehen morgen in die Oper
in Luft und Internet
die Dienstleistungen Amen

Ianina Ilitcheva

Ianina war Teil von Lyrik für alle!, der 3. Babelsprech-Konferenz Salzburg 2016. Zur Konferenz im Dezember konnte sie krankheitsbedingt nicht anreisen, in der Festivalanthologie ist sie mit drei ihrer Texte aus diesem Zyklus vertreten. Ende 2016 ist Ianina verstorben. Retrospektiven finden sich bei KulturKeule22 - 5 Jahre mosaik am 25.1.2017 und in mosaik22 (März 2017).

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ZZZ 10/12 | Katrin Theiner

Katrin Theiner, 1981 in Steinheim (Westfalen) geboren. Hat 2006 den Sprung aus der Provinz nach Berlin geschafft – mit einem Magister in Germanistik und Medienwissenschaft in der Tasche. Sie arbeitet als Texterin und Schreibcoach und veröffentlicht online und in Literaturzeitschriften. Aktuelle Texte sind in der„Trashpool“ und in „Das Prinzip der sparsamsten Erklärung“ zu finden. Sie war Finalistin beim Literaturpreis Prenzlauer Berg 2016 und veröffentlicht im Herbst 2016 Erzählungen beim Hamburger Literatur Quickie Verlag.

Katrin ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "Die Dunkelheit störte, die Locken auch" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und am 2. Dezember 2016 erschienen sind.

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Buchstabierte Blumen

Vielleicht könnte ich ihre Welt besser verstehen, wenn ich in ihren Schuhen laufen würde.  

Aber ich lasse sie schlafen. Durch die getönten Scheiben sah alles, was nichts mit uns zu tun hatte, nutzlos aus. Verlassene Fabrikhallen, übersonnte Weiden, breitschultrige Wassertürme und dahingekleckerte Häuser. Spargelfelder schmissen sich vor uns hin, Wolkenschwärme malten fliehende Schatten auf zu große Felder. Wir fuhren die Strecke zum vierten Mal. Tim und ich. Zweimal hin, zweimal zurück. Vorbei an dem Bahnübergang mit den gelben Schranken, daneben die verhüllten Tennisplätze, gleich das Rapsfeld mit den Gülletanks, die spitz zum Himmel zeigten. Der Zug glitt zu leise über die Schienen. Mir fehlte etwas. Das Rumpeln, die Geräusche, das Knacken von Lautsprechern. Irgendwas Echtes, am besten was zum Anfassen oder Riechen. Vielleicht etwas, das in der Hand schmolz, sich auflöste, einen klebrigen Film auf der Haut hinterließ. Etwas, das zu mir gehörte, wie Nowitzki zu den Mavericks. Etwas, das mir das Gefühl geben konnte, noch in meinem Körper zu stecken, diesem Ding, das ich immer für zu Peter Parker gehalten hatte – vor dem Spinnenbiss. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt roch alles nach ihr. Und über ihren Duft hatte ich mein Lakers-Trikot gezogen, die Nr. 24. Das hielt ich für das mindeste, auch wenn es das alte Trikot meines Vaters war, das er mir dagelassen hatte, an dem Tag, als er ausgezogen war. „Mach was draus“, hatte er gesagt und mich angeschaut, als warte er auf eine Entschuldigung für die letzten vierzehn Jahre.

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Wind, Kind, Blind, Rind

Polly, so möchte sie genannt werden, habe ich in einem Forum für Allergiker kennengelernt. Erst schrieb ich mir mit Ellen, die unter kreisrundem Haarausfall und einer pelzigen Zunge litt und gerade dabei war, einer Unverträglichkeit gegen Zitrusfrüchte und vielleicht auch gegen ein neues Waschmittel auf die Schliche zu kommen, aber auf ihrem Profil-Bild hatte sie dieses typische Verena-Gesicht; schmales Kinn, pädagogisches Lächeln, durchsichtige Zahnkanten, massenweise Wirbel am Haaransatz, und so sehr ich mich auch bemühte, es fühlte sich einfach falsch an, sie nicht Verena zu nennen. Irgendwann schrieb sie, ich solle doch an einer Pekannuss ersticken, ich sei geisteskrank und seitdem hat sie nicht mehr geantwortet. Gestern schrieb mir Polly und erzählte von Nährstoffmangel, Brust-Migräne, einer abgebrochenen Darmsanierung und ihrer Liebe zu Nirvana. Ich beichtete ihr, dass mein Schnäuzer alleine dafür dient, die Blätterkrokanthaut in meinem Gesicht zumindest zwischen Nase und Mund zu unterbrechen und dass Schließfrüchte aller Art mein Tod seien. Come as you are, schrieb sie und heute treffen wir uns.

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theinerLandschaft zum Verschwundensein

Der Herr Onkel war tot. Den Mund voll brauner Fichtennadeln, den Bart auch, als hätte er einen zu großen Löffel Suppe in sich hineingeschaufelt, bei dem die Nudeln zwischen seinen Lippen wieder rauskamen. Oder als hätte er vor Hunger seine eigenen Bäume gefressen und war an Rinde, Harz und Zapfen erstickt. Die Tannenschonung hatte angefangen ihn zu beerdigen, warf Sand auf seinen muffigen Kompostsarg aus Ästen und Laub, aber bevor der Wald den Grabstein setzen konnte, den letzten Spruch aufgesagt hatte, und der Herr Onkel hätte es verabscheut, das Gefasel um Himmel, usw. usf., hätte geschrien, mit Gott und so hätten nur Arschkriecher was am Hut, und bevor die Bäume hinter der Lichtung an der Grabstätte für immer für Ruhe sorgen konnten, hatte ein Waldarbeiter seine Leiche in moosgrünen Gummistiefeln im Unterholz entdeckt.

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freiTEXT | Maik Gerecke

Schriftstellernöte

Für mein Romanprojekt, in dem es um einen Swinger-Club geht, betrat ich die Höhle des Löwen, setzte mich mit einer Freundin in die U8 und fuhr zur Heinrich-Heine-Straße, um im berühmt-berüchtigten KitKatClub Berlin Input zu finden.

Und ich bekam, was ich wollte.

Schon als wir der Tür nur näher kamen, steigerte sich die Aufregung merklich. Wir zitterten etwas und ich hatte das Gefühl, meine Atmung unter Kontrolle halten zu müssen. Neben uns stiegen drei Kerle in Tutus und engen Strumpfhosen lachend aus einem Taxi und es war klar, wohin sie in diesem Aufzug wollten. Meine Begleitung packte mich sofort am Arm und beteuerte, wir müssten uns beeilen, um noch vor »denen da« die Türsteher zu passieren. Denn im Vergleich zu ihnen wirkten unsere Aufzüge äußerst langweilig. Vorallem meiner.

An der Tür wurden wir kurz aber eindringlich gemustert und ich sah die Skepsis in den Augen des Türstehers aufflammen. Er zuckte mit den Schultern, seufzte, schaute dann zu seiner Kollegin und sagte: »Mach du dit ma.«

Die erste Hürde war genommen, beim Bezahlen wurde es jedoch kritisch. Ich trug eine lange schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt und ein offenes schwarzes Hemd darüber. Die Frau an der Kasse musterte mich ungläubig und sagte: »Haste vor, dich noch umzuziehen, oder wie?« Ihr Blick verharrte auf meinem Körper. »Also so … nää, so jeht dit nich.« Und ich sagte nur: »Ähm …« und dann erst Mal nichts mehr.

»Naja«, mischte sich meine Begleiterin schulterzuckend ein, »er ist halt Schriftsteller« und verzierte ihre Aussage mit einer Was-willste-machen-Geste. Sie wolle einfach mal mit mir tanzen gehen, erklärte sie weiter, und setzte dann ein bittendes, zuckersüßes Gesicht auf. Passend zu ihrer pinken Strumpfhose.

»Na, dassa Schriftsteller is, is ja schon ma jut, aber kanna nich wenigstens dit T-Shirt ausziehen?«

Die Verhandlungen begannen. Witzigerweise erledigten die beiden Frauen den Bärenanteil der Gespräche. Ich war wieder acht Jahre alt, fühlte mich klein und als beobachtete ich Mütter, wie sie in der dritten Person über mich redeten.

Man versicherte mir, es habe nichts mit mir zu tun, ich könne sein, wie ich wolle, aussehen, wie ich wolle, aber eben nicht hier. Und nicht so! Das sei zu sportlich. Aber wenn ich, nun ja, das T-Shirt ausziehen würde und mit – zumindest halb – aufgeknöpftem Hemd rumliefe, dann, ja, ihretwegen. Und auch wenn die Angestellten des Clubs die gewohnte Strenge des Berliners aufwiesen, erfuhr ich sie als ungewöhnlich freundlich. Regelrecht einladend. Für Berliner Verhältnisse.

Ich musste mich also umziehen.

Aber wo tut man das hier doch gleich? Wo sind die Umkleidekabinen? Ich suchte vergeblich. Das Umziehen erledigt man direkt an der Tür, gegenüber von der Kasse, da aber noch kaum jemand anwesend war, bekam ich davon nichts mit. Also ging ich wie ein verschüchtertes Pastorentöchterchen aufs Herren-Klo, an ein paar nackten, mit Lederriemen behangenen Kerlen vorbei, verkroch mich in einer Kabine und zog mich um. In dem merkwürdigen Bewusstsein, einen Fehler zu begehen. Danach wurde ich erneut der Frau an der Kasse präsentiert, die mich jetzt freundlich anlächelte, mir dann auf die etwas behaarte, bleiche Brust starrte und sagte: »Na siehste! Das ist doch schon echt sexy!«

 

Ich war in keiner besonders guten körperlichen Verfassung an diesem Tag, da ich den Abend zuvor bereits ziemlich über die Strenge geschlagen hatte. Ausgerechnet heute hatte ich einen dieser Tage, an denen man schwört: Heute kein Tropfen Alkohol.

Wir gingen als erstes ein wenig durch den Laden, schauten uns alles an. Den Pool-Bereich, die Chill-out-Area, die verschiedenen Floors, Ecken und Ebenen. Es war noch früh und der Laden relativ leer. Die ersten nackten Kerle streunten bereits durch den Club oder saßen herum. Ich sah einen älteren Herren mit Lederoberteil, dessen bestes Stück von einem Metallring gehalten wurde, erste weibliche Brüste flogen durch mein Blickfeld und auch ein paar männliche. Ein Kerl in teurem Anzug und Krawatte fernöstlicher Herkunft, der mich an das Wort »Businesstrip« denken lies, inspizierte interessiert aber verhalten die Räumlichkeiten, kletterte dann irgendwann hoch auf das Podest mit den Poles darauf und begann zu tanzen. Vornehmlich mit den Hüften.

Dann kamen die Lederanzüge, die Hundeleinen, Ketten, Strapse, die hier von beiden Geschlechtern getragen werden, genau so wie die Netzhemden, Netzstrumpfhosen oder Stringtangas.

Ich brauchte Alkohol.

Die Reize wurden zunehmend reichhaltiger und ich dachte mir, ein guter alter Aufenthalt an der Bar würde mir eine kleine Auszeit verschaffen. Dort angekommen stellte ich fest, dass die Bedienungen nackt waren. Sowohl oben, als auch unten. Und aus einem inneren Impuls, Anstand walten zu lassen, bemühte ich mich reflexartig, meine visuelle Neugier zu unterdrücken. Nicht direkt hinzusehen. So richtig hatte ich das Prinzip dieses Laden noch immer nicht begriffen.

 

Drei Bier später ist der Laden auf einmal rappelvoll. Die Leute tummeln sich auf den Tanzflächen. Penisse, Vaginas, Brüste soweit das Auge reicht. Ich sehe Menschen in Ganzkörper-Bärenkostümen, Männer, die sich permanent am Glied herumfummeln. Mir verlangt es nach Bier – immer mehr Bier – und meine Knie werden schwach. Es ist, als geschehe ganz langsam etwas mit meinem Körper, das man nur auf einen Drogenkonsum zurückführen kann. Jeder Raum ist von einer bis ins Unendliche gesteigerten Scheißegal-Einstellung erfüllt, dass man glauben möchte, man befände sich in einer Parallelwelt. Plötzlich erkennst du Grenzen – in dir und der restlichen Welt –, weil sie auf einmal nicht mehr da sind. Du bist frei auf eine Art und Weise, wie du diesen Begriff noch nie zuvor verstanden hast. Ein Gefühl, glaube ich, nachdem man leicht süchtig werden kann.

Der Laden füllt sich.

Dieser Ort, er lockt dich mit süßen, nie gekannten Möglichkeiten zwischenmenschlicher Interaktion immer tiefer in sein Innerstes. Nackte Arschbacken berühren dich, eine Brustwarze streift deinen Oberarm, auf einem Podest tanzt ein alter, dünner Kerl in Strapse und Nylons mit einer zappelnden Erektion, lächelt zufrieden dabei. So zufrieden, wie es nur irgend geht. Ich lache, freue mich für ihn.

Ach, was soll's. Drauf geschissen. Also los, noch'n Bier geholt, Begleiterin geschnappt und ab in die Menge. Mein Taktgefühl wird zunehmend physiologisch ausgelebt und auf einmal ist das alles hier gar nicht mehr so schlimm. Menschen ziehen sich aus, klatschen sich auf die Hintern, peitschen sich, betreiben BDSM und ich denke: Ja. Warum denn auch nicht?

Ich rauche, rauche, rauche. Trinke, trinke, trinke. Tanze synchron dazu. Die ersten lüsternen Blicke von attraktiven, leicht bekleideten Frauen grienen mich an. Ganz offen und unverhohlen. Das ist ungewöhnlich in dieser Stadt, auch wenn ihr Ruf etwas anderes verspricht. So direkt werde ich normalerweise nicht beäugt, muss in der Regel viel mehr arbeiten für einen einfachen Flirt. Ist dies hier – dieser Ort – vielleicht das wirkliche Berlin, von dem jenseits seiner Grenzen so viel gesprochen wird?

Meine Hemmschwelle sinkt und sinkt. Sinkt immer weiter. Der Drang, zu der langbeinigen Blondine da drüben rüberzugehen, aus einem Lächeln die Berührung namenloser Zungen und Körperteile werden zu lassen, steigt. Aber dann suchen mich Gedanken aus der Welt da draußen wieder heim. Zweifel, Bedenken, Ängste. Was, wenn dies? Was, wenn das? Krankheiten, trickbetrügende Prostituierte, unerkannte Transsexuelle.

Ich lasse sie links liegen, nur so zur Sicherheit, aber da kommt schon die nächste, lächelt mir zu. Von etwas weiter weg. Größere Brüste, süßes Gesicht, breitere Hüften, dunkle Haare. Nicht schlecht, nicht schlecht, denke ich mir.

Warum, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich an früher. Wieder bin ich ein kleines Kind, denke an die Besuche beim Fleischer mit meiner Mutter und wie die Frau hinter der Theke mir immer eine »Gesichtsmortadella« schenkte. So nannte ich sie. Ich denke an den Anblick des Fleisches hinter dem Glas und wie nur sie, die Fleischfrau, die Macht hatte, mir eine dieser Genüsse zu gewähren.

Aber dann, kurz bevor ich mich zu vergessen beginne, werde ich von meiner Begleiterin beiseite genommen, die mich wieder an die beruflichen Gründe erinnert, aus denen ich überhaupt erst hier her gekommen bin. Sie zeigt auf etwas, hat ein Gesicht, das sagt: »Schau mal, dort!« Denn hinter uns geht der Abend gerade in die nächste Phase über.

Das Gang-Bang-Armageddon beginnt.

 

Das KitKat verschluckt dich, definiert Normalität für dich neu. Man kann nicht leugnen, dass du an kaum einem Ort so sehr akzeptiert wirst, wie hier. Ob du alt, dick, kahl oder vollbusig bist, ob du männlichen, weiblichen, dritten, vierten oder welchen Geschlechtes auch immer bist – all das spielt hier wirklich keine so große Rolle. Ein Gefühl, dass mir keine political correctness dieser Welt je verschafft hat. Denn die gewöhnliche Werteskala ist schlicht außer kraft gesetzt. Es herrscht ein so ungewöhnliches Höchstmaß an Akzeptanz, Offenheit und Neugier. Die Menschen haben sich in der Sexualisierung des sozialen Miteinanders vereinigt. Und die Welt da draußen, sie wird in so weite Ferne getragen, wie es kein Zug, Flugzeug oder Raumschiff je bewerkstelligen könnte. Sie ist ansteckend, diese Atmosphäre. Es ist, als kämst du in die Hölle und würdest feststellen, dass die Schauergeschichten über sie sittlich befangene Verunglimpfungen waren. Keine objektiven Schilderungen.

In einer Ecke sehe ich jetzt die hübsche junge Frau liegen, die am Beginn des Abends auf der Tanzfläche noch ihren BH auszog, ein wenig tanzte und ihn dann wieder anzog. Ich dachte, es sei ihr dann doch zu viel gewesen, aber jetzt liegt sie da. Die Beine mit den Highheels daran in die Höhe gestreckt und um sie herum tummelt sich eine Horde Männer. Auf ihr liegt etwas, das aus meinem Winkel nur ein sich auf und ab bewegender Hintern mit zwei Oberschenkeln unten dran ist. Der nächste in der Reihe ist ein Kerl im Arztkostüm. Sein Vorgänger ist fertig und er klettert in die Ausgangsposition. Versenkt sein Glied.

Ein Dutzend Männer hämmert vor meinen Augen diese zierliche Frau – dieses Mädchen – durch und ich bin überrascht, dass es mich nicht so sehr schockt, wie erwartet. Mich wundert nur, dass ich kein Kondom am Penis des Arztes gesehen habe bevor er sich an ihr verging.

Ich schaue mich weiter um. Über uns auf der Hochebene hängen zwei Frauen über dem Geländer, hinter ihnen Männerschlagen, rechts und links Hände an ihren Brüsten. Die Frauen schreien lustvoll und mit geschlossenen Augen, aber weil die Musik so laut ist, hörst du es nicht. Siehst es nur. Mir ist, als schaute ich einen Porno mit einem VR-Helm und statt mich zu verkriechen, mich zu genieren, bemerke ich auf einmal Aktivitäten in meiner Hose und die Neugier in meinem Bauch kitzeln. Ganz so, als sei ich allein Zuhaus'.

Überall um mich herum wird gevögelt. Neben mir, hinter mir, über mir. Ich bin Schriftsteller denke ich mir. Stülpe mir diese Berufsbezeichnung über wie ein schützendes Tuch und mache mir mentale Notizen. Dabei interessieren mich die vögelnden Gruppen mehr als die vögelnden Paare. Die Erfahrenen Clubgänger, mutmaße ich, spüren es wahrscheinlich schon nahezu präkognitiv sich ankündigen, wenn eine Frau ihr Okay zu einem solchen Intermezzo aussendet. Gieren sehnsüchtig nach Gang-Bang-Gelegenheiten. Trauben aus gierigen, ungeduldigen Männern entstehen und die Frauen liegen dort wie eine Bienenköniginnen, entscheiden über Ja und Nein. Erleben einen beinahe religiösen Trance-Zustand des vollkommenen Kontrollverlustes.

Und nachdem ich mich von all diesen Eindrücken habe verprügeln lassen, nachdem mein Geschlechtsteil sich gegen mich verschworen hat, nachdem die Welt dort draußen nur noch eine vage Erinnerung ist, sagt meine Begleiterin zu mir: »Ich glaub', ich hab genug für heute.«

 

Wir verlassen den Club. Die Welt, die ich jetzt betrete, ist nicht mehr dieselbe. Die Straßen sehen »merkwürdig« aus, obwohl es genau die gleichen sind, wie vor ein paar Stunden noch. Sie sind unwirklich geworden. Überhaupt sind Realität und Wirklichkeit nur noch zwei deformierte Gebilde.

Minuten später sitze ich in der U8 auf dem Weg nach Neukölln. Völlig fertig. Erschlagen. Körperlich, psychisch und geistig. Die Normalität, durch die ich alltäglich wandele, sie verstört mich auf einmal. Ist irgendwie nicht mehr »richtig«. Ich schaue nach links, schaue nach rechts, wundere mich, dass die Leute nicht einfach vögeln, wäre nicht überrascht, wenn sie es täten. Hier in der U8. Warum auch nicht? Ist doch egal. Was ist denn unser soziales Miteinander, außer eine komplexe Systematik aus Grenzen und Privilegien, die Handlungen und Möglichkeiten in eine Ordnung bringt? Grenzen, die wir selbst – als Menschen – gezogen haben, um uns in ihnen zu bewegen, und die wir auch selbst problemlos übertreten können wie den weißen Streifen auf einer Fahrbahn.

Etwas aus dem KitKatClub muss mir gefolgt sein, sich an mich geheftet haben. Wie ein finsterer Dämon. Mir ist, als könnte ich in dieser Welt hier draußen nur noch mit großer Anstrengung funktionieren. Ich habe gesehen, was sein kann, habe erlebt, dass diese Welt hier nicht so sein muss, wie sie ist.

Die Erfahrungen, die ich machen, die Bilder und Eindrücke, die ich sammeln wollte – ich habe sie alle bekommen. Habe sogar feststellen dürfen, dass meine Fantasie in Bezug auf den geplanten Roman einiges davon vorweggenommen hat. Aber in die Menge der Erfahrungen hat sich eine Reihe unerwarteter Selbsterfahrungen eingeschlichen, die ich ohne den KitKatClub niemals hätte machen können. Dafür muss ich ihm und den Menschen darin danken. Ganz ernsthaft.

Und die letzte Erfahrung, die ich an diesem Abend machte, war eine, die ich bis jetzt noch nicht ganz verstehe. Es ist merkwürdig, da ich normalerweise ganz anders bin. Denn das letzte, was ich heute Nacht wollte, war, allein zu sein.

Maik Gerecke

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ZZZ 9/12 | Petrus Akkordeon

herr petrus akkordeon wurde am 27.september.1971 in berlin steglitz geboren. neben unzählbaren bildern und zeichnungen, graphiken, objekten und aktionen schreibt herr akkordeon auch. seine texte vertreibt er auf unterschiedliche weise. in verschiedenen verlagen  hat er drei dutzend bücher veröffentlicht. zum teil vom ihm geschrieben und zu einem teil von ihm illustriert. studien der philosophie, psychologie,religionswissenschaften an der fu-berlin und sehr lange kunst an der hdk.berlin bei f.w.bernstein

Petrus ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "wer rollt den stein" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.

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komm komm komm
wir zerstören die stadt
wie losgerissene einhörner
und staub
bedeckt alles
und staub
schütteln wir
aus unseren echsenpanzern
und wieder staub
wenn wir uns grausam
küssen
das unsere geweihe brechen
es rieselt
meine liebste
dein pony
die katze minka sowieso
sitzen auf einer
immergrünen weide
amseln lächeln
und die leute
vegessen
die stadt


 

portrait petrus sw

der morgen riecht nach sandelholz
und er möchte kirschblüten würgen
soviel von zuviel
und der tod
kuschelt sich dichter
er riecht nach kater
und ist eigentlich sehr schön
ein weiteres jahr gefressen
und ratten
flügelschlagsexplosionen
und ich wache auf
eine schneeflocke schmilzt
und zwischen den dörfern
alles nur schwarzer nebel
ich möchte
das ende der welt
in das amaturenbrett
deines autos kratzen
lasse es aber
wird, wenn ich recht habe,
niemand lesen

 


Jahresrückblick 2016 - Teil 3: das liebe Geld.

Jetzt haben wir uns aber lange genug davor gedrückt. Nach dem Rückblick auf das Geschehen und die Webstatistiken jetzt auch mal ein Blick auf die Finanzen. Wer bezahlt das eigentlich alles?

Fangen wir gleich damit an: Woher kommt das Geld?

  • Kulturabteilung der Stadt Salzburgt: 1600,-
  • Kulturabteilung des Landes Salzburg: 1600,-
  • Studenvertretung Germanistik Salzburg: 2000,-
  • Bundeskanzleramt (Zeitschriftenförderung): 1600,-
  • Buchverkauf (online): 365,-
  • Buchverkauf (offline): 280,-

Das bedeutet, wir hatten ein Budget von rund 7200 Euro (einzelne Lesungen, die extra Förderungen erhielten, mal ausgenommen) um das Jahr zu bestreiten.

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Aber wofür haben wir es ausgegeben?

Da wären zunächst mal die unvermeidlichen Druckkosten von über 8600,-

  • Buchdruck: 2550,-
  • Zeitschriftendruck: 5520,-
  • Druck Öffentlichkeitsarbeit: 550,-

Dann sind uns Honorare für Lesende sehr wichtig. Sie schlagen mit 350,- recht niedrig zu Buche - das liegt aber daran, dass fast alle Lesungen (studentINNENfutter, KulturKeule, Wissenstage, Kritische Literaturtage etc.) extra Finanzierungen hatten, die jeweils zu 100% an die Autor*innen weitergegeben wurden.

  • Geburtstagslesung: 150,-
  • Lesereise: 200,-

Und dann kommen die Kosten, die man gerne vergisst - immerhin auch nochmal 2575 Euro.

  • Öffentlichkeitsarbeitsausgaben: 830,-
  • Versand: 720,-
  • Lesereisekosten (ohne Honorare): 560,-
  • Spesen: 340,-
  • Büromaterial: 125,-

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Was haben wir 2016 gemacht?

  • 4 Ausgaben der Zeitschrift mit über 100 Texten von mehr als 60 Autor*innen
  • 7 Auflagen von 5 Büchern mit Texten von insg. mehr als 40 Autor*innen
  • 12 Lesungen mit insg. mehr als 60 Autor*innen
  • Online-Veröffentlichung von mehr als 150 Texten von mehr als 120 Autor*innen
  • 2 Buchmessen/Wissensveranstaltungen
  • 1 Festival

201611_Kritische Literaturtage_ARGEkultur_(c) Josef Kirchner (4)

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Was haben wir 2016 gearbeitet?

  • Zeitschrift: 468 Stunden
  • edition mosaik: 132 Stunden
  • Online-Publikationen: 156 Stunden
  • Distribution: 384 Stunden
  • Öffentlichkeitsarbeit: 372 Stunden
  • Veranstaltungen: 180 Stunden

Diese 1692 Stunden verteilen sich zu knapp 90% auf zwei Personen (70% Josef, 18% Sarah, 12% Sonstige) und sorgen für ein durchnschittliches Arbeitspensum von insg. gut 32 Stunden pro Woche. Dass jede einzelne dieser Arbeitsstunden unbezahlt ist, versteht sich ja von selbst...

Warum ist das interessant? Weil wer oben mitgerechnet hat, stellt fest: Die Ausgaben von 11525 Euro übersteigen die Einnahmen deutlich. Dieses Minus von etwas mehr als 4300 Euro wurde (von uns selber) privat getragen - zusätzlich zur geleisteten kostenlosen Arbeitszeit.

Dass es so nicht weitergehen kann, scheint klar. 2017 wird sich einiges ändern. Wir kämpfen weiterhin für die Finanzierung von Projekten wie dem unseren. Literatur, Kunst und Kultur braucht Wertschätzung - auch finanzieller Natur. Dass aber jemals nicht nur die Autor*innen sondern auch die Grafiker*innen, Organisator*innen, Öffentlichkeitsarbeiter*innen, Redakteur*innen, Lektor*innen etc. entsprechend abgegolten werden können, bleibt wohl eine Utopie.

Wer weiterlesen möchte: Idealismus und Kulturpräkariat.

Alle Zahlen sind gerundet. Ausgaben und Einnahmen von Lyrik für Alle sind ausgeklammert.


In Cowboystiefeln auf Bob Dylans Couchtisch springen - zum 20 Todestag von Townes Van Zandt

Am 1. Jänner 2017 jährte sich der Todestag von Townes Van Zandt zum 20. Mal. Grund für Andreas Haider, einem seiner musikalischen Vorbilder einen Artikel zu widmen.

„Ich denke nicht, dass alle meine Lieder so traurig sind. Ich habe ein paar, die sind nicht traurig – die sind nur hoffnungslos.“ – Townes Van Zandt

Am 1. Jänner feiern gleich zwei ganz große der Country Music ihren Todestag. „Feiern“ ist ja, wenn es ums Sterben geht, nicht gerade der gelungenste Ausdruck, aber für diese beiden Musiker passt er. Denn sowohl Hank Williams (17.09.1923 - 1.1.1953), viel mehr aber noch  Townes Van Zandt (7.3.1944 - 1.1.1997), besangen in ihren Songs die Bitterkeit des Lebens, aus der wohl nur der Tod die ersehnte Erlösung bringen kann. Und natürlich diverse Suchtmittelchen. So starb Hank Williams auf dem Weg zu einem Konzert auf dem Rücksitz seines Cadillacs an einer Mischung aus Alkohol, Schmerzmitteln und anderen Medikamenten. Und auch Van Zandt war Zeitlebens dem Suff und anderen Substanzen nicht abgeneigt.

https://youtu.be/AjGOxo0KDMs

 

Townes Van Zandt wurde am 7. März 1944 geboren, hinein in eine der „First Families“ von Texas.  Das gilt sowohl historisch, als auch gesellschaftlich. Seine Vorfahren siedelten sich irgendwann im 18. Jahrhundert in Texas an, zu einer Zeit, als das Gebiet noch Teil des spanischen Kolonialreich war. Eines der texanischen Countys (vergleichbar mit einem Landkreis in Bayern oder einem Gau in Salzburg) wurde nach der Familie Van Zandt benannt. Und seine Vorfahren machten richtig Geld, mit allem, womit man in Texas reich werden konnte: Land, Rindern und Erdöl; waren Politiker, Offiziere, Philanthropen. Beste Voraussetzungen für Townes, in eine große Zukunft zu starten.

 

Als Kind kam er auf ein Elitemilitärinternat, mit dem Ziel, Berufsoffizier zu werden. Und seine Schulzeit stellte die Weichen für sein zukünftiges Leben, doch in eine ganz andere Richtung, als erhofft. Im Internat machte er nämlich, mit Klebstoffschnüffeln, erste Suchterfahrungen. Einmal sprang er während einer Party von einem Balkon im vierten Stock eines Hochhauses, angeblich nur, um zu spüren, wie es sich anfühlt, zu fallen. Die besorgten Eltern brachten ihn in die Psychiatrie. Dort wurden eine bipolare Persönlichkeitsstörung und Suizidgefahr diagnostiziert. Behandelt wurde Townes mit der damals gängigen äußerst brutalen Insulinschocktherapie. Sie hatte zum Ergebnis, dass Townes seine Kindheitserinnerungen verlor, am Ende der „Therapie“ erkannte er nicht einmal mehr seine eigenen Eltern. An eine Offizierskarriere war nicht mehr zu denken.

 

Als Kind bekam Townes von seinem Vater eine Gitarre geschenkt, unter der Bedingung, dass er dessen Lieblingslied, Bobby Helms‘ „Fraulein“, lernen müsste. Townes hielt sein Versprechen. Sein erster öffentlicher Auftritt war noch als Schüler, während eines Schulballs. Er brachte sich das Instrument selber bei, orientierte sich dabei hauptsächlich am Stil des Bluesmusikers Lightnin‘ Hopkins. Was die Lyrics betrifft waren Hank Willams und Bob Dylan Van Zandts Vorbilder. Was sich in seinen poetischen Balladen mit ausdrucksstarken Metaphern niederschlug, begleitet mit dem ihm eigenen Flatpicking. Um 1965, Townes Van Zandt hatte geheiratet und war mit seiner ersten Frau nach Houston gezogen, begann er dort in Clubs aufzutreten und seine eigenen Lieder zu schreiben. Wenig später nehm er auch die ersten Schallplatten auf. Die Studioalben gingen in ihren Arrangements, das seine düsteren Texte mal mit dissonanten Streichern, mal mit Hornpassagen oder einsam im Wind verhallenden Mundharmonikaklängen unterlegte, weit über typische Country-Music hinaus.  Es sind jedoch seine Live-Alben, die den authentischen Townes Van Zandt zeigen, der zwischen seinen Songs Anekdoten und Witze bringt und seine Songs ganz alleine, nur mit der gezupften Gitarre, vorträgt. Als sein wichtigstes Album zählt bei Fans und Kritikern „Live at the Old Quarter“

 

Erfolg, darin sind sich alle, die Townes persönlich kannten einig, bedeutete ihm nicht viel. Der Schlagzeuger Leland Waddel, der Van Zandt in den Siebzigern besuchte, erinnert sich: „Townes war erfolgreich, hatte ein paar gute Alben rausgebracht. Ich dachte, er hätte ein tolles Haus, mit ein paar schicken Autos vor der Tür. Als wir dort ankommen, sehen wir einen ollen Wohnwagen ohne Fenster, keine Möbel, eine Matratze im Schlafzimmer, eine Couch und ein paar Hühner, die herumlaufen. Da wusste ich, dem geht’s um die Musik.“ Steve Earle, für den Townes Van Zandt väterlicher Freund und Mentor war, meinte in einem Interview, dass das auch der Hauptgrund wäre, warum er, trotz seines musikalischen Genies, nie ein Megastar wie Johnny Cash, Bob Dylan oder Willie Nelson wurde. Ihm fehlte es einfach an Ehrgeiz. Steve Earle kann ich in Zusammenhang mit Townes Van Zandt natürlich unmöglich erwähnen, ohne sein berühmt gewordenes Zitat zu bringen: „Townes Van Zandt ist der beste Songwriter in der ganzen Welt, und ich würde in meinen Cowboystiefeln auf Bob Dylans Couchtisch springen, und das wiederholen!“  - Van Zandt entgegnete übrigens lakonisch: „Ich kenne Bob Dylan. Und ich kenne seine Bodyguards. Ich glaube nicht, dass Steve auch nur in die Nähe von Dylans Couchtisch kommt.“

 

Den Erfolg hatten andere, mit Coverversionen. Willie Nelson und Merle Haggard etwa mit „Pancho And Lefty“ (wohl Van Zandts größter Hit). Im offiziellen Musikvideo dazu hat Townes Van Zandt sogar zwei Cameo-Auftritte (einmal als mexikanischer Offizier und in der Schlussszene als er selbst). Emmylou Harris coverte „If I Needed You“, die Cowboy Junkies „To Live Is To Fly“, Bobby Bare „White Freight Liner Blues“, Norah Jones „Be Here To Love Me”; Steve Earle verlässt die Bühne nie, ohne mindestens einen Song seines langjährigen Freundes gesungen zu haben. Sogar Nobelpreisträger Bob Dylan coverte „Pancho And Lefty“.

 

Die Liste der Musiker, Musikerinnen und Bands, die Townes Van Zandt als Vorbild, Einfluss oder Inspirationsquelle nennen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Im Laufe der Jahre beriefen sich eine Menge Künstler und Künstlerinnen aus Country, Folk, Blues, Singer/Songwriter, Grunge, Metal, Rock, Pop, Jazz usw. auf Van Zandt. Als sich in den 1980er Jahren die Americana- und Alternative-Country-Szene bildete, wurde er rasch als Vordenker und Idol dieses Stils erkannt.

 

Kurz vor seinem Tod hatte sich Van Zandt die Hüfte gebrochen. Statt den Bruch aber behandeln zu lassen, ließ er sich im Rollstuhl ins Tonstudio fahren, um ein Album aufzunehmen. Um trotz der massiven Schmerzen singen und Gitarre spielen zu können, füllte er sich mit Unmengen an Alkohol und Schmerzmittel ab - eine schaurige Parallele zum eingangs erwähnten Hank Williams. Die Aufnahmen dieser Session - sie sind teilweise im Dokumentarfilm „Be here to love me“ zu hören - zeigen einen Townes Van Zandt, der immer mehr die Kontrolle über sich selbst verliert, lallt, ausfällig wird. Irgendwann reichte es dem Produzenten und er ließ die Session abbrechen. Erst danach wurde Van Zandt ins Krankenhaus eingeliefert, wo seine Hüfte endlich operiert wurde. Nach dem Eingriff fiel er zeitweise ins Delirium, als er sich aber wieder einigermaßen stabilisiert hatte, wurde er auf eigenen Wunsch entlassen. Seine dritte Ex-Frau, zu der er nach wie vor ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, kümmere sich um ihn. Am Morgen des 1. Jänner 1997 fand ihn sein Sohn Will leblos auf dem Sofa liegend. Auf den Tag genau 44 Jahre nach seinem Vorbild Hank Williams starb Townes Van Zandt an Herzversagen.

Die Schlusspointe gebührt Van Zandts langjährigem Freund Guy Clark (der selbst erst letzen Mai verstorben ist). Der nie um einen Scherz verlegene Clark sang bei der Beerdigung und bemerkte, als er sich die Gitarre umschnallte: „Für diesen Gig wurde ich schon vor dreißig Jahren gebucht.“

Andreas Haider


Jahresrückblick 2016 - Teil2: Webstatistiken

Haben wir eigentlich schonmal gesagt, dass ihr der Wahnsinn seid? Nicht?! Dann wird es höchste Zeit. Die Statistiken des Jahres auf mosaikzeitschrift.at

Fangen wir mit dem Neuesten an: Ihr habt uns wieder mal eines besseren belehrt. Feierten wir noch Ende November den "stärksten Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnungen", so legt ihr im Dezember noch einen drauf und beschert uns das schönste Weihnachtsgeschenk überhaupt: euer Vertrauen.

So sah es im Jahresverlauf aus:

Statistik

Insgesamt zählen wir 2016 mehr als 43 000 Besucher auf mosaikzeitschrift.at. Dazu kommen dann nochmal etwa 6000 Besucher auf lyrikfueralle.at, die wir hier mal nicht eingerechnet haben. Um unser Selbstvertrauen zu stärken gleich mal diese Übersicht:

Statistik2

Wie seid ihr zu uns gekommen?

Facebook führt nach wie vor unangefochten, gefolgt von Suchmaschinen. Jedoch: google.de hat erstmals google.at überholt. Btw: Eigentlich benutzt ja jede*r eine jener alternativen Suchmaschinen um das böse böse Google zu vermeiden. Ja eh. Nur nicht um uns zu finden...

Und wenn ihr genug hattet (durchschnittlich nach 1-5 Minuten), seid ihr weitergegangen. Zu Facebook (eh klar), aber spannenderweise auf Platz 2: Zu den Kolleg*innen der metamorphosen. Auch dahinter folgten einige Zeitschriften und Preise, was uns zeigt, dass der Überblick über weitere Einsendeschlüsse durchaus Sinn macht. Wir werden da in Zukunft verstärkt dran arbeiten. Versprochen!

Was hat euch am meisten interessiert?

Geht man nach den Download-Zahlen, so die Leseproben von

Geht man nach den Verkäufen, dann liegt auch Alke Stachler vorn,

verweisen die anderen jedoch auf die Plätze. Am Ende der Liste findet sich mosaik18 (print), mosaik21 (eBook) und die Audioaufnahmen von dünner ort (zu Unrecht, wie wir meinen).

Spannend auch: eure liebsten Seiten und Beiträge. Bei den Seiten haben wir ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Adventmosaik und der Ausschreibung zu roll.

Der stärkste Tag war allerdings der 20.12. - an diesem Tag besuchten uns mehr als doppelt so viele als am zweitstärksten Tag im Dezember. Aber: Meistgelesener Text des Advent-mosaik war jener von Pega Mund am 1.12. - damit ist das auch der stärkste literartische Beitrag des Jahres.

Zum ersten Mal ist in diesem jahr jedoch eine Rezension häufiger angeklickt worden als jeder literarische Beitrag.

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unsere Lieblingskategorie: Eure Suchanfragen.

Was tippt ihr denn so oben rechts rein? "mosaik", "Lyrik für alle", "freiTEXT" - alles erwartbar. Erstmals hat heuer jedoch ein Autor bei den Suchanfragen die Nase vorn.

Und dann gibt es da noch die Liste, die wir uns nicht erklären können. Seid ehrlich: Ihr macht das nur um am Ende des Jahres hier aufzutauchen, oder?

Unsere Hitliste 2016:

  • "literaturwettbewerbe dunkle energie"
  • "fliesen mosaik weihnachtl" (Anm.: ist das Advent-mosaik gemeint?)
  • "literatur und religion und kultur"
  • "fickpalme" (kam auch tatsächlich mal in einem Text vor)
  • "kaugummi aus fußmatte kauen"

 

Damit entlassen wir euch in ein spannendes neues Jahr. Danke, dass ihr uns die Treue haltet. Macht das weiterhin - wir werden euch nicht enttäuschen. Nur soviel sei verraten: Bald - sehr bald - wird sich einiges ändern hier...

(c) Fritz Æwert
(c) Fritz Æwert