freiTEXT | Marlene Gölz

Arbeitsdienst

Aspern/NÖ, 1942

Ich war 18. Eine trostlose Gegend. Rundherum: gar nichts. Das Lager, ok, da muss ich durch, dachte ich. Die Leiterin hat  zu mir gesagt: Du, da ist ein Ehepaar, Bauern, die haben gerade eine Tochter verloren. Das wär was für dich. Da schick ich dich hin. Na servus, dachte ich. Gut, ich hab meine Sachen gepackt und bin hin. Auf dem Hof: Nichts. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Ich hab geklopft, keine Reaktion. Dann bin ich ins Haus, bin in die Küche. Niemand da. Von der Küche die nächste Tür, stand ich schon im Stall, direkt daneben. Die Kühe von hinten. Dann hör ich ein Klopfen. Ganz regelmäßig. Es kam vom Hof. In der Tür war ein kleiner Spalt, da hab ich durchgeschaut. Stand da ein Mann, mitten im Hof, und hackte Holz. Das wird der Knecht sein, dachte ich und bin hin zu ihm. Grias di, sagte ich. Bist du der Knecht? Na i bin da Bau´, sagte er und ich dachte: Das fängt ja gut an. Er hat mir gleich aufgetragen, ich sollte den Hof kehren, und den Stall. Sauber aber, sagte er, sauber müsste ich das machen. Ich sags dir, ich hab den Stall geputzt und gewischt, dass die Kühe ausgerutscht sind, so sauber.

Einmal musste ich auf dem Feld Disteln stechen, den ganzen Tag. Nicht mit einem Spaten, sondern mit dem Taschenmesser. Bei brennender Hitze. Ich konnte nicht genug arbeiten bei denen. Am Abend schimpfte mich die Lagerleitung, weil ich zu spät heimgekommen bin. Du musst schon pünktlich sein, hörst du? sagten sie. Aber ich hatte keine Uhr, wir durften keine Armbanduhr tragen bei der Arbeit. Da hat die Bäuerin eine Küchenuhr gekauft, mit aufs Feld genommen und in die Ackerfurche gesteckt. Aber weißt du was? Da konnte sie nicht ticken, die Uhr, in der Furche. Bin ich wieder zu spät gekommen. Das war was. Bald war ich die Einzige, die eine Armbanduhr tragen durfte. Waren keine guten Leut, dieses Ehepaar. Und mir hat gegraust, beim Essen. In der Küche sind die Hühner herumgerannt und zu Mittag stand ein großer Topf in der Mitte, alle haben draus gegessen. Und wenn sie fertig waren, haben sie den Löffel noch mal ordentlich abgeschleckt und ihn zurück in die Schublade gelegt. Ich hab mir aus dem Lager meinen eigenen Löffel mitgenommen, eingewickelt in ein Geschirrtuch, jeden Tag.

Irgendwann kam ein Bauer vom Nachbarort ins Lager, der sagte: Wir brauchen dringend eine, aber eine die sich nicht vor Tieren fürchtet. Das ist meine Chance, dachte ich und hab mich gemeldet, obwohl ich ja kaum Erfahrung hatte. Da bin ich dann hingekommen, zu den nächsten Bauern. Liebe Leut. Bei denen konnte ich bleiben. Haben einen Korb mitgenommen aufs Feld, eine Jause und was zu trinken. Und das mit den Tieren, das hab ich ganz gut hingekriegt. Hat sich sogar herumgesprochen. Einmal musste ich ein Kalb zu einem anderen Bauern treiben, quer durch den Ort. Mitten auf dem Marktplatz ist es stehen geblieben, es wollte partout nicht weitergehen. Es ist ja nicht so leicht, die gehen ja nicht immer wenn sie sollen. Ja was mach ich jetzt, sagte ich mir. Da stand ich, links den Strick, rechts einen Stock. Aber ich kann das Kalb ja nicht schlagen, dachte ich. Dann ist mir eingefallen, was sie immer gesagt haben: Wenn eine Kuh nicht gehen will, einfach den Schweif raufdrehen. Na das hab ich gemacht. Du, das Viech hat einen Satz getan, mir ist ganz anders geworden. Der Strick hat sich immer enger um mein Handgelenk gezogen und irgendwann war der Strick halt aus. Und da hab ich Hilfe gerufen weil ich es nimma halten konnte. Dann sind zwei Männer gekommen, die haben mich gehört, und begleitet.

Bald ist ein anderer zum Hof, der hat nach mir gefragt. Du kannst doch mit Tieren, sagte er. Da ist eine Kuh, die will nicht in den Wagon, Schlachttransport, wir brauchen Leut. Bin ich halt mit. Als ich den Stall betreten hab, stand da keine Kuh sondern ein Riesenstier mit Scheuklappen. Mir ist ganz anders geworden. Ich eh so klein, stand ich da, mit meinen Zöpfen, und sollte den Stier dazu bringen mitzugehen. Da hab ich einfach zu reden begonnen. Damit er sich an meine Stimme gewöhnt. Hab ihm irgendwas erzählt, und bin dann langsam immer nähergekommen. Und als ich dann vor ihm stand, hab ich ihm vorsichtig die Hand auf die Stirn gelegt, ihn gestreichelt und immer weitergeredet dabei. Und dann ist er mitgegangen mit mir. Bis zum Wagon. Bei dem Ehepaar bin ich geblieben, bis zum Schluss. Die waren gut zu mir.

Viele Jahre später, ich war längst verheiratet und meine zwei Buben erwachsen, war ich mit meinem Mann mal in dieser Gegend. Du, wenn wir schon da sind, sagte ich zu ihm, schaun wir doch, ob das Lager noch steht. Das Lager stand nicht mehr. Aber den Bauernhof haben wir gefunden. Ich bin ausgestiegen aus dem Auto, mein Mann ist sitzengeblieben, bin zur Tür und hab geklopft.

Bist du der Bauer hier?, hab ich gefragt.

Und er: Ja, der bin ich.

Kennst mi nu?

Freilich, hat er gesagt, du bist die Öfried.

Er hat immer Öfried gesagt zu mir, nicht Elfriede.

Deaf i einakuma?

Kum eina, hat er gesagt.

Wir haben uns so gefreut, uns zu sehen. Er war lieb. Aber es war auch traurig, weil es war so armselig in der Stube. Seine Frau hat ihn verlassen und alles mitgenommen. Die hat ihn ruiniert, die hat ihm alles genommen. Sein Selbstvertrauen, weißt du. Wir haben uns die Hand gehalten, der Bauer und ich. Und irgendwann kein Wort mehr geredet. Nach einer Weile bin ich aufgestanden, zurück zum Auto, zu meinem Mann.

 

Marlene Gölz

 

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freiVERS | Andreas Hippert

Analogie

Eingerollt
die Ringelnatter
reglos
in der Stille
des Sandsteinbruchs.

Vibrierend
die Mücke im Genick
den Bohrer ins
Schuppensediment
treibend.

Aufsteigend
hinter der Natter
die Abbruchkante
eine rohe Wunde
im Berg.

Andreas Hippert

 

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freiTEXT | Markus Grundtner

Das eine, das andere und das seltsame Dazwischen

Das eine, was ich in meinem Studium der Rechtswissenschaften gelernt habe, ist, dass es keinerlei Sinn hat, Vorlesungen zu besuchen.
Zum Beweis dafür möchte ich von meiner Einführungsvorlesung in die Rechtsphilosophie berichten. Mittlerweile nenne ich diese Episode liebevoll „das seltsame Dazwischen“.

Am Anfang meines Studiums sitze ich also in der ersten Reihe des größten Hörsaals des Juridicum Wien.
Da taucht hinter dem Vortragspult plötzlich – so als hätte er sich dort bis zu diesem Moment verborgen –, ein grauhaariger und grünbebrillter Mann auf, der bekleidet ist mit einem Sakko (perfekt sitzend), einer Jeans (ausgewaschen) und einem Hawaiihemd (sauber gebügelt).

Der Mann stellt sich dem Hörsaalplenum nicht vor. Aus diesem Grund heißt er ab nun der Einfachheit und Anschaulichkeit halber Herr Just.

Just eröffnet seine Einführung in die Rechtsphilosophie mit den Worten: „Unendlich ist das Universum, zahllos seine Normen.“

Er tritt an die große grüne Tafel und schreibt die Worte „Sein und Sollen“ darauf. Er sagt: „Das Universum existiert und seine Normen gelten. Die Existenz des Universums lässt sich auf das Faktum des Urknalls zurückführen, die Geltung aller Normen auf die Geltung der allerersten Norm – der Urnorm. Es gilt nun, diese Urnorm zu entdecken, um das Innerste des Universums zu erkennen.“

Just beginnt Rechnungen auf die Tafel zu kritzeln. Die Zauberformel „nicht prüfungsrelevant“ bleibt unausgesprochen. Alle schreiben mit.

Just rechnet weiter wild vor und sagt dabei: „Mathematisch gesehen ist die Urnorm der Quotient aus einer Division von Alpha und Omega oder die Summe einer Addition von Non plus Ultra. Die Urnorm ist aber – gleichgültig nach welcher Berechnungsart – eine Kommazahl. Jenseits des Kommas steht eine weitere Zahl. Wen es interessieren sollte: Das ist Gott. Aber das wird gnadenlos abgerundet.“

Ich schüttle meine Hand. Sie schmerzt vom Mitschreiben. Ein wenig erschöpft frage ich mich, ob ich in meinem Studium nun bereits so große Fortschritte gemacht und derart grundlegende Erkenntnisse gewonnen habe, dass es jetzt schon zu spät für mich ist, noch österreichischer Bundeskanzler zu werden.

Just fährt unbeirrt fort und sagt: „Die Mathematik bringt uns aber – wie so oft – nicht weiter.“

Alle Anwesenden nicken.

„Mathematik ist nicht Recht. Sie können also alles vergessen, was wir gerade besprochen haben.“

Alle Anwesenden starren auf ihre schmerzenden Hände.

Just sagt: „Wir müssen die Urnorm auf juristischem Wege suchen: Die Urnorm findet sich am Anfang einer langen juristischen Verweiskette von Paragraphen und Artikeln, die sich wiederum in Absätze, Sätze, Ziffern und Buchstaben aufgliedern.“

Ein Raunen geht durch den Hörsaal, welches Just anscheinend als Ausdruck des erfreuten Erstaunens fehldeutet.

„Begleiten Sie mich auf meiner legistischen Expedition! Uns erwartet eine eingehende Betrachtung aller Menschenrechte gegenübergestellt mit allen Verkehrsschildern, aber auch eine diffizile Untersuchung des Völkerrechts im Vergleich mit den allgemeinen Geschäftsbedingungen von Mobilfunkverträgen und zu guter Letzt eine tiefschürfende Analyse des Gewohnheitsrechts unter Zuhilfenahme der Anleitungen sämtlicher Brettspiele des Universums.“

Nun versucht Just, den Beamer zum Laufen zu bringen. Dieses traurig anzusehende Unterfangen ist gleichbedeutend mit einer Pause, die eine halbe Stunde dauert.

Als Just die Widerstände der Technik überwunden hat, projiziert er ein Regelwerk an die Wand des Hörsaals.

Er nennt es: „Die zehn Gebote (novelliert)“.

Dann trägt er die einzelnen Paragraphen vor, als wäre der nichtfunktionierende Beamer (der lediglich eines einfachen Drucks auf die Einschalttaste seiner Fernbedienung bedurft hat) ein Berg gewesen, von dem Just soeben mit seinen zehn Geboten herabgestiegen wäre.

Sein Gesicht leuchtet, als er vorträgt:

„§ 1. Gesetze der Natur und Gesetze des Menschen sind unvollständig.

§ 2. Es gibt keine Regel ohne Ausnahme. Gäbe es eine Regel, die keine Ausnahme hätte, dann wäre die Regel selbst die Ausnahme, weil alle anderen Regeln Ausnahmen haben.

§ 3. Die Ausnahme davon ist die Urnorm.

§ 4. Je mehr Paragraphen oder Artikel eine Norm aufweist, desto größer ist ihre Entfernung von der Urnorm.

§ 5. Das Universum ist die Manifestation der faktischen Kraft des Normativen. Der Mensch hingegen ist der Sklave der normativen Kraft des Faktischen.

§ 6. Der Mensch erlässt mehr und mehr Normen, anstatt die bestehenden Normen allesamt und sofort aufzuheben. Der Mensch muss aufhören, ein Mensch zu sein. Wenn der Mensch die Urnorm entdecken will, muss er zur Urnorm werden.

§ 7. Die Urnorm hat sich verselbständigt, seit es den Urnormsetzer nicht mehr gibt. Daher sieht das aktuelle Universum auch so aus, wie es aussieht: Chaotisch, unlogisch und immer schlechtes Wetter.

§ 8. Wer die Urnorm kennt, begreift den Anfang des Universums. Wer den Anfang des Universums begreift, versteht, wie das Universum funktioniert, und kann das Universum neu normieren.

§ 9. Im Gegensatz zum aktuellen Universum ist das zukünftige Urnorm-Universum nicht revidierbar. Es stünde kein Rechtsmittel offen, welches die Aufhebung des Universums ermöglichen würde. Denn wenn alle Menschen die Urnorm erkannt haben und nach dieser Erkenntnis handeln, gibt es keine Formalfehler mehr.

§ 10. (1) Wenn aber eine Norm auftauchen sollte, die niedergeschrieben wurde, und als Urnorm betitelt ist, kann es nicht die Urnorm sein.

(2) Wenn ein Mensch vor einer Ansammlung anderer Menschen tritt, und Inhalte vorträgt, die nach Angaben des Vortragenden zur Urnorm führen oder die Urnorm gar beinhalten, kann dieser Mensch nicht der Verkünder der Urnorm sein.

(3) Die Urnorm ist jeglicher Form der Verschriftlichung unzugänglich. Die Urnorm ist und bleibt ungeschrieben. Die Urnorm ist perfekt. Denn nur das, was ungeschrieben ist und ungeschrieben bleibt, kann perfekt sein und perfekt bleiben.“

Hier endet der Vortrag von Just nicht: Er versteigt sich in unzähligen weiteren Absätzen, Sätzen, Ziffern und Buchstaben seines zehnten Gebots in die Beschreibung seiner Urnorm, so als wäre sie ein Wirbel im Zentrum des Universums, in den er hineingefallen ist.

Nach gut zwei Stunden verständigt jemand den Sicherheitsdienst der Universität. Just wird Hörsaalbesetzung vorgeworfen. Die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes führen ihn ab und übergeben ihn – als Reaktion auf diverse minderschwere Handgreiflichkeiten seinerseits – den Organen der Strafverfolgungsbehörden.

Für den Rest des Semesters fällt die Vorlesung aus. Wir mögen bitte einfach daheim in unseren WG-Zimmern das Lehrbuch auswendig lernen, so wie alle vernünftigen Studenten es tun, teilt uns die Fakultätsleitung mit.

Just sehen wir niemals wieder. Das ist übrigens das andere, was ich in meinem Studium gelernt habe: Bloß, weil jemand das Recht hat, sich in einem Bagatellstrafverfahren selbst zu verteidigen, heißt das noch lange nicht, dass er von diesem Recht auch Gebrauch machen sollte.

Markus Grundtner

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freiVERS | Manon Hopf

UNTER UNSEREN Atem ein
Ziehen, wir hechten mit
den Bächen ins Moor
dort asten wir
unter den Bäumen liegen
unsere Beine wie
Wurzeln nach einem
Sturm aus den Röcken
gehoben heben wir den Schritt
in die Luft, tragen
am Waldrand das Gesicht
auf den Schenkeln

 

Manon Hopf

 

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freiTEXT | Mario Huber

5. Branco, der Beschützer

Als Branco klein war, wuchsen Katzen auf den Bäumen. Es gab kleine Bäume mit roten und gefleckten Katzen, es gab große Bäume mit länglichen, dunkelgrünen Blättern, die schneeweiße Katzen trugen und es gab Büsche mit schwarzen Katzen, die im Wind wild fauchten. Branco war kaum vier Jahre alt, als er mit seiner Familie sein Dorf verließ. Aber nicht nur das: Er und seine Familie zogen nicht nur in ein anderes Dorf oder einen anderen Landesteil, sondern sie zogen in ein anderes Land. Dort sah er Katzen wie Hunde durch die Straßen laufen, aber keinen einzigen Katzenbaum. Langsam vergaß er die Landschaft seiner Kindheit, vergaß die Menschen, die Gesichter, die Gerüche, die Autos, die Süßigkeiten im Geschäft und an der Tankstelle und schließlich auch die Katzenbäume. Die Welt um ihn herum schien einzuschlafen. Mit neunzehn Jahren begann Branco zu studieren. Er wollte Arzt [1] werden. Da er nicht sehr reich war, suchte er nach Arbeit, um dem Träumen ein Ende zu setzen. Da entdeckte er eine Anzeige am Schwarzen Brett der Universität: Suche Beschützer. Sehr gute Bezahlung. Branco war ein Beschützer, dass wusste er von sich. Er wählte die Nummer auf dem Zettel und wartete gespannt mit dem Telefon am Ohr. Nachdem es dreimal geläutet hatte, wurde das Telefon am anderen Ende abgehoben und eine Stimme, weder männlich noch weiblich, aber sehr alt, fragte: Bist du mein Beschützer? Branco antwortete: Ja. Die Stimme holte tief Luft und sagte: Dann komm heute kurz vor Sonnenuntergang zu mir, ich werde dir deine Aufgabe erklären. Nimm nichts mit was dir lieb ist, aber bring mir eine Sache, die du nicht entbehren kannst. Dann hörte Branco nur noch ein Klicken und das Gespräch war beendet. Er wollte noch nach der Adresse fragen, aber aus einem unbestimmten Grund wusste er sie ohnehin. Seltsam, dachte Branco.

Mit dem Gefühl, einen schweren Stein um seinen Hals zu tragen, fuhr Branco mit seinem Fahrrad los. Der Wind strich ihm durch die Barthaare. Je näher er dem Hügel am Rande der Stadt kam, desto mehr veränderte sich die Umgebung, die Häuser wurden schöner, größer und vor allem älter. Als er sein Fahrrad vor der schönsten, größten und ältesten Villa abstellte, trug er das Gewicht der ganzen Welt um den Hals. Kaum hatte er sein Rad versperrt, öffnete sich die Tür der Villa einen schmalen Spalt und Branco meinte ein leises Schnurren zu hören. Doch dann trug der Wind diese fort und Branco wurde von einer Hand, ganz versteckt im Türrahmen, näher herangewunken. Hast du mir etwas mitgebracht, was du nicht entbehren kannst?, fragte die Hand. Doch bevor Branco antworten konnte, schob die Hand die Tür auf und ein freundliches Gesicht gesellte sich zu ihr. Vielen Dank, sagte das Gesicht, du bist jetzt mein Beschützer. Mit einem Mal hoben sich Brancos Schultern vor Leichtigkeit.

Komm nur herein, sprach das Gesicht weiter, ich werde dir deine Arbeit erklären. Es ist nicht viel, was du tun musst. Es ist eigentlich nur eine Kleinigkeit. Branco spitzte seine Ohren. Das Gesicht zog plötzlich seine Augen zusammen und die Hand griff nach etwas im Dunklen. Branco wich zurück und versuchte, er wusste nicht warum, sich zu entspannen. Ohne Übergang wanderten die Augen wieder an ihre übliche Stelle und die Hand tänzelte ruhig. Der Moment schlicht lautlos um die Ecke. Du musst die Katzen aus meinem Garten vertreiben, hörte Branco schließlich. Sie sind eine Plage. Sie verwüsten alles und machen vor nichts Halt. Wenn ich noch eine Katze in meinem Garten sehe… Der Satz blieb unvollendet, stattdessen verschwand der Schlaf aus Brancos Welt. Die Menschen, die Gerüche, die Bäume fielen ihm wieder ein. Wo ist der Garten, fragte er. Hinter dem Haus, bei dem Bäumen, dort wo die Katzen sind, antwortete er sich selbst. Als er in den Garten blickte, für alles bereit, hatte er das Gesicht bereits vergessen, nur die Hand reichte ihm noch sein Werkzeug.

Im Garten öffnete sich der Himmel plötzlich und ein letzter Sonnenstrahl vor der tiefen Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht richtete sich auf eine bestimmte Stelle. Als Branco seinen Blick dem Licht folgen ließ, sah er die Sonne in den Augen einer jungen Katze leuchten. Er hob sein Werkzeug, das er erst in diesem Moment als Hammer erkannte, und schleuderte es in Richtung der funkelnden Augen. Dasselbe wiederholte sich in den folgenden Tagen und Wochen immer und immer wieder. Sobald die Sonne durch die Wolken brach, erschien eine Katze und Branco schützte das Haus und seinen Bewohner. Das Denken fiel Branco leicht in dieser Zeit. Die Dinge fügten sich ineinander und auf jeden Tag folgte eine traumlose Nacht. [2] Er hatte aufgehört die Katzen zu zählen und war erfüllt von seiner Aufgabe.

An einem Abend, der nahende Herbst lag bereits in der Luft, fand Branco einen Zettel im Garten. Er lag im hintersten Winkel, an einer Stelle, an der Boden bis zum Ende des Frühlings noch vom Winter feucht blieb. Er hob den Zettel, der von oben bis unten mit kleinen, sehr feinen Buchstaben beschriftet war, auf und begann zu lesen: An den Wächter des Hauses und an den Überbringer der Taten: Ich sehe dir bei deiner Aufgabe jeden Tag zu. Du bist sehr mutig und gewissenhaft, das ist zu loben. Du bist aber auch ungerecht und vorschnell, das ist zu verurteilen. In einer Woche wird deine Arbeit enden und was du geborgt hast, obwohl du es nicht entbehren kannst, wird dir für immer genommen. Nur ich kann dir helfen, es wieder zu finden. Lasse die nächste Katze, die den Garten betritt, passieren und ich werde dir ein Beschützer sein. Branco hatte den Zettel kaum fertiggelesen, da erfasste ihn ein Windstoß und mit leisem Fauchen flog er davon.

In den folgenden Tagen ließ sich keine Katze im Garten blicken. Weder morgens, noch mittags, noch abends. Jeden Tag ging Branco unverrichteter Dinge nach Hause. Mit jedem Tag wurde er angespannter. Der Garten hatte sich bereits auf den Winter eingestellt und der Wind trug die Kälte in Brancos Gesicht. Plötzlich saß eine Katze im Garten. Sie hatte ein dunkles Fell und ihr fehlte eine Pfote. Branco vertrieb sie aus dem Garten. Im selben Moment öffneten sich die Tür in seinem Rücken und der Himmel. Eine Hand und ein Vogel schossen heraus und fassten Branco am Kopf und am Hals. Die Tür schlug wieder ins Schloss und der Vogel verschwand in der Hand samt Brankos Gleichgewicht. Der Boden unter ihm und der Wind neben ihm vermischten sich, die Luft bestand aus Federn. Die Tür öffnete sich abermals und das Gesicht trat heraus, nahm Brancos Augen und verschwand damit. Er spürte Katzen um seine Beine. Seine Haut war nicht mehr vom Fell zu unterscheiden. Er wollte nach den Katzen fassen, aber sie hatten seine Finger und Hände genommen. Zwischen all dies schob sich ein leises Geräusch, ein Summen und Pochen. Langsam formte sich daraus eine Stimme, Worte und Sätze. Als Branco die Worte, die Sätze, die Stimme verstand, konnte sie keiner außer ihm noch hören.                                                                                            , sagte die Stimme. Dann wurde die Welt wieder still und Branco begann zu träumen. [3]


[1]

Arft W, burd) D0ftor erie$t (aber itt Wult1tbar;t, Xi et a ròt 110&) Vovutàr gebliebett); id)01t im 16. òûf)tf). Itillttllt 2 0 C t O r bie •S2tr3t' alt (1561 30c 1616 126 20C to r e Ì) fiir CS2)tebicirt i , bellifd) 127 alld) 2 octor filt '21?3f ; id)01t im 17. òabrf)S. b er b o c te ril („id) fiabe (o biel berboctert" )ìic. Xolcflttar, 40 Dialogi 1625 21, 162 b). 21 lilliere arzât, arÀt SIR. : tilt ipe;ififd) btllt ill horse-leeell 'Tierar3t'; bd31t Itbb. (Sigeltltalltc d) It e r làehentere (bei. 'fili inti$er eeifrdl'it'). ealttlilf)t at)b. arzât mit arzïter areiàtor archiâter filt bCV111ittef11 jillb Ilitf)t Xed)lt. gtiecf). iriif) illS (bgl. r), ftetà*erillittlltltg. Ciliâtge medico, mire, f13. médecin, òie freitid) iillb ;l'iber arz- Z!ertrettr At. c;ezt-i. 2ie Illittelrtyeitt. abi. arzâttat. artista ilt (diltlid) mirò Ilttat. artista fili' YAebi3i1tcr artiste vétérinairej ; dltd) iit òCllt [iltevell treiietl archiatri bereite bei belli •tQ1tfe11fi11ig (Sl)ilüfreri bei (Sh•ofitlt. — E. i. Arzyenei.

 

[2]

Europa III

Meine Eisenbahn fährt:
Von Dundee bis nach Sarajevo,
nicht ganz.
Vom Polarlicht bis zum Bosporus,
nicht ganz.
Sie ist blankgeputzt,
freundlich besichtert.

Sie ist:
rot wie die Liebe,
blau wie die Liebe,
grün wie die Liebe,
gelb wie die Liebe.
Und weiß, natürlich.

 

[3]

 

Mario Huber

 

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freiVERS | Bianca Boer

Vaste grond

Ik zal voor jou de plattegrond van het huis borduren, mama,
in zwarte lijnen. Erover met gekleurde draad een lijsterbes,
goudsbloemen, je forsythia. Laten we niets vergeten, ik schrijf
alles voor je op, ook al zal jij je schamen dat onze vuile was
op de muren staat. Ik zorg voor dekkende verf, blokwitters.

Waarom ben ik altijd bang? Omdat jij altijd bang was voor alles
wat zou kunnen gebeuren. Zo bang als nu heb ik je niet eerder
gezien. Je staart voor je uit, wordt stram, valt stil. In mij een
diep verlangen sokken voor je te breien. Koude voeten blijven
zeuren en hoe meer gedachtes je overhoudt, hoe beter het is.

Er komen al minder mensen langs. Welke stemmen zitten er in
je hoofd? Vriendinnen? Oude buren? Praat je met oma? Zegt ze
tegen je dat je niet bang hoeft te zijn? Het is gewoon het leven.
Ze is nog bij je, zoals jij nog bij mij bent. Ik heb maar een moeder
waar ik nog steeds naar terug kan rennen.

Je bent gestopt me te bellen, je weet niet meer hoe dat moet.
Ik had buikpijn toen ik dat eindelijk begreep. Niemands schuld.
De eerste vaardigheid die je verliest. Ik wil tegen je zeggen dat
het niet erg is. Geeft niets. En dan kijk je me aan alsof je heel
even zag dat ik ook iemand anders was.

Het dorp zingt. We horen het binnen. Jij verschoof de wereld,
mama. Jij versleepte mij, ontroerde mij, jij leerde me de dagen,
ik besta uit regels, wij zijn poezie, ik heb je nodig. Het is wel erg
natuurlijk. Zo bedoel ik het niet. Het is het ergste. Ook al ben ik
nu zelf moeder, dat wil niet zeggen dat ik hier klaar voor ben.

Koffiezetten kun je wel, dus ga ik op bezoek in het huis dat ik
borduur. De stoelen aanraken, mijn voeten in je sloffen steken,
merken dat de vloer onder de tafel is verschoven. Wie dacht je
dat ik was? Iemand dichtbij, niet zomaar iemand, maar toch?
Lichamen herinneren zich alles. Welk jaar is het nu?

Ik ben bang voor oranje zeewater. Bang voor de lange termijn.
Bang dat je anthurium doodgaat. Ik ken iemand die tien soorten
zwart onderscheiden kan en daarover een uitlegvel maakte. Daar
heb ik behoefte aan. We zijn niet meer wie we gisteren waren,
geen mens leeft terug.

Borduren levert inzichten op. Het gaat zo langzaam als het gaat.
Vooruit werken heeft geen zin. Je kunt nog tellen, help me dan.
Borduren is hier zijn. Jij houdt niet van handwerken, je weet niet
van wie ik dat heb, niet van jou, zeg je. Papa zegt dat je nog
gehaktballen braadt.

Stel je voor dat er mensen zijn die dit lezen. Ik zal tegen ze zeggen
dat dit een liefdesgedicht is. De muren staan. Ik ben al bijna bij je.
Ik borduur nog wat vogels en verlang ernaar de straat op te gaan,
met een stok langs het hek te ratelen. Een gedicht te worden. We
moeten het over afscheid hebben. Afscheid heeft warme handen.

 

Bianca Boer

 

Fester Boden

Ich werde den Grundriss des Hauses für dich sticken, Mama,
in schwarzen Linien. Darüber mit farbigem Faden, eine Vogelbeere,
Ringelblumen, deine Forsythie. Lass uns nichts vergessen, ich schreibe
alles für dich auf, auch wenn du dich schämen wirst für unsere
schmutzige Wasche. Ich sorge für deckende Farbe, Flächenstreicher.

Warum habe ich immer Angst? Weil du immer Angst hattest vor allem,
was passieren konnte. So verängstigt wie jetzt habe ich dich nie zuvor
gesehen. Du starrst vor dich hin, wirst steif, schweigst. In mir ein
tiefes Verlangen, Socken für dich zu stricken. Kalte Füße quälen ständig
und je mehr Gedanken du übrig hältst, desto besser ist es.

Es kommen schon weniger Leute vorbei. Welche Stimmen sind
in deinem Kopf? Freundinnen? Alte Nachbarn? Sprichst du mit Oma?
Sie sagt zu dir, dass du keine Angst haben musst? Es ist nur das Leben.
Sie ist immer noch bei dir, so wie du bei mir bist. Ich habe nur eine
Mutter, zu der ich immer noch zurückrennen kann.

Du hast aufgehört, mich anzurufen, du weist nicht mehr, wie das geht.
Ich hatte Bauchschmerzen, als ich das endlich verstand. Niemand ist
schuld. Die erste Fertigkeit, die du verlierst. Ich will dir sagen,
dass es nicht schlimm ist. Macht nichts. Und dann guckst du mich an,
als hattest du ganz kurz gesehen, dass ich auch jemand anderes war.

Das Dorf singt. Wir hören es drinnen. Du hast die Welt verändert,
Mama. Du hast mich geschleppt, mich bewegt, mir die Tage gelehrt.
Ich bestehe aus Regeln, wir sind Poesie, ich brauche dich. Das ist sehr
schlimm natürlich. So meine ich das nicht. Es ist das Schlimmste.
Obwohl ich selbst Mutter bin, heißt das nicht, dass ich dazu bereit bin.

Kaffee kochen kannst Du, also gehe ich zu Besuch in das Haus, das
ich sticke. Die Stühle berühren, die Füße in deine Pantoffeln stecken,
merken, dass der Boden unter dem Tisch verschoben ist. Wer, dachtest
du, bin ich? Jemand Nahestehendes, nicht irgendwer, oder doch?
Die Körper erinnern sich an alles. Welches Jahr ist es jetzt?

Ich habe Angst vor orangenem Seewasser. Angst vor dem langen
Termin. Angst, dass dein Anthurium stirbt. Ich kenne jemanden, der
zehn Arten Schwarz unterscheiden kann und ein Merkblatt darüber
gemacht hat. Das brauche ich. Wir sind nicht mehr, wer wir gestern
waren, kein Mensch lebt rückwärts.

Sticken liefert Einblicke. Es geht so langsam, wie es geht.
Vorausarbeiten macht keinen Sinn. Du kannst noch zahlen, also hilf
mir. Stickerei ist hier sein. Du magst keine Handarbeiten, du weist
nicht, von wem ich das hab, nicht von dir, sagst du. Papa sagt, dass
du noch Frikadellen brätst.

Stell dir vor, dass es Leute gibt, die das lesen. Ich werde ihnen sagen,
dass dies ein Liebesgedicht ist. Die Wände stehen. Ich bin fast bei dir.
Ich sticke noch einige Vogel und sehne mich danach, auf die Straße zu
gehen, mit einem Stock den Zaun entlang zu rasseln. Ein Gedicht zu
werden. Wir müssen über Abschied reden, Abschied hat warme Hände.

 

Aus dem Niederländischen von Matthias Engels

 

Aus dem Buch ‚All over Heimat‘ (Hg. von Matthias Engels, Thomas Kade, Thorsten Trelenberg; stories & friends 2019) - Leseprobe

 

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freiTEXT | Jürgen Flenker

Inseln

Niemand ist eine Körperschaft, niemand kann aus seiner amtlichen Haut. Die meisten halten gerade in turbulenten Zeiten an ihrem Inseldasein fest. Splendid isolation. Umso wichtiger ist es, den Stürmen zu trotzen und an ortsveränderlichen Geräten festzuhalten. Die Zentren wandern, die Peripherien sind auf dem Vormarsch. Aktuellen Wachstumsprognosen zufolge kann es auch umgekehrt sein. Mehr denn je kommt es darauf an, wo man steht. Oder fällt.

Freilich kann eine solche Entwicklung, zumal im öffentlich-rechtlichen Raum, leicht zu Verwerfungen führen. Die alten Feindschaften pflanzen sich fort, nicht zuletzt bei Stromausfall. Den Bäumen kann das nur recht sein. Zum Glück gibt es lichte Haine und Strukturfonds für Gebiete mit Entwicklungsrückstand. Nachschub durch Breitbandversorgung. Die Enge hat abgewirtschaftet, das Dickicht wird gelichtet. Überall mehr Durchlässigkeit, ausgebleichte Flecken, saubere Schnitte.

Osmotischer Austausch. Auch zwischen Ost und West. Formlose Anschreiben genügen. Abholzungen sind selten und behördlich genehmigt.
Und dennoch, allen Migrationshintergründen zum Trotz: Das Kirchturmdenken bleibt im Dorf. Der stumme Organist zieht die letzten Register der Stille, die krummen Alleen entziehen sich den Kurvendiskussionen durch Flucht. Auf den katzengebuckelten Gassen lauter Leisetreter. Flurbereinigung war gestern. In den windstillen Ecken wird am geldwerten Vorteil der Zukunft gearbeitet. Spatzen flattern über abgefrühstückte Felder und aus dem Licht, das über den Ackern aufgeht, stricken sich die Bevollmächtigten amtliche Westen mit Silberstreifen.

Ca ira!

Jürgen Flenker

Aus dem Buch ‚All over Heimat‘ (Hg. von Matthias Engels, Thomas Kade, Thorsten Trelenberg; stories & friends 2019) - Leseprobe

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freiVERS | Fabian Lenthe

Hier muss es nicht enden
Sagte sie

Und damit hatte sie Recht
Seit Jahren hatte ich keinen wahreren Satz gehört

Du könntest noch etwas bleiben
Fiel ihr ein

Oder wir verschwinden zusammen
Entgegnete ich

Du wolltest doch schon immer von hier weg
Lass uns einmal sehen wie weit wir kommen

Und wenn uns das Leben erwischt
Flüsterte sie
Dann stellen wir uns einfach tot

 

Gewidmet an Vera Freytag

Fabian Lenthe

 

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freiTEXT | Stefan Reiser

St. Marienkirchen

Wie es mir denn gehe, was ich denn so treibe, man höre und sehe ja seit Jahren nichts mehr von mir, stürzte sie bei der Hochzeit eines gemeinsamen Freundes auf mich zu. Vorigen Sonntag erst, sagte ich, sei im Festsaal des hiesigen Kirchenwirts die letzte Vorstellung meines Stückes gewesen. Ausgerechnet der Dernière sei, zum größten Bedauern des Ensembles, nicht der andernorts übliche Publikumsandrang beschert gewesen. Wo das denn zu lesen gewesen sei, sie sogleich, sie habe nichts erfahren. Lobpreisung in jeder Zeitung, auf allen Titelseiten mein Gesicht, ich darauf, wie komme es nur, dass ihr das entgangen sei? Wo sie jetzt wohne, ob in Kopfing, Pimpfing, im Ausland oder gar in St. Aegidi? Sie lachte und erzählte, wie sie vor einigen Jahren mit ihrem Mann ein Haus gebaut habe, hier in St. Marienkirchen, gleich dort drüben, hinter der Kirche stehe es. „Armes St. Marienkirchen“, ich wiederum, „wohin die Post nichts mehr austrägt! Seltsam ...“, schob ich um mich blickend noch eins hinterher, „ist da nicht bis vorigen Sonntag überall plakatiert gewesen? Habe ich nicht selbst vor, neben und hinter der Kirche die Werbeständer aufgestellt?“ Kurzes Schweigen. Dann ich, bemerkend, zu weit gegangen zu sein, einen Schritt zurück; dann sie, ich solle ihr nächstes Mal persönlich Bescheid geben, wenn ich wieder etwas veranstalte, unbedingt rechtzeitig, damit sie sich von Kind und Kegel freinehmen könne; dann ich, mich wegdrehend, dass zum jetzigen Zeitpunkt an ein nächstes Mal nicht zu denken sei - ein ganzes Jahr hätte ich sieben Tage die Woche gearbeitet, ich bräuchte nun dringend eine Pause -, worauf sie ein „Aber freilich, jaja!“ erwiderte und dass wir uns nach der Kirche sicher noch sehen würden, auf einen weiteren Plausch, aber genau verstand ich nicht mehr, was sie sagte, der Abstand war schon zu groß.

Drei Jahre später, auf dem Kirtag, sah ich sie wieder. Ob alle die Ihrigen seien, sprach ich sie an und meinte drei kleine Buben, die sie, während sie sich um den vierten im Kinderwagen kümmerte, mit Wasserpistolen und Holzschwertern umkreisten. Gott, nein, sagte sie, der mit der Rüstung gehöre ihrer Schwester. Oha, Katharina – das war, wie könnte ich ihn je vergessen, der Name ihrer etwas jüngeren Schwester –, wie es ihr denn gehe, was sie denn so treibe, wollte ich wissen, und wo sie stecke, sie könne sich doch nicht einfach so aus der Affäre ziehen, während auf ihren Kleinen mit einem Waffenarsenal pausenlos eingedroschen werde, einfach so aus dem Staub machen und alle anderen, die sie brauchen und lieben, sich selbst überlassen. Ganz so schlimm sei es nicht, ich tue ihr unrecht, zumal Katharina heute mit ihrem Mann auf der Baustelle sei, gab sie zurück. Dem einzig Unbewaffneten wurde jetzt ein Häubchen aufgesetzt. „Hinterm Kirchenwirt, das zweite Haus rechts, mit der Doppelgarage, schau’s dir an.“ Außerdem habe „Tante Kathi“ in der Vergangenheit immer auf die Lausbuben aufgepasst, Tag und Nacht auf Abruf. Nun sei es an der Zeit, sich zu revanchieren. Das dürfe sie gar nicht laut sagen, aber dank ihrer Schwester habe sie in den letzten zehn Jahren eigentlich nie aufs Fortgehen verzichten müssen, trotz Kind und Kegel.

Zu alledem schwieg ich. Eine Einladung zum Grillabend lehnte ich ab, dankend, und unter Angabe fadenscheiniger Gründe. Nicht unser Gespräch vor drei Jahren, sondern der Tanzkurs vor zwanzig Jahren, als sich ihre Schwester zu einem Abbruch gezwungen sah, war mir wieder eingefallen.

 

Erschienen in: GAV OÖ (Hrsg.), X-BLATT. Heft für Literatur im Textautomaten, Nr. 5, Linz 2020.

Stefan Reiser

www.stefanreiser.com

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