freiTEXT | Sylvia Hubele
Der Einzelhändler
Jetzt weiß ich, warum der Einzelhändler so heißt: Nicht etwa, weil er mit einzelnen Sachen handelt, mit Glühbirnen und Schokoriegeln, mit Hämmern und Streichhölzern. Nein, er steht mutter- und vaterseelenallein in seinem Laden. Er räumt und kramt in den Regalen, sortiert Suppentüten, pinselt den nicht vorhandenen Staub von sorgfältig sortierten Schrauben. Er ist allein. Einzeln und in Einzelhaft. Der Einzelhändler steht in seinem Laden einzeln herum, döst im Halbdämmer vor sich hin, träumt von reger Nachfrage und sammelt in den langen Pausen die Kraft und Energie, die er braucht, wenn er mal nicht alleine ist.
Auf der Straße gehen hin und wieder Menschen vorbei, doch kaum jemand dreht den Kopf und sieht auf die Pyramide von Suppendosen und das Aquarium, in dem zwei Guppys Verstecken zwischen den Wasseralgen spielen. Der kundige Einzelhändler wartet geduldig im hintersten, im dunkelsten Eck seines Ladens, wie die Spinne - versteckt im Astloch am Rande ihres Netzes. Er schaut nicht auf die Straße, sondern poliert die Messingstangen, an denen er mit Ösen aus handgebogenem Draht die bunten Topflappen hübsch drapiert hat. Er wartet. Er hat Zeit.
Der Einzelhändler beobachtet gerne, wie sich der Mensch langsam in einen kaufenden - und vor allem auch zahlenden Kunden verwandelt. Die Wandlung geschieht Schritt für Schritt, und der kundige Einzelhändler weiß, dass er diese Metamorphose nicht stören oder gar zu früh unterbrechen darf.
Denn manchmal geht ein Mensch erst zügigen Schrittes vorbei, zögert dann, verhält, schaut in das Schaufenster und auf das Schild an der Ladentür, legt die Hand auf die Klinke und erst nach einer Weile drückt er die Tür auf. Die meisten Menschen zögern, solange sie noch die Hand auf der Türklinke halten, und lassen diese nur ungern los. Wenn sich die Ladentür mit einem satten Schmatzen hinter ihnen schließt, zucken sie zusammen, als wären sie jetzt gefangen.
Doch der Einzelhändler bewegt sich keineswegs, um seinen künftigen Kunden standesgemäß zu empfangen. Er weiß genau, dass er um keinen Preis die Verwandlung stören darf, bevor sie vollständig ist. Nimmt also der Mensch, der so zögernd in den Laden kam und die Tür so widerstrebend losließ, endlich etwas in die Hand, die geöffnete Packung Aspirin etwa, deren Inhalt hier auch tablettenweise verkauft wird, so beginnt die langsame Metamorphose des Menschen in einen Kunden. Dann erschrickt dieser nicht mehr bei der Frage: "Kann ich etwas für Sie tun?" oder verlässt gar fluchtartig den Laden.
Am besten ist es allerdings, wenn der künftige Käufer etwas sucht, was er nicht sofort selbst findet. Hier ist ihm der Einzelhändler außerordentlich beflissentlich behilflich, kramt selbst in seinen Regalen, schiebt die Brille erst hoch in die Haare, dann nach vorne auf die Nase. Er murmelt leise vor sich hin und holt hier und da interessante Schachteln und Dinge aus Schubladen und Ecken. Jedes Teil wird dem Kunden ausführlich vorgeführt, während dieser von einem Fuß auf den anderen tritt und hofft, dass der Einzelhändler doch bald fündig werden möge. Manchmal allerdings muss der Einzelhändler nach langer Suche aufgeben, weil die erwünschte Ware partout nicht aus ihrer Ecke kommen und sich zeigen möchte. Dann geht der Kunde, ob mit gesuchter Schraube oder ohne gewünschten Haken.
Nach dieser Anstrengung öffnet der Einzelhändler eine abgegriffene Pappdose mit Aluminiumdeckel und streut den beiden Fischen zwei einzelne Flöckchen Fischfutter in das Aquarium, bevor er sich selbst einen Schokoriegel greift und mit dem sechsten Schlag vom nahe gelegenen Kirchturm den Laden von außen mit seinem großen Schlüssel absperrt.
bereits erschienen in: Himmelsstürmerinnen 2, (Prosa, Lyrik und mehr, 2008)
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