ZZZ 6/12 | Lea Wintterlin

Lea Wintterlin studierte Philosophie und Germanistik in Tübingen und Berlin. Sie besuchte regelmäßig Schreibkurse am Tübinger Studio Literatur und Theater und nahm 2013 am Autorenkolleg der FU Berlin bei Lukas Bärfuss Teil. Sie arbeitete in einem Waschsalon, als archäologische Grabungshelferin und seit 2015 als freie Rezensentin für das Philosophiemagazin.

Lea ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "Das Fahrrad" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.

 

Das Fahrrad

Manchmal habe ich das Gefühl, dass F sein Fahrrad mehr liebt als mich. Er kann sich noch genau an das Datum erinnern, an dem er es gekauft hat, aber der Tag, an dem wir zusammen gekommen sind, stellt ihn jedes Jahr wieder vor eine Herausforderung. Ich richte es meistens so ein, dass ich zwei Wochen, bevor es so weit ist, ab und zu davon spreche. Ich erwarte nichts Bestimmtes an unserem Jahrestag. Ich will gar keine Blumen oder Schokolade oder irgendein spezielles Abendessen oder so, alles was ich will ist ein kurzes Hochschauen aus dem ewigen Vorwärts des Alltagstrotts, ein Stehenbleiben vielleicht, ein Zur-Seite-gucken, wer da eigentlich neben einem läuft, wessen Hand man hält, ein kurzes „Hey, schön, dass du da bist. Schön, dass wir in diesem riesigen Leben aufeinandergetroffen sind, wir kleinen Mäuse, wir, wir beide.“ Ein kurzes Aufmerken. Mehr will ich gar nicht.

Der Tag, an dem F sein Fahrrad gekauft hat, war ein Donnerstag im Mai, der 24. um genau zu sein. So steht es in der Diebstahlversicherung, die er abgeschlossen hat. Seine größte Angst ist es, dieses Fahrrad zu verlieren. Es ist ein schönes Fahrrad, keine Frage, und teuer war es auch. Eines dieser neuen, hippen, ganz leichten, etwas altmodisch aussehenden Rennräder, mit so einem geschwungenen Lenker, wie heißt der denn gleich, nach irgendeinem Tier mit Hörnern. Ich mag das Fahrrad auch sehr, obwohl ich nicht darauf fahren kann, es ist zu hoch. Es gibt leider keinen Gepäckträger, auf dem F mich ab und zu mitnehmen könnte, alles Überflüssige wurde an diesem Fahrrad weggelassen, um Gewicht zu sparen. Es ist ganz leicht und F trägt es jeden Nachmittag, wenn er von der Arbeit kommt, nach oben zu uns in den vierten Stock, und jeden Morgen wieder herunter. Nachts steht es bei uns im Wohnungsflur.

Anderthalb Jahre ging es sehr gut mit dem Fahrrad. Wenn es Winter wurde, kaufte F sich Anstecklichter und dickere Reifen mit mehr Profil. Jedes Vierteljahr ölte er die Kette nach. Manchmal muckte das Fahrrad auf, aber er fand immer irgendwie eine Lösung, ich weiß nicht genau wie, mit Fahrrädern kenne ich mich nicht gut aus. Er schraubte daran herum, fluchte ein bisschen bei uns im Flur, wo das Fahrrad umgedreht auf einer Menge Zeitungspapier stand und nachher wusch F sich die ölverschmierten Finger im Bad und alles war wieder gut.

Aber dieses Jahr im April geschah etwas völlig Verrücktes.

[...]

Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback


17 | Axel Görlach

n. - hommage an

meine stolze stadt platzt wieder
aus allen wursthautnähten, senfgesprenkelt
schlagen mäntel sich mit plastik
tüten durch zum glühweinstand

in meine stadt führen alle wege. zur zeit. meine stadt
ist nicht rom. meine stadt liegt nicht am meer. leider

doch in ihren buchten ankern
panoramabuskreuzer, bei flut
spült es hysterische mütter an
der hand hysterischer kinder
auf den weihnachtsmarkt, über meine stadt
fegen touristentsunamis

kyrie eleison! doch kein advent erbarmte sich je

am ende meiner flucht schimmert
auf den freiflächen mond
heller parks der einsame raureif unberührt
wie weißer sand auf atollen

über den ich wandle, der autobahnen ewiges
rauschen teile in rauschen & knacken
gefrorener hundekacke unter den camel boots

Axel Görlach

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16 | Fabian Lenthe

Vorbei an den Lichtern
Den Massen nach
Nelken und Tanne riechend
Verpackte Wünsche
Zwanzig Prozent billiger

Nicht zum erfüllen
Zum aufreißen und
Wegwerfen zum
Nächstes Jahr wieder und
Vielleicht ein wenig mehr und billiger und

MENSCH!

War das wieder schön hier?!
So besoffen von Tanne und Nelken die
Blauen Flecken stören kaum

Fabian Lenthe

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15 | Doris Leeb

So sche is jeds Joah

I muas nu schnö
An Glühwein kochn
Keksl bocha
A Geschenk fian Onke Fritz kaufn
An Bam umschneidn
D’Wiaschtlsuppn zuwe stön
Des oane Weihnochsliadl owalodn
D’Kerzn ozündn
S’Glockal laitn

U
N
D

IAZ HOMA DIE BESCHERUNG

Na sooo scheeee.
Jeds moi wieda.

Doris Leeb

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14 | Katrin Theiner

Taximann

Ich fahre immer über den Stern. Jeden Morgen. Erst die Zigarette an der Siegessäule weckt mich auf. Seit 15 Jahren umrunde ich die Goldelse und dann geht es rechts ab nach Moabit, einen Stammkunden abholen – eine ganz arme Sau. Geschäftsmann. Schlaganfall. Ich bringe ihn zur Tagespflege. Kurz vor dem Haus in dem er wohnt, ist meine Tankstelle. Ich tanke voll, laufe geduckt durch die anhaltende Schlechtwetterfront und kaufe im Shop Zigaretten und einen Schwamm. Morgens, wenn ich den Motor starte und die Belüftung angeht, steigt dieser Geruch in meinen Benz. Heizung, kalter Rauch, belegte Brötchen und der klamme Dunst vieler Fahrgäste. Als hätte jeder von ihnen etwas zurückgelassen. Irgendwie motiviert mich das. Radio an, Scheiben wischen, Rückwärtsgang, los. Bald kann ich die goldene Viktoria auf ihrer Säule sehen. Sie ist so etwas wie eine Arbeitskollegin geworden. Und die Erste, die mich morgens begrüßt. Jedes Mal versuche ich so lange wie möglich ihr Gesicht anzusehen. Als würde dort eine Regung kurz bevorstehen. Wir kennen uns eben verdammt lange.

Der Geschäftsmann sitzt festgeschnallt in meinem Auto und gibt komische Laute von sich. Er trägt einen gelben Jogginganzug und weiße Sportschuhe. Seine Frau hat beim Abschied geweint. Ob er sie noch erkenne, wisse sie nicht. Ihm wird kalt sein. Ich öffne meine Lederjacke, drehe die Heizung höher. Der Rückspiegel umrahmt seine gesunde Gesichtshälfte. Schon von weitem sehe ich seine Pflegerin. Ich bremse, damit der Matsch nicht auf ihren Kittel spritzt. Mit laufendem Motor bleibe ich stehen und ziehe die Silberfolie in langen Stücken von meiner Schrippe. Die Heizung nimmt den Geruch von Kochschinken mit und pustet ihn durch den Innenraum. Beiße ab, muss weiter. Der Bus ist heute pünktlich und mit ihm das Radio-Programm: „Verdamp lang her“. Wie fast jeden Tag. Die Stimme nervt, der Akzent ist wunderbar.

Von hier fahre ich zum Alex. Immer. Wohin mich die Fahrgäste schicken, bestimmen sie, von wo es losgeht, ich. Mir gefällt die Mischung aus Routine und Unvorhersehbarem. Nach 19 Jahren am Lenkrad, erkenne ich die drei Taxi-Typen sofort. Es gibt die Gestressten: Sie haben nicht damit gerechnet, plötzlich in einem Taxi zu sitzen. Irgendwelche Umstände zwingen sie, bei mir einzusteigen. Sie winken hektisch, reißen ruckartig die Tür auf und nennen atemlos ihr Ziel. Meist sitzen sie hinten, krallen sich an die vorderen Kopflehnen und würden am liebsten selber fahren. Jede rote Ampel ist eine Zerreisprobe für ihre Nerven. Sie kramen in ihren Portemonnaies, noch bevor wir das Ziel erreicht haben und geben wenig Trinkgeld.

Ich lasse die Waschmaschine rechts liegen und fahre weiter durch den Wintermorgen. Die Scheibenwischer geben den Takt vor, Niedecken den Text.

Wenn Kinder bei mir mitfahren, begucken ihre kleinen Gesichter staunend die Stadt. Ich habe keine Kinder. Das passte einfach nicht. Meine Kunden sind meine Familie. Und dazu die Goldelse, der Konrad auf dem Adenauer Platz, Prinz Albrecht an der Schlossstraße und das Steinmädchen auf der Wieck-Promenade. Im Auto sind mir die Routinierten am liebsten – Typ zwei. Weil sie so unkompliziert sind. Sie fahren oft Taxi und das merkt man ihnen an. Sie steigen meist vorne ein, nennen ihr Ziel und sind dann ruhig. Taxi fahren gehört zu ihrem Alltag, sie haben die wenigen Regeln verstanden und sind entspannte Beifahrer. „Von A nach B“ ist ihr Motto und das ist auch meins. Richtung Karl-Liebknecht-Straße ist eine Baustelle. Der Telespargel lässt die Häuser klein werden. Seine Spitze steckt in dicken Wolken. Da will ich jetzt hin. Zum Taxistand in Turmnähe. Am Alexanderplatz reihe ich mich ein in die Schlange von Taxen. Frühstückspause bei Santanas „Maria“ und leichtgeöffnetem Fenster. Kauend lasse ich mich nach vorne rollen und kauend nicke ich einer jungen Frau und ihrem Begleiter zu, die vor der Beifahrertür im Schneegestöber stehen. Sie bringen den Geruch von nassen Haaren und Kälte mit ins Auto und halten verschneite Rucksäcke auf dem Schoß. Er schnallt sich langsam an. Sie hat den Platz in der Mitte gewählt. Der Platz des Schlaganfall-Geschäftsmanns bleibt frei. Ich stelle mir die drei nebeneinander vor. Verrückt. „Nach Buch“, sagt der Typ leise. 18,3 Kilometer. Ich fahre los und sehe ihre Gesichter im Rückspiegel. Die Haut des Mädchens ist dunkel. Dicke, schwarze Brauen trennen ihre Stirn von der Augenpartie. Sie sieht müde aus, hat ein nettes Gesicht. Ihre Eltern werden aus dem Süden kommen. Spanien oder Griechenland. Was will sie mit ihm? Narbiges Gesicht, Bomberjacke, dunkelblaue Wollmütze. Für eine Glatze ist es wohl zu kalt, schießt es mir am Planetarium durch den Kopf. Ich folge dem Navi und genieße die Zeit, in der die Zwei unter meiner Beobachtung stehen. Sie starren schweigend ins Schneegestöber. Er greift nach seiner Mütze, nimmt sie kurz ab und im Rückspiegel leuchtet seine goldene Kopfhaut auf. Er streicht drüber, zieht schnell wieder die Mütze auf. Das eingefallene Gesicht wird noch nicht lange so aussehen. Seine Augen liegen tief, aber in ihnen glänzt es jung. Rostock- Lichtenhagen wird ihm sicher kein Begriff sein. Da war er ein Hosenscheißer. Ich tippe auf Mitläufer, aber das macht die Sache nicht besser.

Wir verlassen die Stadt nach Nord-Ost und nehmen die glatte A10. In 19 Jahren habe ich viele Glatzen gefahren. Früher habe ich diskutiert, heute nicht mehr. Ich bin Dienstleister, kein Pfarrer. Das Mädchen hebt die Hand und streichelt ihrem Freund über ein Tattoo am Hals. Von hier sieht es aus wie eine zerlaufene Umweltplakette. Er reißt den Kopf vor, fegt ihre Hand weg. „Lass“. Sie lehnt sich zurück, reibt sich die Augen. Musik an: Taxi-Hits. „Ich fahr Taxi. Ich fahr Taxi. Tag und Nacht. Der Job ist so mies, doch ich brauch den Kies.“

Ich beschließe, sie sind Typ drei. Nicht der klassische Typ drei, aber Typ zwei und Typ eins schon gar nicht. Sie sind schweigsamer, passiver, aber gehören zu den Korrekten. Die Korrekten fahren selten Taxi, planen ihre Fahrten und bemühen sich, die Regeln zu befolgen. Oft strahlen sie Unsicherheit aus, fragen vorab nach dem Preis. Sie sind aufmerksam, achten auf den Verkehr, auf mich. Sie sind sich darüber bewusst, in meinem Raum zu sein. Und hier passt man sich an.

Wir bewegen uns durch verschneite Felder. Frau Paradis singt mit zarter Stimme und es wird mir egal, ob sich die Glatze ihr Leben versaut. Um das Mädchen ist es schade. Wäre sie meine Tochter, würde ich ihr die Welt zeigen. Ich würde sparen, sie verwöhnen, um ihr zu erklären, man lebt doch nur einmal. „Vas-y Joe, Vas-y fonce.“

Am Karower Teich ist die Fahrbahn gefroren. Die Glatze hat die Augen geschlossen. Die Augenlider zucken unruhig. Ich tippe ihn auf Mitte Zwanzig. Was ihn wohl zu seiner Einstellung gebracht hat und dabei das hübsche Mädchen an die Hand zu nehmen? Berlin ist groß und täglich schwimmt die bunte Jugend über meine Rückbank. Aber die beiden sind besonders. Sie ist besonders schön, er macht mich wütend. Nach Micky Reinckes Kurztrip zum Eifelturm, spielt Fredl Fesl die ersten Akkorde seines Taxilieds. Ich hasse es. Nur wegen des Textes hat es einen Platz auf meiner CD. Bei so was bin ich konsequent.

Buch liegt vor uns. Der Schnee verdeckt die graue Platte. Es ist stickig. Die Glatze legt den Arm um das Mädchen. Ihre schwarzen Haare fließen in langen Strähnen über seine Jacke und verdecken die bunten Aufnäher. „An der Kirche vorbei“, sagt sie und taucht zwischen mir und dem Beifahrersitzt auf. Ich stelle das Navi aus. „Nächste rechts.“ Zwischen kargen Bäumen taucht ein beiger Gebäudekomplex auf. Mein Hals ist eng. Ich drehe Chapins Stimme leise. „It was somewhere in a fairy tale, I used to take her home in my car“.

Ich habe es plötzlich eilig, die beiden loszuwerden. „Links am Hauptgebäude vorbei“, sagt sie, zeigt durch die Windschutzscheibe. Er greift von hinten in ihre Haare und zieht sie immer wieder durch seine linke Hand, als würde er ein Haarband entfernen. Der große Parkplatz ist leer. Mit laufendem Motor bleibe ich stehen; eine Minute, die nicht endet. Ich schwitze. Ohne dass ich den Preis nenne, reicht sie zwei Zwanziger nach vorne und öffnet mit der anderen Hand die rechte Tür, den Oberkörper über ihren Freund gelehnt. Er schaut apathisch zu. Der Zähler zeigt 37,70 Euro. Dann verschwinden beide im Winter. Ich fahre an, drehe die Musik lauter. Westernhagen ist bei mir, als der Schnee alles verwischt: „Chemozentrum Berlin-Buch“. „Nun fahr schon los, ich will nach Hause, Taximann. Nun fahr schon schneller und halt nicht dauernd an“.

Katrin Theiner

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13 | Claudia Kohlus

advent 2016

Claudia Kohlus

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12 | Susanne Rzymbowski

Traumfänger 008

 „Schon wieder nichts! Ich weiß langsam nicht mehr was ich machen soll“, murmelte sich Traumfänger 008 in den Bart nach einer langen Nacht, die so schwarz, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sah.

Auch diesmal blieb sein Käscher leer, den er sich nun auf die Schulter packte und sich mit schweren Schritten im beginnenden Morgengrauen zurück in sein Traumschloss begab, wo nun schon der Putz abzublättern begann und der ehemals blühende Garten sich in eine Ödnis wandelte.

Was waren das früher doch noch für Jahre gewesen, in denen er vollbepackt nach Hause kam, sein Schloss hell erleuchtet, voller bunter Farben und der Garten so üppig, das er einem Urwald glich. Jetzt starb dieser langsam ab, von all den Monokulturen der vergangenen fruchtlosen Jahre, die 008 eingefangen hatte.

Ja ein Traumfänger hatte in der heutigen Zeit einfach keine Zukunft mehr! Zu gleichförmig die wenigen Fänge, die nicht mehr wachsen wollten.

Schleichend hatte der Prozess begonnen, so dass 008 die ersten Zeichen nicht erkannte, als die Träume begannen immer kürzer zu werden und langsam die Farben aus ihnen verschwanden. Schon die ganzen letzten Jahre musste sich 008 mit einzelnen Graustufen herumplagen, die zusehends dunkler wurden. Nur vereinzelt konnte er noch Beute machen, wenn er sich tagsüber auf den Weg machte, um kurze Sequenzen einzufangen, was recht schwer für ihn war, denn dies erforderte ein blitzartiges Zugreifen, was ihm nicht immer gelang.

Zuerst hatte er begonnen die Einkaufsmeilen abzugrasen, die mit ihren Klängen und bunten Neonleuchten, den ein oder anderen zu einem kurzen Tagtraum verführten, zumindest in den Anfängen. Leider blieb sehr bald auch hier nur noch ein Abschalten und gab für 008 einzig runde durchsichtige Blasen her, die sofort zerplatzten, wenn er seinen Käscher über sie zu stülpen versuchte.

Auch die Staukolonnen, auf die er sich spezialisierte, gaben kaum noch eine Ausbeute. Lag es an den immergleichen Tönen, die aus den Radios drangen oder doch eher an den nicht enden wollenden Telefonaten mit Tastaturgeklapper?

Kein Mensch schien mehr zu träumen. Die Augen waren geradeaus gerichtet und so trüb wie ein umgekippter Teich. Was sollte 008 nur machen? Er fing an in die Bibliotheken zu gehen, die spärlich besucht und erhaschte zumindest dort ein Bündel gelenkter Visionen. Ja, damit musste er sich mittlerweile zufrieden geben! Und selbst die Spaziergänger im Wald waren ausgerüstet mit Stöcken, Walkie-Talkies und Schrittzählern, die ein Verweilen unmöglich machten. Selbst in den Kindergärten fand er keine Träume mehr!

008 wurde über all dies immer trauriger und fing nun selbst an einem Schatten zu gleichen, zumal er nun rund um die Uhr auf den Beinen war, in seinem Bemühen einen Traum zu ergattern.  Auch musste er feststellen, dass es keine Bilder mehr gab, ganz so als ob diese von einer imaginären Hand ausradiert würden.

 Wie sollte 008 in seinem Traumschloss weiter existieren können bei dieser Entwicklung?

Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf und begab sich unter Anstrengung all seiner Kräfte immer wieder auf die Suche. Seinen Käscher bestückte er mit immer feingliedrigeren Maschen, damit selbst der noch so kleinste Traum nicht verloren ging.

Und als ob seine steten Bemühungen und seine Not erhört wurden, begab es sich, dass eine große Sonnenfinsternis sich über das Land legte und Tag und Nacht einfach verschlang, so dass selbst alle Energiequellen zum Stillstand kamen. Es war, als hätte sich ein Schalter umgelegt, der alles Bisherige lahm legte.

Die Menschen waren nun gezwungen ein Feuer zu entfachen, um so schutzlos sich selbst ausgeliefert, ein Licht zu erspähen. Und es geschah das Wunder: Im Prasseln der Glut, im Lodern der Flammen, im Knistern der Kerzen lud es sie wieder zum Träumen ein. Voller Freude und Dankbarkeit entzündete Traumfänger 008 daraufhin ein riesiges Feuerwerk, dass es nur so am Himmel blitzte.

Denn schließlich war es ja seine Aufgabe, das Denken zu bewahren!

Susanne Rzymbowski

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11 | Johanna Wieser

ich sah aus dem Fenster
und erwartete
etwas ganz anderes

Johanna Wieser

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ZZZ 5/12 | Arne Kohlweyer

Arne Kohlweyer wurde 1981 in Wolgast (Insel Usedom) geboren und wuchs in Berlin-Hohenschönhausen auf. Er studierte Filmregie an der FAMU in Prag, sowie zuvor Fotografie in Graz, Literaturwissenschaften in Frankfurt/Oder und Filmtheorie in Göteborg. Arne ist zweifacher Teilnehmer von Berlinale Talents und Alumni des Torino Film Labs. Er hat bereits mehrere Kurzfilme und TV-Auftragsproduktionen als Autor und Regisseur realisiert und werkelt gerade an seinem Langfilmdebüt.

Arne ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "Sandbankräuber" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.


10 | Nico Feiden

blaunachtschatten

zwischen diesen zeilen,
schneekuppeln außerhalb der fenster
der atmende wein,
dekantiert von aschefingern,
die an wortfetzen
verbrannter gedichte hängen
(auch im Winter will man nicht frieren)

der normadenmond
wandert von fenster zu fenster
in der blauschimmernden Bergennacht

die wege hinunter ins dorf
verscheint,
eiszackenkronen an den dachrinnen
verkünden die herrschaft
eines neuen königs
der herbst ist tot
lang lebe der winter!

meine küsse wehen
nicht mehr durch die
haare der huren
von neapel

ein rotschatten
entmündigt den abend,
im Korkweinboden des Glases,
man raucht die Nacht
bis zum Filter.

noch trinkt man den wein
dieses jahres
in zu schnellen schlücken
bis die mitternachtswende
ein vergangens jahr
auf das etikett schreibt

Nico Feiden

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