freiVERS | Nikola Huppertz
18. März 2018Literatur,LyrikfreiVERS,Nikola Huppertz
camera obscura
flüchtig kommen
und gehen die Szenen
es sei denn
ich gewähre ihnen einlass
in den papiernen raum
meiner gedanken
und drehe und wende und
stelle sie auf den kopf
so lasse ich sie eine weile
im abglanz der wörter verharren
und du kannst sie betrachten
ehe ich mich wieder verschließe
und sie im dunkeln
verschwinden
Nikola Huppertz
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Olaf Lahayne
16. März 2018Literatur,freiTEXTProsa,Olaf Lahayne
Die grelle Griselda
Sie hieß nicht wirklich Griselda.
Eh klar. Wer nennt sein Kind schon Griselda?
Sie nannte sich also selbst so. Griselda Grill, alias die grelle Griselda. Grill, so hieß sie wirklich. Mit Nachnamen. Mit Vornamen eigentlich Gisela.
Gisela, werden Sie jetzt sagen, das ist ja kaum besser als Griselda!
Nun, Gisela hatte halt eine gleichnamige Oma als Taufpatin. Eine durchaus wohlhabende Patin. Eine Patin, die ihre erste Enkelin stolz über den Taufstein hielt.
So lange jedenfalls, bis Gisela zu schreien anfing.
Das Geschrei war – man ahnt es – grell.
So grell, dass es außerhalb der Kirche zu hören war.
Sagt man.
Auf der anderen Straßenseite.
Jenseits einer sechsspurigen Hauptverkehrsstraße.
Aber das ist natürlich übertrieben.
Vermutlich.
Jedenfalls ließ sich die Großmutter künftig nur noch selten sehen. Im Gemeindebau aber, wo Giselas Familie lebte, da erweiterte sich rasch deren Bekanntenkreis. Leute schauten vorbei, die Vater und Mutter noch nie gesehen hatten. Selbst Nachbarn aus dem Parterre. Dabei wohnten die Grills im sechsten Stock. Und die Fenster wurden nur geöffnet, wenn Gisela schlief.
Also eher selten.
Angeblich schuf damals ein Nachbarsjunge den Spitznamen ›die grelle Gisela‹. Ein Junge, der erst seit ein, zwei Jahren im Land war, und Grell, Grill, das verwechselt man schon mal.
Wie auch immer: Bald schon, da fanden Giselas Eltern ein Mittel, ihr Töchterchen zu kalmieren: Nämlich mit Zuckerln und Spielzeug. Und Gisela lernte rasch. Sie lernte auch, dass man ein Mittel nicht überstrapazieren darf, wenn es wirksam bleiben soll. Somit schrie Gisela nur noch selten so grell, dass der halbe Gemeindebau aus den Federn fiel.
Auch in der Schule, da lernte Gisela schnell.
Und wer glaubt, dass sie dauernd störte: Oh nein!
Jedenfalls nicht dauernd. Nur, wenn es passte. Ihr. Oder auch anderen. So wurde sie prompt Klassensprecherin. Niemand störte, wenn sie sprach. Niemand sprach, wenn sie die Stimme erhob. Das mied man besser.
Sie meldete sich aber auch sonst zu Wort.
Im Unterricht. In allen Fächern. Ganz normal. Normal für ihre Verhältnisse, heißt das. Nicht gerade grell, aber nie sagte wer ›Lauter, Gisela!‹
Niemals!
Die Lehrer liebten sie. Meistens. Gisela konnte man immer fragen, selbst wenn keiner aufzeigte. Sie wusste immer was zu sagen. Klar, oft war es Unsinn, aber, so sagte man ihr: Besser was Falsches sagen als gar nichts!
In der Schule, da lernte Gisela wirklich was fürs Leben: Grell, das sind nicht nur Töne, nein, grell können auch Farben sein.
Grelles Grün, grelles Blau, grelles Rot. Besser noch: Grelles Gelb. Beim Zeichnen und Malen, da mochten die anderen Schüler Farben mischen, doch nicht Gisela: Stets nahm sie nur die reinen Farben.
Wie Gisela mit der Schule fertig war, da war ihr auch klar, was sie machen wollte: Kunst! Irgendwas mit Kunst!
Auch an der Universität, da lief es gut für Gisela. Schon im ersten Semester bekam sie ein Stipendium. Dazu verfasste ihr ein Kommilitone etwas theoretisches Zeugs zu dem Zeugs, das Gisela anfangs produzierte, von wegen Reinheit der Farbe, Berufung auf den Pointilismus, so etwas halt. Denn anfangs, da benutzte Gisela weiter die unvermischten Grundfarben. Auch ihren echten Vornamen benutzte sie noch, aber das änderte sich bald: Und zwar mit der Entdeckung dessen, was als ‚Grellweiß’ bekannt werden sollte.
Aber der Reihe nach.
Von einem Chemiker – dem Cousin jenes Kommilitonen –, da hörte Gisela von einem Farbstoff, der Weißer als Weiß sein soll, der mehr Licht ausstrahle, als er absorbiert, bis zu 30 Prozent mehr.
Unmöglich, sagen Sie?
Was meinen Sie, wie Ihre Waschmittel funktionieren?
Wie Ihre Gardinen Weißer als Weiß werden?
Weißmacher, das ist das Zauberwort! Die machen aus Ultraviolett sichtbares Licht.
Ist also nichts Neues. Neu war, dass dies auch bei normaler Farbe funktionierte, Farbe, die man wie üblich verarbeiten konnte, mit Pinsel, Rolle, Spachtel und Spray.
Dies, das wusste Gisela gleich, war genau ihr Ding. Und dank eines Anwalts – ein Nachbar jenes Cousins ihres Kommilitonen –, da gelang ihr der Coup: Für den Bereich der Bildenden Kunst erhielt sie einen Exklusiv-Vertrag: Sie und nur sie durfte da diese Farbe nutzen, ein Weiß, das ‚Grellweiß’ getauft ward. Und bei der Gelegenheit, da wurde Gisela zu Griselda, mit Eintrag im Ausweis und allem.
Dies war gefundenes Fressen für die Presse, und Griselda gab ihr, was sie wollte: Kuriose Fotos, schrille Stories, schräge Interviews, grelle Geschichten eben.
So ward ›die grelle Griselda‹ geboren. Von einer Designerin – der Freundin jenes Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – bekam sie Klamotten auf den Leib geschneidert, alles in Grellweiß. Griselda erwog gar, ihre schwarzen Haare platinblond zu färben, aber ihr Friseur – der Bruder jener Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – riet ihr ab. So begnügte sie sich einer Sonnenbrille, in Schwarz, wenn auch nicht in Vantablack.
Natürlich setzte Griselda ihr Grellweiß ein, wo immer sie konnte. Sie wechselte zu grellweißen Installationen, bevorzugt aus Objekten, die vorher Schwarz waren: Alte Pneus, Vinyl-Platten, Smokings, Unterhaltungselektronik, ganze Klaviere. Auch dafür verfasste ihr jener Kommilitone theoretische Texte; schließlich muss man irgendwas neben die Werke schreiben.
Am liebsten aber trug Griselda diese Texte selbst vor, in Interviews, auf Ausstellungen, immer in Grellweiß gestylt, immer sehr selbstsicher, wenn auch mit inhaltlichen Abschweifungen, die viele befremdeten. Aber gute Stories gab es allemal ab.
Griselda merkte natürlich, dass sie gut ankam. So ging sie dazu über, Auftritte auch unabhängig von ihrer Kunst anzusetzen. Bei Happenings, bei Demos, bei Poetry Slams, in Talkshows. Stets lieferte sie eine Show ab, nicht immer eine gute, doch eine wirkungsvolle allemal, eine, die in Erinnerung blieb.
Eh klar, dass bald Agenten auf Griseldas Auftritte aufmerksam wurden. Speziell einer, nämlich der Vater jenes Bruders der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – der übrigens nicht auch der Vater der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen war. Denn der Bruder, der war eigentlich ein Halbbruder.
Wie auch immer: Er – der Agent also –, der vermittelte Griselda den Kontakt zu einem Manager – seinem Golfpartner –, und der verschaffte ihr erste Auftritte, ließ ihr Songs und Videos auf den Leib schreiben, die Griseldas Organ und Erscheinung erst so recht zur Geltung brachten.
Das schlug ein. Wie eine Bombe. Eine grellweiße Bombe.
„Sie lässt Britney Spears und Lady Gaga bieder wirken“ hieß es. Rasch war ein Slogan geboren: „Grell, greller, Griselda.“
Dank ihres Managers stiegen Griseldas Gagen, stiegen die Preise für ihre Kunst um das Zehn- und Hundertfache. Ihre Alben stürmten die Charts, Alben, alle natürlich mit grellweißen Covern, die das ›White Album‹ blass aussehen ließen. Kurz, Griselda scheffelte Geld, richtig Geld.
Natürlich kam es, wie es kommen musste: Schon bei ihrem dritten Album, da hieß es, es sei unoriginell, allzu kommerziell, und die Kunstkritiker bemängelten, dass sie sich bei ihren Installationen nur noch selbst kopiere. Da konnte Griselda nur grinsen: Genau genommen, kopierten mehrere, bescheiden bezahlte Kunststudenten für sie.
Irgendwann, da schlug ihr Manager vor, dass Griselda auch als Schauspielerin arbeiten könne; er habe schon das eine oder andere Angebot. Griselda ließ sich das durch den Kopf gehen.
Damit stand sie vor der Wahl:
- Sie konnte versuchen, sich weiter zu steigern, bis ihr Publikum sie nicht mehr sehen, nicht mehr hören konnte und wollte.
- Sie konnte sich wiederholen, bis die Kopie von der Kopie von der Kopie immer blasser wurde, bis sie irgendwann tot von der Bühne fiel.
- Sie konnte versuchen, sich neu zu erfinden, sich ein neues Image zu verschaffen.
- Sie konnte Schluss machen. Klar, sie war erst knapp über Dreißig, aber sie hatte ihr Geld gut angelegt, dank ihres Anlageberaters, übrigens ein Parteifreund jenes Golfpartners des Vater vom Halbbruder der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen. Jedenfalls konnte sie bequem vom Kapital leben.
Griselda entschied sich für letztere Option.
Sie machte Schluss.
Mit der ihr eigenen Konsequenz: Keine Kunst mehr, keine Auftritte, kein grelles Scheinwerferlicht mehr, keine grellen Töne.
Was aus ihr wurde, wollt ihr wissen?
Falsche Frage!
Hier gibt’s kein Fadeout, sondern einen harten Schnitt.
Ende.
Olaf Lahayne
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Harald Kappel
11. März 2018Literatur,LyrikfreiVERS,Harald Kappel
beiläufige Sätze
unter der gelben Kugelleuchte
bei den Wollsocken
liegen beiläufige Sätze
ein wundersamer Frieden
du küsst durch
meinen lauten Großvortrag
hindurch
ein groteskes Nebeneinander
von verlegenen Worten
und risikoloser Leidenschaft
sie führt
schon bald
zur Bauchhochzeit
und ins Möbelhaus
die hellen Stunden
versiegen im Holzregal
dort steht lange die Weile
und zahlt den Preis
für beiläufige Sätze
unter der Kugelleuchte
bei den Wollsocken
Harald Kappel
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
Leipzig 2018
Wir gebens ja zu: Wir sind ziemlich nervös. Unser erstes Jahr auf der Buchmesse Leipzig. Also, keine Sorge: Wir verbraten unser spärliches Geld nicht für Standgebüren. Aber wir kommen mit zwei nigelnagelneuen Büchern, vielen motivierten mosaik-Menschen – und die neue mosaik25 nehmen wir auch mit. Und weil es gegen die Nervosität hilft, haben wir einen auf Streber gemacht und zusammengeschrieben, was es denn so alles tolles gibt...
Dass diese Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, versteht sich von selbst. Die Auswahl erfolgte vollkommen subjektiv - und sicher haben wir genausoviele (mindestens so tolle) Veranstaltungen übersehen. Du bist der Meinung, da fehlt was? Schreib uns!
Wir fangen natürlich mit Eigenwerbung an: Gleich zwei (in Zahlen: 2) neue Bücher stellen wir euch in Leipzig vor.
-
mosaik-Auswärtsspiel
Franziska Füchsel | Lisa Viktoria Niederberger
Samstag, 17. März | 20:00 Uhr | Textat (Erich-Zeigner-Allee 64) | Eintritt frei
Zwei der spannendsten Stimmen junger Literatur stellen ihre ersten Bände vor: Franziska Füchsel arbeitet sich mit viel sprachlichem Feingefühl an grundlegenden Fragen der Bedeutungsebenen ab; Lisa Viktoria Niederberger entwickelt in ihren Texten einen Sog, der scheinbar unaussprechliches sinnlich erfahrbar macht. Moderation: Marko Dinic & Josef Kirchner.
Eine Kooperation der edition mosaik mit dem Textat Textatelier.
-
Die Lyrikbuchhandlung kann man eigentlich täglich besuchen. Als Initiative für junge Lyrik-Verlage ist sie grundsätzlich mit offenen Armen zu begrüßen, dann wartet auch noch ein unglaubliches Programm. Namedropping: Katharina Schultens, Johanna Schwering, Moritz Gause, Mario Osterland, Martin Piekar, Jonis Hartmann, Tobias Roth, Nico Feiden, Yevgeniy Breyger, Rick Reuther und viele viele mehr...
Eine Übersicht gibt es zum Beispiel >> hier <<
Mittwoch - Freitag | Kunstraum D21, Demmeringstr. 21
Unseren Herausgeber Josef kann man auch am Samstag erleben. Zusammen mit Alexandru Bulucz von der „Faust Kultur“ und Andreas Heidtmann vom „poetenladen“ diskutiert er unter der Moderation von Sabine Scholl die Bedeutung junger Literaturzeitschriften, die auch über die gedruckten Exemplare hinaus wachsen und Autor*innen fördern. Veranstaltet wird das ganze vom LCB.
Samstag, 17. März | 16:00 – 17:00 Uhr | Forum Literatur Halle 4, Halle 4, Stand F100
Der wunderbare homunculus Verlag ladet drei Menschen ein, die wir sehr schätzen: Julia Grinberg (kennt man zum Beispiel aus der mosaik24), Gorch Maltzen und natürlich den wunderbaren Tobias Roth (zuletzt insbesondere durch seine Übersetzungen aus dem Italienischen bei uns präsent. Und dann natürlich der Titel der Veranstaltung und des Buches: „Menschenfresser der Liebe“ (gibts auch bei uns im Gschäft!)
Samstag, 17. März | 14:30 – 15:00 Uhr | Leseinsel Junge Verlage Halle 5, Stand G200
Unsere wunderbaren Kolleg*innen der PS – Politisch Schreiben sind auch da! Sie stellen ihre dritte Ausgabe der Zeitschrift vor: Dem Magazin geht es darum, dass sich Schriftsteller_innen politisch positionieren und nicht darum, literarische Texte an politische Inhalte zu binden. Autor*innen der 3. Ausgabe von PS geben Einblick in ihre Praxis politischen Schreibens und den literarischen Teil der Zeitschrift. >> zur Veranstaltung <<
Sonntag, 18. März | 11:00 Uhr | Kulturfabrik Leipzig, Frauenkultur e.V., Windscheidstr. 51
Was noch?
Ghayat Almadhoun hat einst in der mosaik19 unsere erste BABEL-Sektion mit einem unglaublich intensiven Gedicht eröffnet. Am Freitag liest er um 15 Uhr (Nordisches Forum, Halle 4, Stand C400) >> Zur Veranstaltung << und dann nochmal um 19 Uhr bei der Nordischen Lesenacht mit vielen anderen. >> zur Veranstaltung <<
Maren Kames kennt man zum Beispiel aus der mosaik21. Sie diskutiert am Do, 15. März um 19 Uhr gemeinsam mit Anja Kampmann, Ulf Stolterfoht und Mathias Zeiske von der Leipziger „Edit“ im DLL (Wächterstr. 34) über das Verhältnis von Literaturzeitschriften und jungen Autor*innen.
Danach gibt es am 15.3. um 20:30 den traditionellen Indie-Abend im Beyerhaus (Ernst-Schneller-Str. 6), u. a. mit Sven Heuchert (könnte man in Zweifel zwischen Zwieback kennengelernt haben) und vielen anderen. >> zur Veranstaltung <<
Marie Gamillscheg war einst bei der mosaik14 mit dabei - am Samstag um 10:30 stellt sie ihren ersten Roman vor! >> zur Veranstaltung << - am Freitag zuvor kann man sie um 19:30 hören >> zur Veranstaltung <<
Judith Keller war Teil von Lyrik für alle - am Samstag stellt sie um 12:30 ihr Debut vor. >> zur Veranstaltung << - am Freitag ist sie Teil der Lesenacht am DLL ab 20:30 >> zur Veranstaltung <<
Vom neuen Buch von Simone Hirth findet ihr eine Rezension in der neuen mosaik25. Wer sich selber überzeugen möchte: Samstag, 14:30 >> zur Veranstaltung <<
Jetzt hören wir mal auf. Wer sich durch das Programm wühlen möchte: www.leipziger-buchmesse.de/Programm
freiTEXT | Kerstin Meixner
9. März 2018Literatur,freiTEXTProsa,Kerstin Meixner
…dann kriecht man eben
Am Eingang des Friedhofs: Plötzliche Kindheitserinnerungen. Gedankenstakkato. Die erste Woche an einer neuen Schule und die damit verbundene Einsamkeit. Ein Junge auf dem Gipfel eines Schuttberges, der zu weiteren Kindern an dessen Fuß herabspricht. Assoziation des erwachsenen Ichs: Als habe er uns in eine Revolution führen wollen. Damals, mit neun Jahren: Noch kein Wissen über Aufstände. Blankes Staunen über den da oben. Das Gefühl der unter den eigenen Händen und Füßen herabgleitenden Trümmer ist wieder da. Der verbissene Wettkampf darum, den steilen Gipfel der gesprengten Lagerhalle zu erreichen, die aufgeschüttet vor ihnen liegt. Links und rechts die Schatten von Gleichaltrigen, die es ebenfalls versuchen. Er selbst noch hartnäckiger und unnachgiebiger ringend als sie, denn er ist neu in der Siedlung und verspürt in sich den Drang, sich vor den anderen behaupten zu müssen. Vielleicht ist es das beständige Knirschen der kleinen Steine, die auf dem Friedhofsweg ausgesät sind, unter seinen Schuhen, das ihn zurück an jenen Ort bringt.
Hendrik war damals nicht sofort mit ihnen losgerannt, als sie beschlossen hatten, den Berg zu stürmen. In einem gleichgültigen Trab war er ihnen auf das Fabrikgelände gefolgt und hatte vom Fuß des Hanges aus gelassen ihre fruchtlosen Versuche beobachtet, gegen die Trümmerteile anzukämpfen, die ihnen auf allen Seiten entgegenrutschten. Nach und nach hatten sie alle aufgegeben. Als letztes auch er selbst. Und plötzlich hatte Hendrik doch Anlauf genommen, sich auf der steilen Schräge merkwürdig flach auf alle Viere ausgestreckt und in dieser fast robbenden Haltung bald unter ihrem Jubel die Spitze des Schutthaufens erreicht. Später am Abend hatte er ihn gefragt, wie er es bis nach oben geschafft habe. Das erste Gespräch bester Freunde. »Wenn nichts mehr geht, dann kriecht man eben«, hatte Hendrik geantwortet. Mit schiefgelegtem Kopf.
Zwei Wochen später waren sie zum ersten Mal gemeinsam in Schwierigkeiten geraten. Sie hatten im Wald einen Stützpunkt für eine Bande errichten wollen, die zu gründen sie beabsichtigten. Hendrik hatte darauf bestanden, dass dieser nur perfekt sein würde, wenn sie ihn mit einigen Trümmerteilen vom alten Fabrikgelände ausstatteten. Dort jedoch hatte sie der neue Wachmann des Grundstücks erwischt und sofort zur Rede gestellt. Ob sein Freund wirklich nicht gewusst hatte, dass man auch Müll nicht einfach mitnehmen durfte, hatte er nie erfahren. Man hatte bei Hendrik überhaupt nie so genau gewusst, wo dessen Geschichten endeten und die Wahrheit begann.
Schon am Abend waren sie allen Warnungen zum Trotz wieder an der Fabrik gewesen. Das Hoftor war fest verschlossen und er selbst wäre sofort wieder nach Hause gegangen, aber Hendrik war, seinem Lebensmotto treu, so lange um das Gelände herumgeschlichen, bis er eine Stelle gefunden hatte, an der er unter dem Zaun hindurchkriechen konnte, wenn er sich nur eifrig genug bemühte. Als ihn der strenge Wächter am darauffolgenden Tag zu den fehlenden Stücken befragte, hatte sein bester Freund nur unschuldig zu diesem aufgeschaut und gesagt, er hätte die Schuttstücke wohl gerne haben mögen, doch die Mauern seien leider zu hoch für ihn gewesen.
Die Erinnerungen haben ihn über den Hauptweg des Friedhofs bis zu einer Abzweigung begleitet. Abschnitt B, Gang 3, Reihe III. Wie der Geheimcode für eine Bande, die es an ihrem Stützpunkt nie gegeben hatte. Stattdessen: Verbrannte Schulbenachrichtigungen. Blutsbrüderschaft. Freie Nachmittage. Vormittage auch. Irgendwann Mädchen. Streit darum sowieso, aber man kann vieles teilen. Heimat unter einem flachen Dach aus Trümmerteilen. Dann waren sie ihr entwachsen.
Gemeinsam beendeten sie die Schule und während er selbst seinen Zivildienst in einem der Altenheime der Stadt ableistete, entschied Hendrik sich für die Bundeswehr. Er hatte den Freund nicht verstehen können, aber Hendrik hatte nur gelacht und gesagt, dass man es dem deutschen Heer kaum vorenthalten dürfe, den weltbesten Durch-den-Dreck-Kriecher endlich persönlich kennenzulernen. Es war seit ihrem neunten Lebensjahr das erste Mal gewesen, dass sie nicht mehr in der gleichen Siedlung gelebt hatten und es hatte auch keine Rückkehr mehr zu diesem Status gegeben. Als der andere zwei Jahre später endgültig aus der Kaserne zurückgekehrt war, hatte er selbst schon zusammen mit seiner damaligen Freundin in der nächstgelegenen Großstadt gewohnt. Die Zeit des Teilens war vorbeigewesen. In mehr als einer Hinsicht. Einmal noch hatte Hendrik ihn abgeholt und sie waren gemeinsam heimlich in das alte Fabrikgelände eingestiegen, doch das Hindurchkriechen unter Zäunen hatte für ihn als angehenden Studenten den Reiz verloren gehabt. Auch Hendrik hatte bald darauf seine Taschen gepackt und sein Talent, auch dort noch weiterzukriechen, wo der Verstand einem sagte, dass nichts mehr zu erreichen sei, in der Welt erprobt. »Für den Sommer«, hatte er gesagt und war doch nur noch zu Weihnachten oder runden Geburtstagen in die Heimat zurückgekehrt und stets innerhalb von einer Woche wieder verschwunden. Umso überraschter war er daher im vergangenen Jahr gewesen, als Hendrik ihn kurz nach Neujahr angerufen und gefragt hatte, ob er ihn ins Krankenhaus fahren könne. Er hatte sofort zugesagt und war wartend auf dem Gang geblieben. Warum, das wusste er bis heute nicht. Niemand hatte ihn darum gebeten. Mit ernsten Gesichtern hatten zwei Ärzte ihren Patienten aus dem Behandlungszimmer begleitet. Auch, ob die Diagnose dieses Tages für Hendrik wirklich eine Neuigkeit gewesen war, gehörte zu den Dingen, bei denen er nicht sicher war, wo die Wahrheit begann und dessen Geschichten endeten.
Sie hatten noch einmal ihre alte Hütte im Wald besucht. Sie waren unter den fast eingestürzten Wänden hindurch in das Innere des Unterschlupfs gekrochen und hatten den Nachmittag weitestgehend schweigend verbracht, bis Hendrik plötzlich gefragt hatte, ob wohl der Wachmann von damals noch lebe und ob sie ihm nicht die Trümmerteile zurückbringen wollten. Tatsächlich hatten sie den Mann in ihrer alten Siedlung wiedergefunden. »Ich habe immer gewusst, dass du das warst«, hatte er nüchtern festgestellt und ausgesehen, als habe er in diesem Moment eine Art Frieden mit dem Freund geschlossen. Drei Wochen später war Hendrik gestorben.
Die letzten Meter sind die schwersten. Keine Kindheitserinnerungen mehr, stattdessen Erinnerungen an die Beerdigung. Er hatte den Sarg tragen wollen, aber es nicht gekonnt. Er hatte zur Andacht gehen wollen, aber nicht gewusst wie. Schließlich war er doch gegangen und am Rand geblieben.
Der Weg ist jetzt fremd. Zu selten hier gewesen. Verdrängung funktioniert so sehr, dass man Besuche am Grab vergisst. Rückkehr nur an besonderen Tagen. Stärkeres Vermissen des Jugendfreundes, als des Mannes, der gestorben ist. Diffuse Schuldgefühle. Noch einmal nur: Verbrannte Schulbenachrichtigungen, Blutsbrüderschaft, Heimat unter Trümmerteilen und irgendwann Mädchen - - Aber man kann nicht zu den freien Nachmittagen zurück. Zu den Vormittagen auch nicht.
Am Grab steht Hendriks Großmutter und versucht, mit ihrem Gehstock etwas am oberen Ende der Fläche zu erreichen. Sie erkennt ihn sofort. Unter der dichten Hecke liegt ein ausgebranntes Grablicht, das wohl der Wind dorthin geweht haben muss. Er bietet seine Hilfe an, sie nickt. Er betritt mit einem langen Schritt vorsichtig die vom Regen der vergangenen Nacht noch leicht rutschige Steinplatte in der Mitte der rechteckigen Ruhestätte. Von hier versucht er aus der Hocke heraus, die umgestürzte Kerze zu erreichen, aber es gelingt ihm nicht, also lässt er sich vorsichtig weiter auf seine Knie nieder und streckt sich merkwürdig flach über das Grab aus, bis er den kleinen, roten Plastikzylinder an der Hecke erreicht hat. Sein Hemd streift die feuchte Erde und als er sich wieder aufrichtet und vorsichtig die kleinen, schwarzen Klümpchen von seiner Brust abklopft, sieht er Hendriks Großmutter entschuldigend an. Die alte Dame aber nimmt ihm lächelnd die ausgebrannte Kerze aus der Hand und sagt: »Wenn nichts mehr geht, dann kriecht man eben.« Sie legt dabei den Kopf schief.
Kerstin Meixner
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Sara Maurer
4. März 2018Literatur,LyrikfreiVERS,Sara Maurer
du und ich in wien im advent.
Eines trüben morgens,
die vorhänge waren noch geschlossen
und das zimmer dämmrig kalt,
setzte ich mich ruckartig im bett auf,
denn mir war eingefallen,
dass ich eine woche zuvor
zwanzig euro am theaterparkettboden gefunden hatte
und das bedeutete nämlich,
dass ich umsonst die ganze letzte woche schlecht gelaunt
auf der suche nach einem bankomaten gewesen war
denn in den kleinen cafés,
in die ich vorgehabt hatte zu gehen,
konnte man ausschließlich mit bargeld bezahlen.
da es dort aber keinen bankomaten gab,
bekam ich auch keinen kaffee
von einem kleinen café.
Ich setzte mich also ruckartig mit diesem gedanken auf,
schüttelte den üblichen morgenschwindel ab
und ich sagte zu dir,
denn du bist aufgewacht, weil ich mich so ruckartig aufgesetzt hatte:
„heute morgen bin ich aufgewacht und hatte kein blut mehr im gesicht.“
und du hast mich angeschaut,
mit deinen noch halb geschlossenen schläfrigen augen,
dein ohr in den polster gerdrückt und "was?" gemurmelt,
und ich darauf
"ach nichts"
und du
"mhm",
das war so schön.
Dann hast du dich langsam angezogen
und ich hab dir zugesehen,
es ist ein nasser tag gewesen,
denn es hatte den ganzen morgen geregnet,
und bist an der haltestelle vor dem kindergarten,
an der du dich immer über die kindergruppen ärgerst,
in den bus gestiegen und von zuhause weggefahren.
Der bus stand im stau,
wegen des regens,
aber auch wegen der leute,
und da stiegen zwei vom alter gekrümmte frauen mit krücken zu.
die verabschiedeten sich dann lange voneinander,
sie sahen sich sonst nämlich nie
und das war sehr schade,
aber vielleicht würde man sich ja bald mal
auf einen kaffee
in einem kleinen café treffen
und die eine musste zwei die andere drei stationen fahren.
Als der bus dann aber kurz geführt wurde
und sie beide an derselben station aussteigen mussten,
gab es nichts mehr zu sagen
über die enkel oder das wetter
und man hatte sich ja auch schon
verabschiedet und wieder verabredet,
also bist du mit ihnen in ihrer peinlichen stille gestanden.
Ich aber bin dagegblieben
und habe versucht mich so zu wundern,
wie du dich immer über mich gewundert hast,
wenn ich gesagt habe,
dass ich irgendwie das gefühl habe,
dass die halben stunden zwischen dreiviertel und viertel
viel schneller vergehen,
als die zwischen punkt und halb,
wenn ich so am küchenfenster sitze,
den rest deines kalten und viel zu starken kaffees trinke,
rauche und darauf warte, dass der regen schwächer wird
oder die nachbarskatze sich blicken lässt
und die Minuten zwischen dreiviertel acht und viertel neun zähle.
Ich rauche eigentlich immer,
wenn du nicht da bist,
so wie der vater immer trinkt,
wenn meine mutter geht,
weil ich dann daran denken muss,
dass du das hasst
und ich es mag,
wenn du sagst,
dass du das hasst.
Und wenn der regen
dann fast ganz aufgehört hat
und die sonne durch die wolkendecke bricht,
gehe ich vielleicht zum museumsquartier
und warte und schaue den gestressten menschen zu
dort, wo kleine blaue schafe
oder food trucks
oder ziehharmonika spielende pferde
unter der weihnachtsbeleuchtung stehen.
Und wenn eine halbe stunde zwischen elf und halbzwölf vergangen ist,
treffe ich im museumsquartier vielleicht eine frau,
die mir sagt,
während sie ihren terminkalender wieder einsteckt,
dass sie das jetzt schon etwas nervt,
oder so,
wenn ICH das gerne SO machen möchte,
also wenn ich das so machen will,
dann kann ich das gerne so machen,
sie findet das jetzt auch nicht schlecht oder so,
aber sie weiß auch nicht,
ob sie MIR das falsch kommuniziert hat,
denn sie dachte schon,
dass wir das JETZT alles zusammen ausmachen.
Aber wenn ICH das jetzt lieber nicht ausmachen will,
dann ist das natürlich auch voll ok und passt voll für sie.
Und zu der barista,
die in dem starbucks,
in den die frau gerne gehen wollte,
weil sie heute noch garkeinen kaffee getrunken hat
und ihr morgen dann immer ganz schrecklich ist,
lattés ausgibt,
sagt sie dann,
nachdem sie ihren kaffee nach dem ersten schluck angewidert abgestellt
und dann auch zurückgebracht hat,
vielleicht so etwas wie,
dass es ja auch nicht so schwierig sein kann,
SOJAmilch
in einen kaffee latte mit
SOJAmilch
zu geben
auch wenn sie keine unverträglichkeit hat,
man sollte sich mal vorstellen,
sie hätte eine,
aber milch sei einfach so ekelhaft,
weil sie so einen grauslichen geschmack im mund macht
und weil sie früher oft am bauernhof gewesen sind
dann denkt sie sofort
wenn sie die milch nur riecht,
schon an die kuh
und den stall
und das ist ekelhaft.
Und ich nicke recht viel
und sage „mhm, mhm“
und starre der barista später,
während sie eine neue latte macht,
die ich für die frau holen gehe,
auf die lippen weshalb sie,
unangenehm berührt,
unter der theke mit den füßen
zur last christmas dauerschleife
zu wippen beginnt.
Und wenn ich den neuen kaffee
dann zu dem tisch,
an dem die frau wartet, bringe,
entschuldigt sie sich
für ihren kurzweiligen ausbruch,
das ist nämlich sonst so garnicht ihre art
und ich schüttle meinen kopf
und sage so etwas wie
“nein, bitte, das ist total lebensecht”
und die frau sagt nichts
und starrt für einen augenblick durch mich hindurch
während sie am kaffeetassenrand der sojalatte nippt,
und entscheidet sich wohl
dass das keine beleidigung war.
atmet laut aus und sagt
„ach du”.
es ist nämlich nicht so leicht mit mir,
denn ich bin wie meine mutter.
Wenn die frau die tasse abstellt
und einen moment lang dem kaffehaustreiben zusieht
greife ich in meinen rucksack
schiebe ein kleines packet über den tisch
und sage so etwas wie:
„grüße von der mama“
und die frau beißt die zähne zusammen und murmelt:
„oh wie lieb das wäre doch gar nicht notwendig gewesen, das hätte ja gar nicht sein müssen, da werd ich ihr gleich eine SMS schreiben.“
Dann bin ich durch die stadt losgelaufen,
ich weiß nicht mehr wohin,
bis es dunkel war und ich verloren gegangen bin,
irgendwo in den übergängen wiens,
in denen es nach pferdepisse
und manchmal auch nur nach pisse riecht
und den donauwalzer spielt.
Und du bist am abend
mit dem bus zurückgefahren,
aber der bus musste eingezogen werden,
weil ein alter wiener,
der aus weihnachtsvorfreude
auf ein fest mit der ganzen familie
besonders gut gelaunt war,
zuerst lautstark
"hearst, mach die tür auf, du komiker!”
richtung busfahrer schrie
und dann auch
als dieser keine anstände machte
die tür während der fahrt für den mann zu öffnen
auch auf diese eintrat bis sie kaputt war
und der fahrer alle aussteigen ließ.
Im ersatzbus wolltest du
dann an der haltestelle vor dem kindergarten aussteigen,
hattest aber aus versehen
eine station zu früh auf den aussteigeknopf gedrückt
und musstest jetzt überlegen,
ob du auch eine station früher aussteigen sollst,
und den rest zu fuß gehen,
weil die tür sonst ja für niemanden aufgehen würde
und der bus vielleicht umsonst stehengeblieben wäre,
und dir das vor den anderen leuten unangenehm ist.
aber ein alter mann ist aufgestanden und ausgestiegen
und du hast aufgeatmet.
Und als ich wieder zuhause war,
habe ich eine kerze auf dem
schon im letzten jahr nicht mehr schön gewesenen kranz,
den du nicht weggeworfen hast,
weil du meintest,
dass der shabby chic look wieder im kommen ist,
ein wort dass ich dann gegooglet habe,
angezündet,
denn heute ist erster advent.
Und dann bist auch du heim
und durch die tür gekommen
und da bin ich gesessen
und hab dich angeschaut
und gefragt
„na wie war dein tag”
und du sagst
„anstrengend”
und ob ich
„zwischendurch mal an dich gedacht habe”,
und ich sage
„nein, aber ich hab meine tante getroffen”
und dann frage ich dich, ob du kühe ekelhaft findest,
und du schüttelst den kopf und murmelst leise:
„was?”,
lachst und umarmst mich.
Und wenn du dann vorsichtig eine hand auf meinen rücken legst,
dort wo die schulterblätter zusammenlaufen,
flackern nur noch kerzenflamme
licht und schatten um uns durch den raum
und es riecht nach harz und wachs und feuer.
Und später, wenn es draußen wieder stärker zu regnen beginnt
und der früchtetee uns süßlich heiß auf den lippen brennt,
werden wir gemeinsam in die flamme starren
und etwas summen,
das wir von früher kennen,
eine melodie,
die schon fast nicht mehr zu uns gehört.
Sara Maurer
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Carina Plinke
2. März 2018Literatur,freiTEXTProsa,Carina Plinke
Druck nach Unten/ Trixi
„Ey Trixi, du siehst so geil aus. Du leuchtest richtig. Ich glaub, wenn du frei bist, schillerst du am meisten.“
Ich lächel und nicke, versinke in den merkwürdig aufdringlichen Farben, im Beat. Wir stehen mitten auf der Tanzfläche und unsere nassgeschwitzte Haut berührt sich. Unangenehm. Sie fasst mir mit der Hand an den Hinterkopf, als ob sie mir einen Kuss aufzwingen wollen würde. Sie kommt so nah an mich heran, dass ich sie riechen muss, und hören, weil die Musik ja sonst zu laut ist. Ich muss sie hören.
„Du bist so eine, dich muss man immer freilassen, ne? Bloß nicht festhalten,“ und während sie das sagt, rutscht sie mir mit ihrer Hand in den Nacken.
„Sag mal Trixi, wieso hast du überhaupt n`Kind bekommen?“
Mein Körper bewegt sich nicht mehr. „N`Kind?“
Ich zucke die Schultern: „Keine Ahnung!“
Ich will doch bloß tanzen. Warum fragt sie überhaupt, was geht sie das an?
„Druck nach unten. Seit der Geburt meiner Tochter habe ich immer so einen Druck nach unten.“
Die Therapeutin schaut mich nachdenklich an und fragt dann:
„Hast du dich jemals gefragt, ob du dein Kind liebst?“
„Nein, ich mein, ist doch klar, dass man sein Kind liebt! Der Druck kommt von der Gebärmutter.“
„Warst du mal beim Arzt?“
„Nein. Ich mag keine Ärzte“
Ich lehne mich übers Waschbecken und bilde mir ein, dass eine Spinne über meine Hand läuft, dabei war es vermutlich nur ein Schatten. Oder ein Haar. Oder eine Spinne. „Sandra, hast du die Spinne gesehen?“
„Was für ne Spinne, Trixi?“
„Ach, keine!“
„Lass mal was zu trinken holen!“
„Ne, ich glaub ich habe genug. Ich glaub, ich fahr gleich nach Hause!“, während ich das sage, sehe ich schon wieder diese kleine Spinne. Diesmal auf der anderen Hand. Sie ist so klein und flink, ich kann sie nicht im Auge behalten.
„Trixi, du hast endlich mal Ausgang. Ziad wird sich schon gut um die Kleine kümmern. Ich hol uns was. Du brauchst das!“ Du. Brauchst. Das. Was? Wirklich?
Sie schiebt mich an die Bar.
Ich schaue auf die Uhr, es ist drei. Um drei wird Mia meistens wach und will zu uns ins Bett. Um sechs will sie Frühstück. Das sind bloß noch drei Stunden.
Sandra schiebt mir nen Wodka zu.
„Habt ihr schon mal als Familie Urlaub gemacht?“
„Nein!“
„Warum?“
„Kein Geld!“
„Was macht dein Mann?“
„Er ist neu in Deutschland, er arbeitet nicht!“
„Fehlt dir das?“
„Dass er arbeitet? Manchmal fehlt es mir, dass sich jemand um mich kümmert, also finanziell! Ziad kümmert sich hervorragend um mich und Mia.“
„Gibt es denn kulturelle Differenzen?“
„Nein, bei Ziad und mir ist alles in Ordnung. Bloß...“
„Ja?“
„Manchmal fehlt er mir so... ohne Mia!“
Wir stehen wieder auf der Tanzfläche. Die Welt ist ad absurdum geführt, unter dem Alkohol keine Welt mehr, sondern ein Traum, einer ohne Mia und Ziad. Sie fehlen mir n` bisschen, aber der Typ hinter mir gefällt mir ganz gut, er legt mir die Hand um die Hüfte, zieht mich an sich heran. Seine Hand gleitet bis zwischen meine Beine, mitten auf der Tanzfläche. So was hätte ich auch betrunken früher nicht gemacht. Aber ich will den Mann. Jetzt und sofort. Ich mach das. Wir treffen uns auf der Toilette.
„Ich habe mal einen Text zu deiner Frage geschrieben.“
„Zu welcher Frage?“
„Ob ich meine Tochter liebe! Soll ich ihn vorlesen?“
„Gerne!“
„Als du vor einem Jahr geboren wurdest, lagst du vor mir und ich wusste nicht, wer du bist. Dabei wusste ich das, als du in meinem Bauch warst noch ganz genau, da habe ich dich noch gespürt, dich berührt, du warst mit mir, in mir. Ich war so verliebt in dich.
Bei der Geburt stellte ich mir nur noch die Frage: Was zur Hölle ist das? Über die Schmerzen hat man ja schon viel gehört. Aber das sind keine Schmerzen, das ist die Hölle. Irgendwann stieg ich aus. Die Schmerzen zu stark, fern ab von der Realität. Ich wollte mich verabschieden, von der Realität, in eine Zwischenwelt. Irgendwo da, wo ich mich nicht mehr spüre, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Da habe ich dich aber auch nicht mehr gespürt und da bin ich geblieben. Da bin ich immer noch. Ich spüre dich nicht. Ich spüre Mia nicht. Aber da ist trotzdem Liebe und die ist unendlich groß und es hört sich verrückt an, aber die Liebe macht mir die größten Vorwürfe. Als würde sie mir zurufen: Ich bin da, warum spürst du mich bloß nicht? Warum liebst du sie nicht genau so, wie du sie in deinem Bauch geliebt hast?“
„Trixi, das auf deiner Hand vorhin war keine Spinne, das war ne Motte, auf der Toilette sind ganz viele kleine Motten.“ Motten? Motten mögen das Licht. Ich auch! Ich vermisse das Licht, ich vermisse die Sonne. Aber ich habe nie Zeit mich zu sonnen. Zu viel Sonne ist nicht gut für Mia. Ich geh zurück auf die Toilette und schlage alle Motten tot. Schlage sie tot und schreie. Ich schlage um mich und schreie und schreie und schwitze und ich will sie doch lieben aber ich kann nicht weil ich mein altes Leben zurück will das schreie ich und sie kommen und stehen im Türrahmen dieser Clubtoilette und starren mich an wie eine Wahnsinnige was ist denn mit der die ist ja verrückt hat wohl zu viel gesoffen so schmeißt sie doch endlich raus raus mit ihr.
Das Krankenhauslicht ist so kalt geworden. Ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Sie muss endlich raus, holt sie zur Hölle aus mir heraus.
„Ziad?“
„Yes my dear!“
„What you think? What if Mia never existed? Would we still be lovers?“
Carina Plinke
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
der mosaik-März
28. Februar 2018Lisa-Viaktoria Niederberger,Franziska Füchsl,Linz,Bregenz,Leipzig,Wien,Ankündigungen,Veranstaltungen,KulturszeneBuchpräsentation,Lesung,Salzburg
Im März beginnt's! Oder so ähnlich... Auf jeden Fall wird der mosaik-März intensiv. Lesungen, Konzerte, Diskussionen, Gespräche - in fünf Städten!
-
Samstag, 10. März | 19:30 | Salzburg: academy Bar
Lisa-Viktoria Niederberger & Two on Glue
Lesung & Konzert
Natur und im Speziellen die Mistel zieht sich wie ein roter Faden durch den gleichnamigen Band von Lisa-Viktoria Niederberger. Mit ihrer einzigartigen Verbindung von Hochsprache mit österreichischer Umgangssprache bindet sie nicht nur unpretentiös Bilder und Vergleiche ein, sie behandelt gleichzeitig mit einer nie dagewesenen Leichtigkeit scheinbar unaussprechliches.
Die Musik von Two on Glue ist eine Mischung aus akustischen Punksongs und Mundart-Liedern mit Schlager- und Ska-Einflüssen. Die Songs bestechen durch persönliche Texte mit Tiefgang, abwechslungsreichen Sound und politisch nicht immer ganz korrekten Humor.
Und weils was zu feiern gibt: DJ-Line bis zur Sperrstunde!
>> zur Facebook-Veranstaltung <<
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Samstag, 17. März | 16:00 | Leipzig: Buchmesse, Forum Literatur Halle 4
Andere Formate?
Redakteure diskutieren Literaturzeitschriften, die sich zu Plattformen erweitern.
Die gedruckte Litertaturzeitschrift, die einmal pro Quartal erscheint, ist schon länger nicht mehr das einzige Medium, das neue Stimmen in die Literaturlandschaft bringt. Und natürlich kommen nicht alle interessanten Formate aus Berlin oder Wien. Andreas Heidtmanns „poetenladen“ aus Leipzig bot als eine der ersten Seite im Netz Lyrikern die Möglichkeit, ihr Schaffen in kleiner Auswahl vorzustellen. Mittlerweile kamen die Literaturzeitschrift „poet“ und ein eigener Verlag hinzu. „Faust Kultur“ aus Frankfurt am Main, vertreten durch Alexandru Bulucz, versteht sich als „wwweltbühne für Autoren und Künstler“. Man findet hier kurze Kulturtipps genauso wie ausführliche Besprechungen und literarische Texte. „mosaik“ ist ein junges Magazin aus Salzburg. Die Beteiligten organisieren dort die „Kritischen Literaturtage“ mit, man bemüht sich um allerlei „Vernetzung und Vermittlung gegenwärtiger Literaturen“. Und nicht zuletzt ist das Heft kostenfrei erhältlich. Josef Kirchner ist für „mosaik“ auf dem Podium. Die Schriftstellerin und Kritikerin Sabine Scholl moderiert.
Samstag, 17. März | 20:00 | Leipzig: textat. Textatelier
mosaik-Auswärtsspiel
Buchpräsentationen Franziska Füchsl & Lisa-Viktoria Niederberger
Zwei der spannendsten Stimmen junger Literatur stellen ihre ersten Bände vor: Franziska Füchsl arbeitet sich mit viel sprachlichem Feingefühl an grundlegenden Fragen der Bedeutungsebenen ab; Lisa Viktoria Niederberger entwickelt in ihren Texten einen Sog, der scheinbar unaussprechliches sinnlich erfahrbar macht.
Eine Kooperation der edition mosaik mit dem Textat Textatelier.
>> zur facebook-Veranstaltung <<
Franziska Füchsl: rätsel in großer schrift. edition mosaik (Salzburg), 2018.
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Sonntag, 18. März | 20:00 | Wien: Café Anno
Anno Literatur Sonntag mit Lisa-Viktoria Niederberger
Der Anno Literatur Sonntag (ALSO) bietet junge, zeitgenössische Literatur in gemütlicher und entspannter Kaffeehausatmosphäre.
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Dienstag, 20. März | 19:30 | Linz: Sputnik Rock Café
Lisa-Viktoria Niederberger & Hoizkopf
Lesung & Konzert
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Samstag, 24. März | 16:00 | Salzburg: Buchhandlung Stierle
indiebookday, u. a. mit Lisa-Viktoria Niederberger
Lesung und Gespräch
Den ganzen Tag über Lesungen und Gespräche mit Autor*innen, Konzerte u. v. m. Mit Lisa-Viktoria Niederberger, Jochen Jung, Mareike Fallwickel u. v. m.
Lisa-Viktoria Niederberger: Misteln. Edition mosaik (Salzburg), 2018.
Eintritt frei!
Donnerstag, 29. März | 20:00 | Versatorium (Geusaugasse 39, Wien)
Buchpräsentation: Franziska Füchsl - rätsel in großer Schrift
„nous nous devons au mot. schulden wir uns dem wort? schulden wir ihm unser fragen? die frage : wie klein ist wort? wie klein mot? wie groß die fragen, wie viele die antworten?“
Franzsika Füchsl begibt sich in ihrem ersten Band auf die Suche nach dem Wort und findet die rätselhafte Bleibe eines Freundes. Bedeutungsebenen überlagern sich oder verschwimmen – ebenso wie Genrezugehörigkeiten.
Samstag, 31. März | 19:00 | Bregenz: Hotel Schwärzler
Literatur im Schwärzler, u. a. mit Franziska Füchsl
Zum 4. Mal finden im Hotel Schwärzler Literaturtage statt - dieses Jahr mit Franziska Füchsl und 9 weiteren Autor*innen: Sabine Bockmühl, Moritz Heger, Michael Köhlmeier, Deborah Macauley, Alexander Peer, Hans Platzgumer, Verena Rossbacher, Tabea Steiner und Christian Zillner.
Franziska Füchsl: rätsel in großer schrift. edition mosaik (Salzburg), 2018.
freiVERS | Melanie Khoshmashrab
25. Februar 2018Literatur,LyrikfreiVERS,Rüdiger Käßner,Melanie Khoshmashrab
den haben wir nicht
für Rüdiger Käßner*
ich mag diese küchengespräche, sag ich
wenn du das schwarz erpresst, werd ich ruhig
draußen sind alle schaufenster vernagelt
ich mag die katze, die über dir hängt, sag ich nicht
danke / wenn sich die bahn nachts verspätet, steigen wir auf
oberflächen mit innenalsterblick, du rauchst vor apple
ich mag sitzenbleiben, bis ich zu allem zu spät komm
die ubahn fährt nicht nach münchen, sagst du
bist eigentlich häuslich & einen weltraumbahnhof
Melanie Khoshmashrab
* Rüdiger Käßner war ein feinsinniger Förderer der Literatur. Er hat Lesungen organisiert, jungen Autor*innen einen Bühne geboten und 20 Jahre lang die Hamburger Weblesungen organisiert: Autor*innen kamen in seine Küche, haben mit ihm Kaffee getrunken und anschließend einen Text eingesprochen. Käßner, 1953 in Hamburg geboren, verstarb am 2. Februar 2018 nach langer Krankheit.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Stefanie Schweizer
23. Februar 2018Literatur,freiTEXTProsa,Stefanie Schweizer
Nachts gehen die Lichter aus
Ein Auto fährt vorbei und wir drehen uns zu den Feldern in die Dunkelheit. David steckt die Kappe wieder auf den Filzstift. Er grinst und klopft auf das Metallschild mit dem Ortsnamen darauf. Sofie und ich legen den Kopf schief. Nee. Was nee, fragt David. Ja das funktioniert nicht. Noch ein Auto kommt und wir wenden uns wieder ab. Das ist halt nicht witzig, sage ich. Hanna hat Recht, mit Möckmühl geht das nicht so richtig. Aber man muss doch nur das c streichen, sagt David. Und das k. Und ein s einfügen. Und ein e. Oh. Merkste selbst? David nickt und Sofie steckt sich eine Zigarette in den Mund. In ihrer hohlen Hand explodieren kleine Funken.
David kommt in den Laden und trägt eine Kiste Kartoffeln. Ich nicke und er stellt sie auf die Theke. Ich krame unter dem Tresen herum, nehme eine Rolle Münzgeld und schlage sie in die Kassenschale. Tick, Trick und Track haben was geschickt, sagt Hannes und zieht einen Zettel aus dem Blaumann hervor, war heute Morgen am Fendt. Ich hebe den Kopf und lese: Wir sehen uns am Freitag beim Rettichfest – Chrissi, Simon, Lukas. Ich sehe David an. Das ganze Dorf geht zum Fest, natürlich sehen wir uns da. Was soll denn das für eine Drohung sein? David zuckt mit den Schultern.
Sofie und ich hängen unsere Badeanzüge an einen der Haken unter der Ablage. Die Dusche ist warm und ich tauche mit dem Gesicht unter. Die Frau vom Hins kommt rein und stellt sich unter die andere Brause. Grüß Gott. Ich verdrehe die Augen. Hallo, sagt Sofie. Tut schon gut, gell? Was, frage ich und blinzle durch den Schaum. Tut gut! Sofie nimmt ihr Handtuch und trocknet sich ab. Mädlen? Sofie und ich tauschen einen Blick und ich nehme mein Handtuch. Reist euch am Freitag mal zusammen, sagt die Hins, wir wollen nicht so einen Ärger wie letztes Mal. Sofie salutiert und wir gehen.
Wir liegen auf dem warmen Feldweg und sehen uns die Sterne an. Der Mais steht hoch und das Land ist knochentrocken. Ab und zu explodiert ein Korn im Kolben. Warum eigentlich, frage ich. Was, fragt Sofie. Das mit Tick, Trick und Track. Ist bestimmt so ein Familienfehdeding, sagt David, bestimmt haben sich schon unsere Ureltern gehasst. Ich hasse die nicht, sage ich. Vielleicht sind wir mit denen sogar verwandt, sagt Sofie. David richtet sich auf. Auf gar keinen Fall! Keiner von uns ist so ein scheiß Angeber, oh ich bin es, der Lukas, ich habe einen neuen Rasenmäher bla bla. Ich sehe Sofie an und wir grinsen.
Es trommelt an den Rollladen vor meinem Fenster und ich fahre im Bett hoch. Ich ziehe den Laden nach oben und mir schlägt Blaulicht ins Gesicht. Ich muss die Augen schließen. Mein Cousin rückt die Uniform zu Recht und nickt auf den Wagen hinter sich. Was dieses Mal, frage ich und winke David und Sofie zu. Einbruch, Diebstahl eines Aufsitzmähers, Zerstörung eines Aufsitzmähers. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben. Du kannst froh sein, dass ich Dienst habe. Ich nicke und hole die beiden aus dem Wagen.
Der Löhneberger trägt sogar seinen Feuerwehrhut und der Dachser sieht sich um. Die beiden stehen auf dem Platz vom Rettichfest. Das Gras, das ist viel zu trocken, sagt der Löhneberger und schrubbt mit dem Schuh auf der Erde herum. Das muss man bewässern. Spinnst du? Das kostet einen Arsch voll Geld. Der Löhneberger fasst sich an den Hut und der Dachser verdreht die Augen. Und wenn es morgen noch regnet, fragt der Dachser. Dann muss man nicht bewässern. Der Dachser zieht ein paar Scheine aus seiner Hosentasche und steckt sie dem Löhneberger vorne an den Hut.
Chrissi, Simon und Lukas schieben sich zwischen den Bierbänken hindurch zu uns. Das ist unser Bierstand, sagt Chrissi. Sei nicht albern. Es gibt hier nur einen, sage ich. Und das ist unserer. Und das steht wo, sagt Sofie und lässt ihre Gabel sinken. Simon tritt an sie heran und ihre Nasenspitzen berühren sich beinahe. Sofie schmiert Simon den Rettich ins Gesicht und stößt ihn weg. Luka zieht nochmal an seiner Zigarette, schnippt sie weg und verpasst David eine. Ich packe Chrissi. Er packt mich an den Haaren, lässt aber sofort wieder los. Es riecht nach Gas. Ein Schlag ist zu hören und das Wellblechdach der Bierbude fliegt hoch in die Luft.
Der Bierstand ist komplett ausgebrannt. Das Gras zieht einen Kreis aus Feuer um die Bierbänke. Ein Funke hat das Dach des Grillhäuschens entzündet und ein paar Männer zerren die Gasflaschen heraus. Eine Stichflamme schießt brennende Fettpfützen auf die Bierbänke davor. Die Leuchtgirlande darüber brennt durch, schwingt wie eine Liane herunter und setzt den Baum in Brand. Es surrt und aus dem Stromkasten sprühen Funken. Die Preise der Schießbude schmelzen in sich zusammen. Plastik und Bratwurst liegt in der Luft.
Stefanie Schweizer
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at