So oder anders
Sie bleibt stehen.
Die Bäume sind grün geworden, es muss in den letzten Wochen passiert sein, sie weiß es nicht, plötzlich Blätter. Die Sonne rutscht über den grauen Asphalt. Seine Haare sind rot.
Was weiß sie über ihn?
Er mag keine Eier, er will, das hat er dem mit dem Leberfleck gesagt, nichts essen, was jemandem aus dem Arsch gekrochen sei. Als er klein war, trat seine Mutter auf sein Lieblingsmatchboxauto. Mit Absicht. Er raucht Gauloises (sie freut das, es kommt ihr besser vor als Camel, sie hat sich oft vorgenommen ihn nach einer Zigarette zu fragen, er könnte ihr Feuer geben, seine Hand an ihrem Gesicht. Sie schafft es nie).
Er hat Sommersprossen im Halsausschnitt. Er hat keine Tätowierung auf den Oberarmen. Er ist gut. Sie nur manchmal, es gibt immer zu viel andere Dinge, außerdem ist sie faul, war sie schon immer.
Das Wichtigste, denkt sie oft, das fehlt. Das weiß sie nicht. Sie mutmaßt nur, und Mutmaßungen helfen nicht.
Jedes Mal stand es in ihrem Zeugnis, tut zu wenig, könnte mehr, so ein langweiliger Satz. Jedes Mal wartete sie auf die neue Formulierung, die nie kam; ein einziges Wort anders, das hätte schon gereicht.
Sie glaubt nicht, dass er jemals solche Sätze in seinen Zeugnissen gefunden hat.
Die erste Woche, sie hat es aufgeschrieben, aber sie hätte es auch so behalten, das erste Mal regnete es. Ihre Haare waren ein bisschen feucht. Sie saß ganz hinten, sie sitzt immer hinten, die Wand kühlt die Schultern, wenn man in der letzten Reihe sitzt. Und keiner kann auf ihren Hinterkopf starren. Sie hat den noch nie gemocht. Wenn sie als Säugling, gleich am Anfang, in den Spiegel geschielt hätte, sie hätte das da schon gefunden. Was für ein hässlicher Hinterkopf. Im Spiegel bekommt man kaum ein richtiges Bild davon, aber auf Fotos ist es eindeutig. Als hätte man ein Stück abgemeißelt.
Sein Kopf ist komplett. Schon deshalb kann sie ihn nicht ansprechen.
Sie steht da, sie fühlt genau, wie groß ihre Augen sind, der Straßenlärm hält nicht mit. Ihr ist ein bisschen übel.
In seinen Kopf passt also viel hinein. Auf der Liste hat sie seinen Namen gesucht, sie zählt die Leute ab zwischen ihm und ihr. Sie macht es jede Woche. Sie hat sich vorgetastet, eine Reihe, dann zwei, meistens sitzt er im vorderen Drittel. Sie hat die Wand verlassen. Sie kommt nicht immer auf denselben Namen, manchmal unterschreibt jemand nicht, das stört das System. Aber es gibt Wahrscheinlichkeiten.
Es gibt, denkt sie, hinübersehend, Wahrscheinlichkeiten.
Sie hat ihn ein einziges Mal berührt. Er stellte sein Tablett neben ihres auf das Band, sie drehte sich zu schnell um, er entschuldigte sich freundlich, er ging sehr schnell weg. Sie stand und beobachtete seine Nudelreste beim Verschwinden. Sie traute sich nicht.
Heute ist sie zu spät. Das erste Mal. Sie stimmt sich immer mit ihm ab, das weiß er nicht, aber sie geht immer direkt nach ihm in den Raum. Er ist ein pünktlicher Mensch. Oder das Thema interessiert ihn sehr. Oder beides.
Inzwischen sitzt sie direkt hinter ihm, ihm und dem mit dem Leberfleck, der immer dabei ist. Sie mag den mit dem Leberfleck nicht, aber er ist wichtig. Sie hört ihnen zu, manchmal schreibt sie etwas auf, zwischen die Zahlen. Er könnte es merken. Es kann sein, eines Tages dreht er sich um und fragt sie, warum sie sich immer hinter ihn setzt.
Was sie dann tun wird, weiß sie nicht.
Sie hat überhaupt immer das Gefühl, dass sie angestarrt wird. Wenn sie die Treppen zu ihrer Wohnung hochgeht, bedeutet jedes Stockwerk eine Pause. Schon seit einiger Zeit kauft sie fast jeden Tag ein, es sind dann viel kleinere Mengen. Sie geht in verschiedene Läden.
Wenn es also nicht der Hinterkopf ist, das kann sie sich problemlos ausmalen, dann ist es das. Er kann sie so nicht wollen. Sie würde es selbst nicht.
Die Sommersprossen an seinem Hals hat sie schon gezählt, wie oft, weiß sie nicht, oft. Die Anzahl hat sie aufgeschrieben. Überhaupt wird sie die Vorlesung nächstes Semester wiederholen müssen.
Seinetwegen, denkt sie. Das Wort gibt allem einen guten Klang.
Sie sieht, wie er sein Fahrrad an den Plakaten vorbeischiebt, wie er sich die Haare aus der Stirn holt, wie er den anderen ausweicht.
Deshalb muss sie stehen bleiben. Sie sieht.
Ihn zu küssen stellt sie sich nie vor. In ihrem Studiengang gibt es nicht viele Frauen. Und keine, die so sind wie sie. Man hat sich gewundert, was willst du denn damit, wenn es wenigstens Medizin gewesen wäre, als Mädchen. Sie hat die Familie jetzt schon eine Weile nicht mehr gesehen, nicht mal an Weihnachten. Sie will keine Fragen beantworten.
Sie denkt sich oft aus, wie sie ihn doch noch anspricht, in ihrem Kopf ist es einfach, in ihrem Kopf ist es real. Sie könnte ihn nach seinen Unterlagen fragen, falls er ihr keine Zigarette geben will. Er sollte es jedenfalls nicht. Sie war da allerdings noch nie gut drin. Verantwortung ist keins ihrer Wörter, es gehört nicht zu ihr. Sie hat also Angst.
Ob es darum mit dem letzten nicht geklappt hat, weiß sie nicht. Wenn sie versucht ihn zu erinnern, dann springen die roten Haare dazwischen. Es hätte viel mehr sein können. Mit hätte kommt man nicht weiter. Mach das nicht, hat er immer wieder gesagt, es war ihm wichtig, aber sie kann nichts dafür. Mach das nicht, es passt nicht zu dir, er hat sie gebeten. Dass sie da hingeht, dass es aus der Welt ist. Wegmachen. Er hat ihre Wörter auch gekannt. Seine Nachrichten bleiben unbeantwortet. Sie haben einfach aufgehört sich zu sehen.
Vielleicht, denkt sie, ist der Rothaarige nur da, weil sie letztes Jahr nicht richtig zugehört hat. Dabei glaubt sie gar nicht an Schicksale.
Sie sieht ihn, er ist fast vorbei, er braucht Monate, denkt sie, für diese kurze Strecke.
Sieh her, denkt sie. Sieh mich an. Er ist fast vorbei.
Als sie anfing, aus ihrer Kleidung zu platzen, hätte sie gern jemand anders in die Geschäfte geschickt. Es war keiner da. Vielleicht muss das so sein. Vielleicht braucht man das, aber wenn sie schöner wäre, wenn sie nicht so unförmig wäre, wie sie jetzt ist, dann könnte er sie bemerken. Sie hat sich noch nie überreden können.
Ihr Gesicht ist jetzt plötzlich in einer Schräglage. Es wird immer schräger.
Und er sieht sie an.
Der Krach in ihrem Kopf ist ganz zeitversetzt, der mechanische Krach, er ist hässlich. Die Bremsen tun in den Gehörgängen weh, etwas geht kaputt. Sie hört eine junge Frau schreien, es ist verwunderlich, denkt sie, dass jemand anders auch ihre Stimme hat. Sie würde gern überprüfen, ob ihre noch da ist, aber sie hat keine Zeit. Sie kann ihre Tasche sehen, wie sie sanft neben ihrem Gesicht auf die Straße klatscht. Das gehört da alles nicht hin, sie weiß das, sie ist sich sicher. Die Haut schürft über den Teer. Der Teer ist ziemlich warm. Dann hört die Bewegung auf. Sie schließt die Augen.
Als sie ein Kind war, hatte sie einen Hund. Er war klein und hässlich und gelb, ihre Eltern hatten nicht diskutiert, als sie vor seinem Käfig stehen blieb. Er kam überall hin mit. Nur in die Badewanne durfte er nicht, sie tat es heimlich, wenn sie allein waren. Sie tröstete ihn, wenn er sich nicht schön fand. Für sie war er schön, war seine Krummheit schön und sein Stummelschwanz und sein linkes Auge, das heller war als das andere. Sie war überzeugt, dass er alles verstand, was sie ihm in die verfilzten Ohren sagte.
Der Geruch nach Blut und Hundescheiße, als er überfahren wurde.
Die Arme und Beine da, denkt sie, die gehören ihr gar nicht. Man hat sie dort abgelegt, ohne sie zu fragen. Es sind so viele Menschen auf der Straße, es wird bald Sommer, bald werden sie mit ihrem Eis spazieren gehen. Ein Eis wäre jetzt gar nicht schlecht, der Geschmack kriecht über die Zunge. Ihr fällt ein, dass sie zu spät zur Vorlesung kommt. Das ist ihr noch nie passiert.
Es vergeht Zeit. Sie macht die Augen wieder auf, als sie etwas gefragt wird, sie reagiert. Jemand möchte das.
Sie denkt an seine Augen, es war etwas Komisches in ihnen, sie kommt nicht darauf, was es war. Sie wird hochgehoben und hingelegt. Sie macht die Augen ein zweites Mal auf.
Das ist, denkt sie, alles sehr freundlich. Sie würde gern aufstehen und gehen, irgendwo muss ihre Tasche sein, da sind alle ihre Unterlagen drin. Sie würde auch Finderlohn bezahlen, bestimmt hat sie jemand aufgehoben, es ist eine blaue Tasche, denkt sie. Der Reißverschluss ist an einer Stelle ausgefranst.
Sie würde gern gehen. Sie wagt es nicht, es scheint nicht vorgesehen zu sein. Jemand hat ihr etwas an den Kopf geklebt.
So sieht das also aus, denkt sie. Was war denn in seinen Augen, es fällt ihr nicht ein, das stört sie.
Der kleine gelbe Hund mochte keinen Schaum. Deshalb badete sie immer ohne, solange er da war. Es war ein echtes Opfer. Sie hat die Badekugeln ihrer Mutter sehr geliebt, sie hatten bunte Farben, giftbunt, sie rochen gut. Sie glitschten einem durch die Hand, wenn man sie ins Wasser hielt.
Sie würde sich gerne am Arm kratzen, auch das ist irgendwie nicht vorgesehen. Dieser hochgewölbte Bauch vor ihr, ihr Bauch, sie hält sich nicht damit auf. Sie würde gern etwas sagen. Jemand diskutiert, der Himmel, denkt sie, ist sehr blau heute. Es ist ihr nur selten passiert, dass man Dinge mit ihr macht, und sie ist nur einmal beim Arzt gewesen, das ist wie mit dem Rauchen und allen Verantwortungsdingen, denkt sie. Dann vergisst sie es.
Sie sieht ihn an.
Er sitzt neben ihr, hier ist nicht viel Platz, wie hat er das geschafft, denkt sie, sein Gesicht ist so nah bei ihr, dass sie es anfassen könnte. Sie will ihn fragen, wo er sein Fahrrad gelassen hat.
Sie lächelt ihn an, sie ist sicher, dass ihr ganzer Körper lächelt. Sie muss den Kopf nur wenig drehen. Er hat ihre Hand genommen, er isst keine Eier, seine Mutter hat sein Lieblingsauto zertreten, er raucht, er hat ihre Hand genommen. Matchboxautos, denkt sie, kriegt man doch gar nicht kaputt. Das Licht ist sehr hässlich, aber ihm kann es nichts anhaben. Er streichelt ihr Haar, sie ist verblüfft, dass er das gleichzeitig tun kann, dann fällt ihr ein, dass er ja zwei Hände hat.
Jemand sagt, dass dem Baby sehr wahrscheinlich nichts passiert ist.
Sie hört es nicht.
Ann-Christin Kumm
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