freiTEXT | Isabella Krainer

Edith

Edith war schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Mit zehn entdeckte sie die wunderbare Welt des Scherenschnitts, mit elf beherrschte sie den Lockruf des Tungara-Froschs und im Jahr darauf gab sie vor, Schweizerin zu sein, da diese verstärkt unter dem prämenstruellen Syndrom zu leiden hätten.

Da ihre Sportlehrerin an Derartiges gewöhnt war, begrüßte sie die Schülerin regelmäßig mit einem sarkastischen „Grüezi“ im Turnsaal. Für Edith ein Grund mehr, beim Völkerball nicht mehr zu kooperieren.

Die Idee, den Sportunterricht gegen wöchentliche Besuche im Altersheim einzutauschen, kam Edith mit dreizehn. Nachdem ihr die betagten Leute zuflüsterten, dass es hier nicht darum gehe, Gefangene zu machen, kam sie zu dem Schluss, nie an einem echteren Ort gewesen zu sein. Was keine Flügel hatte, konnte tatsächlich nicht fliegen. Und was zu stinken hatte, stank.

Als Edith die Alten zum letzten Mal besuchte, um sie danach wieder sich selbst zu überlassen, war die Pubertät amtlich.

Isabella Krainer

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freiVERS | Lütfiye Güzel

geisterbahn-karussell

zwanzig neue bücher
in gepolsterten umschlägen
die klammern stecken
ihre köpfe
durch die beiden löcher
ich klebe die seiten noch zu
bevor ich beschossen werde
von meinen eigenen organen

Lütfiye Güzel

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mosaik26 – ich bin keine pflanze

mosaik26 – ich bin keine pflanze

INTRO

„denken sie darüber nach wie es ist
ohne frau zu leben“
– Steffen Kurz (S. 20)

Dieser Tage kam eine Frage auf uns zu: Sag, liebes mosaik, wie hältst du’s mit dem Gendern? Und wir waren etwas überrascht – nicht über die Frage, sondern darüber, festzustellen, dass wir noch nie im Team darüber diskutiert oder aktiv darüber nachgedacht haben. Seit wir uns erinnern können ist der Asterisk da, als wäre er eine selbstverständliche Gegebenheit, wie der Umstand, dass wir nicht auf Kunststoff sondern auf Papier drucken (was wir im übrigen auch nie diskutiert haben).

Kritik an dieser Praxis kommt dieser Tage nicht nur von den Eh-scho-wissen, sondern zum Beispiel auch vom Wiener Philosophen Robert Pfaller, wie er es u. a. in einem Interview mit dem Standard formuliert hat: „Eine Kunstsprache zu verwenden, also zu ‚gendern‘ oder ein Binnen-I einzufügen“, scheint ihm nicht der richtige Weg, „man klingt dabei schnell nicht mehr wie ein vernünftiger Mensch.“ Und er markiert das Gendern als eine Form, sich über eine andere Gruppe zu erheben. Womit wir schnell bei einer Frage sind, die uns in Wellen immer wieder beschäftigt: Was kann/soll Kunst/Literatur im gesellschaftlichen Zusammenhang?

Wir verstehen uns auf einer Mission, Literatur zugänglich zu machen. Doch was bedeutet das? Ist es Aufgabe der Kunst, sich mittels Simplifizierung (über die Themen, Wege und Mittel) neuen Bevölkerungsschichten anzunähern oder ist es Aufgabe der Gesellschaft (des Staates?) Initiativinteresse für Kunst zu schaffen? „Man muss Kultur zu den Menschen bringen“ ist ein häufiger Schlachtruf, der in Sozialprojekten in sogenannten „Problembezirken“ endet und damit genau jene Überheblichkeit zelebriert, die auch Pfaller ankreidet.

„Sei unbesorgt: Von den hundert Namen,
die ich trage, ist kein einziger
Eva“
– Marina Berin

Seid unbesorgt, liebe Leserinnen und Leser, liebe Lesende, liebe Leser*innen, wir geben uns nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Dafür kann eine Antwort dann auch mal länger dauern. Vor allem dann, wenn man vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Letzteres wünschen wir euch für die vorliegende Ausgabe.

Inhalt

elektrisches zirpen
  • Dagmar Falarzik: Aufziehender Sturm / Der Sturm / Nach dem Sturm
  • Erik Wunderlich: Liebes Dreifingerfaultier
  • Thomas Ballhausen: Stanze
  • Stephan Weiner: Buch vom Zweck
  • Ursula Seeger: Unwillkürliches Flattern. Teil 31: Feingefühl und Anfälligkeit von Maschinen für Unausgeglichenheit und Exzentrik
waldwerden
  • Steffen Kurz: eine blume zwischen zwei abgründen
  • Manon Hopf: Fangen
  • Fabian Lenthe: Sie verlassen mich
  • Michael Pietrucha: Oh. Philia und deine geteilte Pflege mit dem Leben
  • Martin Peichl: 1000 Tode
und du nur so. oh.
  • Barbara Marie Hofmann: wiegenlied [totenschaukel]
  • Marina Berin: Du bittest mich
  • Katherina Braschel: Der Dosenrost sagt den Kieselsteinen, sie sollen mir temporäre Cellulite an den Knöcheln machen. Oder was?
  • Dustin Young: bitte komm
  • Hannah Bründl: wenn wind
Kunststrecke von Dominika Ziober.Król
BABEL – Übersetzungen
  • Jacek Dehnel: Miasta Dalekie / Ferne Städte (aus dem Polnischen von Michael Pietrucha)
  • Enesa Mahmic: Blatusa (aus dem Bosnischen von Marko Dinic)
  • Tobias Roth: Firn / Neve di Primavera (ins Italienischen von Nicoletta Grillo)
  • Yevgeniy Breyger: Schöne Lagunen / Lagune Frumoase; Vorsicht / Atentie (ins Rumänische von Krista Szöcs)
Kolumnen
  • Peter.W.: High Noon an der Datumsgrenze, Hanuschplatz #14
  • Marko Dinic: Über das Plagiat, Lehengrad #5
Buchbesprechung
  • Josef Kirchner: „Buchstaben sind Schmutz auf Papier“ – Zeitschriftenumschau
Interview
  • Miss Tell und Miss Spell – Gespräch Franziska Füchls und Lisa-Viktoria Niederberger
Kreativraum mit Magic Delphin

freiTEXT | Lisa Krusche

Maritim Grand Hotel

Das Flattern des Absperrbandes im Wind. Die Locke, die über deine Wange Richtung Mund streicht. Du, den Joint in der Hand mit dem Siegelring, wie du einatmest, noch mal einatmest, damit der Joint mehr reinknallt. Dein Blick in Richtung Plakate und was du erzählst. Dein Ausatmen und um die Ecke der Obdachlose im Schlafsack und ich, die ich mich frage, ob er schon erfroren ist. Das Maritim Grand Hotel im Hintergrund, Waschbetongebäude, mit diesen Fenstern, innen warmes oranges Licht und die weißen, mal halb mal ganz zugezogenen Gardinen. Du sagst, du müsstest noch mal herkommen, bevor wir überhaupt richtig da sind. Die Kälte und das Bild auf dem Plakat und zu jeder Sekunde mein Körper und das Gefühl meines Körpers, der sehr bewusst ist in seinem hier stehen und noch bewusster in seinem Sehnen. Die Strähne, das Klackern des Absperrbandes, quadratische Betonplatten auf dem Boden, die Härchen auf deinen Fingern, die Strähne und mein Gedanke, ich müsste Film machen, Film ist das Mittel der Wahl, weil es alles hat, Bild und Ton und Text, wenn man will, und der Wunsch eine Kamera zu haben, um alles, um dich aufzunehmen und die Strähne und die Hand und der Joint an deinen Lippen, und noch viel mehr der Wunsch endlich aufzuhören diese Dinge zu tun, die ich tue, aus Pflichtbewusstsein, und stattdessen nur noch dich zu filmen und alles aus Lust.

Lisa Krusche

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freiTEXT | Bas Lindgaard

Von Licht und Schatten und Wind und Ratten

Ich bin ein Landstreicher und brate Ratten über offenem Feuer, wenn der Hunger zu groß wird. Eigentlich will ich kein Fleisch essen, vor allem nicht das von quietschenden, pfeifenden Abfallwesen, aber oft bleibt mir keine andere Wahl. Ich mag Beeren und Gemüse, und letzten Herbst habe ich mir meinen Beutel bis obenhin mit Mais vollgestopft und tagelang nichts anderes gegessen. Was würde ich jetzt für einen dieser saftigen Maiskolben geben! Stattdessen kämpfe ich dagegen an, mich zu übergeben, während der beißende Fleischgeruch mir in die Nase steigt und das Rattengesicht im Feuer dahinschmilzt.
Aber danach geht es mir besser und wenn ich ehrlich bin, ist es mir schon währenddessen egal, was genau ich da eigentlich in mich hineinstopfe. Manchmal gelingt es mir, einen Vogel zu fangen, und manchmal ist es sogar ein schöner Vogel, einer mit gemusterten Federn, und wenn ich mich erstmal dazu überwunden habe, ihm die Flügel auszureißen, und den ersten Bissen des zarten Fleisches auf meiner Zunge spüre, kann ich das unwürdige Mahl fast ohne Probleme genießen.
Wirklich schlimm wird es erst wieder, wenn der Magen rebelliert, so, als würde er wissen, welche Abartigkeiten er da zersetzen muss. Dann hilft es meistens, zu laufen.
Beim Laufen prasseln ständig neue Eindrücke auf mich ein, ich bekomme so viel zu sehen, dass ich gar nicht erst auf die Idee komme, an mich selbst oder das Zeug in meinem Inneren zu denken. Ich denke an das Geräusch, das die Schritte auf dem Feldweg verursachen, denke an den Wind, der durch die Bäume und die Gräser streicht, daran, dass er das schon getan hat, bevor ich hier war und es noch tun wird, wenn ich schon lange mehr da bin. Vielleicht werde ich irgendwann selbst zum Wind und muss mir keine Gedanken mehr machen, über die nächste Mahlzeit oder den nächsten Winter, wenn es wieder nur Ratten zu essen gibt.
Komme ich an einen Fluss, kann ich nicht anders, als ihm ein Stück weit zu folgen. Ich stelle mir dann gerne vor, dass ich irgendwann seinen Ursprung erreiche, einen kleinen Spalt in einem großen Felsen, der bis weit über die Wolken reicht, und da oben sitzen die Götter und trinken Wein und wundern sich über die Menschen. Darüber, dass sie Ratten fressen, statt zum Wind zu werden.
Die Steine am Ufer sind älter als ich und müssen nichts sagen, damit ich von ihnen lernen kann, sie können nicht denken, also sind sie glücklich. Mit ihnen würde ich mir gerne den Magen vollschlagen, ich würde mich nicht schlecht fühlen dabei, vielleicht würde ich in den Fluss steigen und auf den Grund sinken, zu den anderen Glücklichen, die einfach da sind und an nichts weiter denken.
Aber heute noch nicht. Heute streife ich durch die Felder und wenn die Sonne droht, hinterm Horizont zu verschwinden, lege ich mich in einer Scheune zur Ruhe …

Am nächsten Morgen schaue ich zuerst in den Lauf einer Schrotflinte, dann in das harte Gesicht des Mannes dahinter. Und ich verstehe ihn nicht, ich verstehe seine Worte, aber ich weiß nicht, warum er wütend ist, ich weiß nicht mal, ob es wirklich Wut ist oder irgendwas anderes, irgendwas, das er selbst nicht versteht. Und weil ich nichts verstehe, schließe ich die Augen, und sehe wieder das schmelzende Gesicht der Ratte, und als der Schuss ausbleibt und ich die Augen wieder öffne, sehe ich das Gesicht des Mannes, das langsam zerschmilzt und weich wird und dann lässt er die Schrotflinte sinken.
Er will wissen wie ich heiße und ich sage Fedka und dann will er wissen, was ich mache, außer in fremde Scheunen einzubrechen, und ich erzähle ihm von den Ratten und von den Vögeln, und dann fragt er mich, ob ich für ihn arbeiten will. Will ich, sag ich.
Und jetzt esse ich Eier von Ulinovs Hühnern und all die anderen Leckereien, die seine Vorratskammer hergibt, und helfe ihm auf seinem Hof und den Feldern, was meistens bedeutet, dass ich die Krähen verscheuche, die in den Baumwipfeln ausharren und lauern.
So vergehen die Tage und Ulinov ist zufrieden mit mir. An das harte Gesicht kann ich mich kaum noch erinnern, er nennt mich liebevoll »Vogelscheuche Fedka« und erzählt von seiner Frau, davon, wie sie eines Nachts mit seiner Tochter fortging und nicht mehr wiederkam, und wie sehr er die beiden liebt und vermisst und ich verspreche ihm, die beste Vogelscheuche weit und breit zu werden, damit die Vorratskammer aus allen Nähten platzt, wenn seine Frau und seine Tochter zurückkommen. Und er lacht und er freut sich und sagt ja, mein Sohn.

Dann kommt der Briefträger. Es ist das erste Mal, seitdem ich hier bin, dass Ulinov Post bekommt, und es soll auch das letzte Mal bleiben, denn nachdem der Briefträger ihm den Brief vorgelesen hat, fasst mein Freund sich ans Herz, und ich hätte ihn gerne noch gefragt, was denn los ist, und noch tausend andere Dinge, doch sein Gesicht ist schlohweiß und so hart, wie es damals war, und ich habe Angst und bleibe still. Ich bleibe auch dann noch still, als er zu Boden sackt und fange erst an zu weinen, als ich seinen leblosen Körper in den Armen halte und in ein fremdes Gesicht blicke, eines, das weder hart noch weich ist.

Dann wird Ulinov begraben. Ich war noch nie auf einer Beerdigung, ich verstehe nichts von dem, was der Mann im schwarzen Umhang spricht und werde sauer auf ihn und frage mich, ob er der Tod ist.
In den Friedhöfsbüschen lauern die Ratten wie die Krähen, und nachdem Ulinov in der Erde versunken ist, erschlage ich aus Wut jede einzelne von ihnen, und ich weiß noch nicht mal, ob es Wut ist oder irgendwas anderes, was mich das tun lässt. Ich stopfe sie in den Beutel, den gleichen Beutel, der letzten Herbst noch voll mit saftigen Maiskolben war, früher, als alles besser war.

Denn jetzt sitze ich alleine auf Ulinovs Feld und brate Ratten und sein Gesicht hab ich schon fast wieder vergessen. Aber vielleicht ist er noch da, vielleicht ist mein Freund jetzt der Wind, der die Glut entfacht und das Feuer nährt, der gleiche Wind, der die Funken fliegen lässt, der untergehenden, blutroten Abendsonne entgegen, und das Feld in Brand setzt. Und diesmal wird es mein Gesicht sein, das in den Flammen knackt und dahinschmilzt, und ich werde still sein, während ich langsam auf den Grund des Flusses sinke und aufhöre zu denken.

Bas Lindgaard

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freiVERS | Enno Ahrens

Im Geisterdorf

Ihr Geschrei ist verstummt
keine Kinderhand entzündet
sich mehr an den Nesseln
am Saum der Gärten stehen
sie verschlafen
die Häuser nur noch leere
fruchtlose Hülsen vereinzelt
bewohnt von Alten gefallen
wie aus einer längst
vergangenen Zeit
ein Greis döst in seinem
Lehnstuhl unwirklich
wie ein Rauchermännchen
verschwindet einen kurzen
Moment in dem Qualmwirbel
wie in einem schwarzen Loch

einzig die Ente im
verwilderten Fischteich
zeigt sich befindlich
beim Eintauchen
den Bürzel aufwärts

Enno Ahrens

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freiTEXT | Hannah Bründl

Luftblasenluft, Frieda

Manchmal ist Frieda die Blume. Morgens aufwachen, den Schlaf in Zigaretten ersticken, nichts mehr spüren: hoffentlich. Um Frieda dreht sich das Leben. Und sie hat das größte Verlangen danach. Sie war ein schönes Kind. Weich und gelockt, rund köpfig, speckig. Eine mit Marmelade gefüllte Buchtel.

Die Tiefe hängt sich wie ein Bleigewicht an ihr Inneres. Es wird aus ihr herausgezogen und schwebt nach unten, sie sieht ihm angewidert hinterher. Ein ewig dunkler Raum unter ihren paddelnden Füßen. Fische werden an Stangen von Menschen in schwarzen Anzügen vorbeigetragen. Sie formen Seifenblasen in der kalten Bühnenluft: Haut zerreißende Drahtwindungen mit Seifenlauge.

Friedas Mutter ist oft in der Früh dort gewesen. Große gläsernen Insektenblasen klirren. Sie schwirren blind durch die kalte Luft, klinken hell aneinander. Manche baumeln von durchsichtigen Fäden an den Ästen der Knotenbäume. Friedas Mutter hebt die Äpfel vom nassen Boden. Es ist Frieda immer ein Rätsel gewesen, wie sie so schrecklich jung sein konnte. Sie macht ihr dafür Vorwürfe. Die Äpfel schmecken sauer und tragen altmodische Namen.

Mittwoch ist ein guter Tag für Regen. Das Fenster offen, entblößt vor der sperrangelweiten Welt. Frieda davor. Stumm und sprachlos angesichts der gewaltigen Normalität. Auf ihrer Haut tauchen kleine pulsierende Punkte auf. Sie leuchten, blinken, färben sich blau und platzen in ihr Blut auf. Auf dem Boden unter ihr hat sich eine Pfütze gebildet.

Frieda heißt eigentlich nicht so. Sie ist entwachsen, ist werdend, etwas werdend. Eine Aufgabe meisternd, die Socken zumindest selbst stopfend. Kaffee auf Vorrat kaufend. Und ganz viel Puder auf der Nase. Die Äpfel schrumpeln zwar in ihrer ledrigen Schale dahin, aber Friedas vergangene Mutter kann neue pflücken.

Wenn sich Frieda bückt, um ihr Kleid rauschend vom Boden zu heben und es über ihre Hüften zu streifen, zerrt der Wind ihre Haare hoch in die Luft. Sie war lange nicht mehr zuhause, außerhalb der speerspitzen Türme und Mauern, ist schlaflos angetrieben durch die Stadt gelaufen, aber abends erkennt sie, dass der Herbst beinahe zu Ende ist. Der Sturm hat ihr bereits schlürfend die Haut von den Knochen gesaugt, wie Spaghetti, und die Sonne scheint blank auf die kahle Erde. Alles fehlt.

Nachts ist es ruhig und plüschig in der Luft. Leere Flaschen auf dem Parkett. Das gleißende Licht vertieft die leeren Namen. Jung sein, um traurig zu sein, denkt Frieda. Luftblasen zerbrechen an ihrem runden Kopf. Er verformt sich dabei.

Hannah Bründl

Dieser Text erschien vor kurzem im Souterrain Magazin.

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freiVERS | Steffen Bach

kaugummiautomat

sommer am kaugummiautomat
sommer vorm kaugummiautomat
meine hände sind trocken und glatt
schmiergelig rau weiße Knallerbsen
hängen an dem strauch. der weg ist
zu steil um ihn mit inlinern herunter
zu fahren man müsste sich auf der wiese
abrollen am besten sich auf die wiese werfen
und immer weiterrollen bis der ganze schwung
verbraucht ist das traue ich mich aber nicht
dann werden meine klamotten dreckig

Steffen Bach

Dieser Text erschien vor kurzem in der Anthologie Almanach im Verschlag Verlag.

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freiVERS | Clara Heinrich

frühling

wir jumehrten in der ersten wonne, bistrotteten im sichten gepente. die pursi figerten, das frein gelierte. du sukzessiertest, nur kein tabell, alles bitte nur kein tabell, fruh mich nicht! ich grandete, karierte, gaspelte. du bist ein pepin, abandest du. ich lanzierte dir meschui das dormionte. der etrang war lanur und espisch. wie im denti jaunerten wir, klamaukerten die hepte mit harisch, die greine mit lisen. rüstel ist aber zirrich heute, wirschelst du. quellte wie er zalpe, vertriente ich. ja, quellte wie er zalpe, verlöst du. oh, wie gezerrlich das sichte gepente, gepöselst du noch. Ich gemunierte.

Clara Heinrich

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freiTEXT | Katharina Goetze

Der Senior Change Manager Samsa geht baden und gewinnt an Profil

Diese Dinge passieren gerade dann, wenn man glaubt, man sei auf alles vorbereitet. Das ist klar.

Aber die Erkenntnis, dass ich meine Veränderung nicht ändern kann, traf mich erst, als ich heute Morgen aus der Badewanne stieg und das Wasser von meiner ledernen Haut abperlte, ohne Feuchtigkeit zu hinterlassen. Ich brauchte plötzlich kein Handtuch, die Nässe formte sich auf mir zu kleinen Flüssen, die ihren Weg gen Boden fanden und in den Ritzen der Badezimmerfließen mündeten, wo Ozeane entstanden. Ohne Erstaunen stellte ich fest: Ich war so schnell wie nie zuvor trocken, ich war gut gepanzert gegen das Wasser.

Ich hatte schon eine Weile zuvor den Verdacht gehegt, dass ich in eine Abwärtsspirale geraten bin. In der Burnoutdiagnostik wahrscheinlich irgendwo zwischen Stufe sieben und elf. Man kennt das: Es beginnt mit Rückzug und Meidung sozialer Kontakte, dreht sich dann weiter zu deutlicher Verhaltensänderung, danach bei Stufe neun Depersonalisierung durch Kontaktverlust zu sich selbst und anderen, und so weiter. Bei Stufe zwölf sind die Suizidgedanken kaum mehr auszuhalten und werden in der Regel auch nicht mehr ausgehalten.

Ein paar Wochen oder Monate lang schon hatte ich mich seltsam gefühlt, irgendwie down und under pressure. Seit dem desaströsen Acquisition Pitch in Abu Dhabi mindestens, soweit ich mich erinnere. Als würde ein Gewicht auf mir liegen. Je höher ich mich reckte, je stolzer ich mich aufrichtete, desto weiter drückte es mich nach unten. Und ich griff ja immerhin hauptberuflich nach den Sternen, sollte ich an dieser Stelle erwähnen.

Die Frau war verreist, vielleicht war das schon eine Weile so. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal von ihr gehört hatte. Ich hatte versucht, den Zustand, so gut es ging, zu ignorieren. Mir meine noise-cancelling headphones, die ich sonst nur auf Interkontinentalflügen benutzte, auf die Ohren geschoben, um das Grillenzirpen und Wellenrauschen loszuwerden. Heimlich hatte ich sogar ein paar Pilatesübungen gemacht, und dabei verzweifelt versucht, mein Powerhouse zu reaktivieren.

Gestern war es dann allerdings so schlimm gewesen, dass ich mich fast krankgemeldet hätte.

Es war weniger das Unwohlsein selbst, als die Sorge darüber, dass es mir auffiel. Dass mein Körper plötzlich so präsent war, wie bei keinem Ultramarathon-Training, bei keinem High Intensity Workout zuvor. Wenn es mir in meinem Erwachsenenleben je irgendwie gegangen wäre, so konnte ich mich zumindest nicht daran erinnern. Das hier erschütterte mich.

Aber dann wog die Angst vor den Folgen einer Krankmeldung im Allgemeinen und im Speziellen meinem Chef, dem Director of People and Culture, der in zwei Wochen mein Appraisal durchführen würde, doch schwerer. Ohne einen nicht selbst verschuldeten Autounfall oder Dengue-Fieber brauchte ich es gar nicht zu versuchen.

Also schleifte ich mich durch den Tag. Doch all die Dinge, die mir sonst eine gewisse Befriedigung gegeben hatten – zum Beispiel im Vice President’s Office unter den Augen der Board Members mit Keywords bekritzelte Papierbögen vom Flipchart reißen, allein im Aufzug meinen Elevator Pitch vor dem Spiegel üben und mich dabei filmen, nach 22 Uhr Emails ans Team weiterleiten, oder den Junior Associate bitten, sich bis morgen um meine Reisekostenabrechnungen von letztem Jahr zu kümmern – bewegten nichts in mir.

Nach vier hielt ich es nicht mehr aus und verließ, unter dem Vorwand noch zwei Client Meetings und ein Working Dinner zu haben, das Office. Daheim brach ich schon auf dem Flur zusammen. Das Rooftop Loft war leer. Meine Atemgeräusche prallten an den perlgrauen Wänden ab und verstärkten sich zum Echo, als hätte jemand die Bluetooth Speaker übersteuert. Ich lag auf dem Boden, starrte die Zimmerdecke an und fragte mich, warum niemand außer mir da war. Dabei wurde ich starrer und starrer und der Geruch abgezogener Tierhaut breitete sich aus. Mein Äußeres war ausgetrocknet, hart und unnachgiebig und meine Bewegungen veränderten stufenweise ihre Frequenz. Mein Hirn hatte die Steuerung verloren, ihm hierarchisch unterstellte Körperteile mutierten plötzlich zu Anarchisten, die gegen die Befehle von oben Sturm liefen und frech machten, was sie wollten. Es war ein Zappeln, ein Kribbeln, ein Surren und Zwitschern in mir, ein ganzer wildgewordener Zirkus mit Tigern und Zaubertricks, die ich selbst nicht durchschaute. Ich merkte, wie nutzlos ich allein war. Das Verlangen, von jemand anderem, der die Richtung kennt, mitgenommen zu werden, jemandem einfach nur so zu folgen und behilflich zu sein, kam mir in den Sinn.

Der Gedanke machte mich wütend, dann ängstlich. Grundsätzlich diagnostizierte ich eine tiefe Verunsicherung in mir. Sie saß ein paar Schichten unter der Oberfläche, hatte sich verkeilt unter dem Brustbein, wo sie leise und doch beharrlich vibrierte. Wie konnte das sein? Ich war doch gottverdammtnochmal ein Leader, kein Follower. Ich war ein Creator. Dafür hatte ich mein eigenes American-Style Office mit Jalousien am Ende des Ganges, samt gläsernem Besprechungstisch, gerahmter Banksy-Streetart an den Wänden und bequemen Bean Bags aus einer Kooperative in Guatemala. War ich nicht jemand, zu dem die Heerscharen von Teamleadern und Assistants ehrfürchtig aufschauten, dessen Blick sie bei flüchtigen Begegnungen auf den Korridoren lieber auswichen, jemand der wusste, wo es langgeht?

Doch als erfahrener Change Manager war mir auch klar, dass Change bei den Betroffenen nie gut ankommt. So auch bei mir nicht. Ich versuchte mir die einzelnen Stages nach Lewins Modell in Erinnerung zu rufen. Aber es ist etwas Anderes, wenn man sie auf sich selber anwenden soll, statt auf eine Gruppe alternder Telefonistinnen, deren Jobs nach Manila ausgelagert werden. Wie so viele meiner Stakeholder zuvor, versuchte ich das Offensichtliche zu leugnen, wand ich mich, wehrte ich mich – und gab doch schließlich den Kampf gegen den Change auf. Ich wurde resignierter, schwächer, dann friedlicher. Ganz am Ende der Nacht embracete ich den Change sogar. Ich drückte mich fest an ihn und sog seinen salzigen Meeresgeruch ein. Dann wuschelte ich ihm durch das sonnengebleichte Haar und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze, was uns beide zum Kichern brachte.

Heute Morgen, als der Change in der Küche war, wo er die Espressomaschine übersah und mir stattdessen ein Glas Milch warm machte, während ich das wimmelnde, wuselnde Leben in den Ozeanen zwischen den Badezimmerfließen bestaunte, akzeptierte ich dann endlich, dass ich nicht mehr der Alte war. Ich würde nicht mehr in dieses Büro gehen, ich würde nicht mehr führen können.

Ich bin jetzt nur noch ein Wanderschuh. Das ist die ganze Wahrheit.

Ich bin graubraun, matt. Mit hellbraunen Schnürsenkeln, ohne Einlage, kein Markenname. Die Größe unlesbar, vielleicht eine 42, grob geschätzt.

Die Leute werden Fragen stellen, was das denn zu bedeuten hätte, und ich werde keine Antworten geben können. Die Jüngeren werden es vielleicht noch als selbstironisches Statement interpretieren, der Rest die Blickrichtung ändern, von jetzt an auf mich herabschauen. So oder so wird man über mich reden. Ein Wanderschuh, gütiger Gott. Noch nicht mal ein Sneaker, noch nicht mal ein Mid Cut, werden sie sich zuraunen. Noch nicht mal „Just do it!“.

Aber was soll ich ihnen entgegnen, wozu mich mit ihnen anlegen. Es ist ja so, wie sie sagen. Ich erhebe nicht mehr den Anspruch, irgendetwas Besseres zu sein. Lieber verbringe ich mein Leben in einer Ecke stehend, jedenfalls solange da niemand kommt, der mich will.

Auf der Haben-Seite rechne ich mir zu, dass ich imprägniert bin und eine robuste Sohle mit ordentlichem Profil besitze.

Ich habe keinen Selbstzweck und kenne keine Selbstwirksamkeit.

Ich muss jemanden halten, um rennen zu können.

Katharina Goetze

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