freiVERS | Urs Böke
1. April 2018Urs Böke,LiteraturLyrik,freiVERS
Feldjacke
Urs Böke
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freiTEXT | Alexander Kerber
30. März 2018Alexander Kerber,LiteraturfreiTEXT,Prosa
immer wieder schön, das ende der welt
mosaiksonntag. wir sind alle sternchen, steinchen, kies. im getriebe steckt der kies und macht, dass die zahnräder der bürokratie nicht mahlen. da braucht man dann öl. öliges öl so ganz grau oder braun, zwei farben, die sich meistens sehr ähnlich sind.
am bürosonntag ist man von blattwerk eingedeckt. sortier die blätter schon, komm! trau dich, ordnung zu machen. siehst du? in die folie mit dem blatt und abheften. alphabetisch? papperlapapp! unsinn, sag ich dir. sortier nach dem datum.
meldebescheinigung hier, mahnung da. bankkonto, betriebskrankenkasse, gesundheitskarte, tan-liste. michael burnham sagt engage. pilzsporen in lungen und kopf.
arno denkt an die ukraine und masturbiert zum piktogramm des sternzeichen löwe.
rundfunkbeitrag, beitrag zur gesellschaft, wir sind papierhaufen, wir sind unterlagen, nummern, einsortieren, abheften. der schattenkönig war eine dunkle aber erhabene gestalt. seine haut bücherseiten. was für ein nachtmahriger albtraum eine gestalt aus diesen blättern wäre. gewerkschaft für erziehung und wissenschaft. wissenschaftliche buchgesellschaft. diba diba du. bkk-vbu.
schneid dir die finger nicht wund am papierschnitt, sagt die mutter. der tote vater ist ein ablagestapel von akten. aktenzeichen ungelöst, der fernseher ist allgegenwärtig. fiona kauft sich einen waschsalon und nimmt eine hypothek auf ihr haus auf. monika stirbt. frank ist immer noch nicht tot. debbie ist dumm, lip macht dumme sachen. die sachlage ist folgende: du bist begraben unter papier, das du nicht beschrieben hast. dabei bist du doch nur auf der suche.
frank und lip suchen auch nämlich alkohol. deine zitternde hand sucht kaffee und kippen. gut für die gesundheit ist das beides nicht.
die große gesundheit sagt nun aber folgendes: sei die große krankheit, die große überwindung, der große tod.
tot ist man länger als lebending, denkt man sich. denken ist dann auch vorbei. schreiben ist vorbei. atmen, so schwer es auch fallen mag, ist dann auch vorbei. lebensabseits.
im abseits steht man dann mit einer katze an der leine, die schnurrende sprache. sie ist nämlich kein hund wie elfriede sagt, sie ist und war schon immer eine katze. statt neun hat sie unendlich viele leben. unendlich viele perspektiven. unendlich viele mosaiksteinchen fell, die glitzern im halbschatten.
im halbschatten steht man im abseits, am ende ganz allein. wie es immer ist. auch die sprache spendet keinen trost vor sprachlosigkeit. leben ist einübung in die große einsamkeit, die am ende des absatzes steht.
Alexander Kerber
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freiVERS | Hasune El-Choly
25. März 2018Hasune El-Choly,LiteraturLyrik,freiVERS
Zwischen Motten
Da waren noch Namen an den
Klingelschildern, verschwommene
Lettern in Großbuchstaben,
hinter einer dünnen Schicht aus
beschlagenem Glas.
In den ersichtlichen Spuren einer
kalten Winternacht, versteckend im
zerbrochenen Lichtkegelschein der
Haustür, wo Motten in vorbeifliegenden
Lichtern in Ehrenrunden versinkend
zu Boden fielen;
war alles leer und still.
Und so fielen auch wir.
Hasune El-Choli
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freiTEXT | Ann-Christin Kumm
23. März 2018Ann-Christin Kumm,LiteraturfreiTEXT,Prosa
So oder anders
Sie bleibt stehen.
Die Bäume sind grün geworden, es muss in den letzten Wochen passiert sein, sie weiß es nicht, plötzlich Blätter. Die Sonne rutscht über den grauen Asphalt. Seine Haare sind rot.
Was weiß sie über ihn?
Er mag keine Eier, er will, das hat er dem mit dem Leberfleck gesagt, nichts essen, was jemandem aus dem Arsch gekrochen sei. Als er klein war, trat seine Mutter auf sein Lieblingsmatchboxauto. Mit Absicht. Er raucht Gauloises (sie freut das, es kommt ihr besser vor als Camel, sie hat sich oft vorgenommen ihn nach einer Zigarette zu fragen, er könnte ihr Feuer geben, seine Hand an ihrem Gesicht. Sie schafft es nie).
Er hat Sommersprossen im Halsausschnitt. Er hat keine Tätowierung auf den Oberarmen. Er ist gut. Sie nur manchmal, es gibt immer zu viel andere Dinge, außerdem ist sie faul, war sie schon immer.
Das Wichtigste, denkt sie oft, das fehlt. Das weiß sie nicht. Sie mutmaßt nur, und Mutmaßungen helfen nicht.
Jedes Mal stand es in ihrem Zeugnis, tut zu wenig, könnte mehr, so ein langweiliger Satz. Jedes Mal wartete sie auf die neue Formulierung, die nie kam; ein einziges Wort anders, das hätte schon gereicht.
Sie glaubt nicht, dass er jemals solche Sätze in seinen Zeugnissen gefunden hat.
Die erste Woche, sie hat es aufgeschrieben, aber sie hätte es auch so behalten, das erste Mal regnete es. Ihre Haare waren ein bisschen feucht. Sie saß ganz hinten, sie sitzt immer hinten, die Wand kühlt die Schultern, wenn man in der letzten Reihe sitzt. Und keiner kann auf ihren Hinterkopf starren. Sie hat den noch nie gemocht. Wenn sie als Säugling, gleich am Anfang, in den Spiegel geschielt hätte, sie hätte das da schon gefunden. Was für ein hässlicher Hinterkopf. Im Spiegel bekommt man kaum ein richtiges Bild davon, aber auf Fotos ist es eindeutig. Als hätte man ein Stück abgemeißelt.
Sein Kopf ist komplett. Schon deshalb kann sie ihn nicht ansprechen.
Sie steht da, sie fühlt genau, wie groß ihre Augen sind, der Straßenlärm hält nicht mit. Ihr ist ein bisschen übel.
In seinen Kopf passt also viel hinein. Auf der Liste hat sie seinen Namen gesucht, sie zählt die Leute ab zwischen ihm und ihr. Sie macht es jede Woche. Sie hat sich vorgetastet, eine Reihe, dann zwei, meistens sitzt er im vorderen Drittel. Sie hat die Wand verlassen. Sie kommt nicht immer auf denselben Namen, manchmal unterschreibt jemand nicht, das stört das System. Aber es gibt Wahrscheinlichkeiten.
Es gibt, denkt sie, hinübersehend, Wahrscheinlichkeiten.
Sie hat ihn ein einziges Mal berührt. Er stellte sein Tablett neben ihres auf das Band, sie drehte sich zu schnell um, er entschuldigte sich freundlich, er ging sehr schnell weg. Sie stand und beobachtete seine Nudelreste beim Verschwinden. Sie traute sich nicht.
Heute ist sie zu spät. Das erste Mal. Sie stimmt sich immer mit ihm ab, das weiß er nicht, aber sie geht immer direkt nach ihm in den Raum. Er ist ein pünktlicher Mensch. Oder das Thema interessiert ihn sehr. Oder beides.
Inzwischen sitzt sie direkt hinter ihm, ihm und dem mit dem Leberfleck, der immer dabei ist. Sie mag den mit dem Leberfleck nicht, aber er ist wichtig. Sie hört ihnen zu, manchmal schreibt sie etwas auf, zwischen die Zahlen. Er könnte es merken. Es kann sein, eines Tages dreht er sich um und fragt sie, warum sie sich immer hinter ihn setzt.
Was sie dann tun wird, weiß sie nicht.
Sie hat überhaupt immer das Gefühl, dass sie angestarrt wird. Wenn sie die Treppen zu ihrer Wohnung hochgeht, bedeutet jedes Stockwerk eine Pause. Schon seit einiger Zeit kauft sie fast jeden Tag ein, es sind dann viel kleinere Mengen. Sie geht in verschiedene Läden.
Wenn es also nicht der Hinterkopf ist, das kann sie sich problemlos ausmalen, dann ist es das. Er kann sie so nicht wollen. Sie würde es selbst nicht.
Die Sommersprossen an seinem Hals hat sie schon gezählt, wie oft, weiß sie nicht, oft. Die Anzahl hat sie aufgeschrieben. Überhaupt wird sie die Vorlesung nächstes Semester wiederholen müssen.
Seinetwegen, denkt sie. Das Wort gibt allem einen guten Klang.
Sie sieht, wie er sein Fahrrad an den Plakaten vorbeischiebt, wie er sich die Haare aus der Stirn holt, wie er den anderen ausweicht.
Deshalb muss sie stehen bleiben. Sie sieht.
Ihn zu küssen stellt sie sich nie vor. In ihrem Studiengang gibt es nicht viele Frauen. Und keine, die so sind wie sie. Man hat sich gewundert, was willst du denn damit, wenn es wenigstens Medizin gewesen wäre, als Mädchen. Sie hat die Familie jetzt schon eine Weile nicht mehr gesehen, nicht mal an Weihnachten. Sie will keine Fragen beantworten.
Sie denkt sich oft aus, wie sie ihn doch noch anspricht, in ihrem Kopf ist es einfach, in ihrem Kopf ist es real. Sie könnte ihn nach seinen Unterlagen fragen, falls er ihr keine Zigarette geben will. Er sollte es jedenfalls nicht. Sie war da allerdings noch nie gut drin. Verantwortung ist keins ihrer Wörter, es gehört nicht zu ihr. Sie hat also Angst.
Ob es darum mit dem letzten nicht geklappt hat, weiß sie nicht. Wenn sie versucht ihn zu erinnern, dann springen die roten Haare dazwischen. Es hätte viel mehr sein können. Mit hätte kommt man nicht weiter. Mach das nicht, hat er immer wieder gesagt, es war ihm wichtig, aber sie kann nichts dafür. Mach das nicht, es passt nicht zu dir, er hat sie gebeten. Dass sie da hingeht, dass es aus der Welt ist. Wegmachen. Er hat ihre Wörter auch gekannt. Seine Nachrichten bleiben unbeantwortet. Sie haben einfach aufgehört sich zu sehen.
Vielleicht, denkt sie, ist der Rothaarige nur da, weil sie letztes Jahr nicht richtig zugehört hat. Dabei glaubt sie gar nicht an Schicksale.
Sie sieht ihn, er ist fast vorbei, er braucht Monate, denkt sie, für diese kurze Strecke.
Sieh her, denkt sie. Sieh mich an. Er ist fast vorbei.
Als sie anfing, aus ihrer Kleidung zu platzen, hätte sie gern jemand anders in die Geschäfte geschickt. Es war keiner da. Vielleicht muss das so sein. Vielleicht braucht man das, aber wenn sie schöner wäre, wenn sie nicht so unförmig wäre, wie sie jetzt ist, dann könnte er sie bemerken. Sie hat sich noch nie überreden können.
Ihr Gesicht ist jetzt plötzlich in einer Schräglage. Es wird immer schräger.
Und er sieht sie an.
Der Krach in ihrem Kopf ist ganz zeitversetzt, der mechanische Krach, er ist hässlich. Die Bremsen tun in den Gehörgängen weh, etwas geht kaputt. Sie hört eine junge Frau schreien, es ist verwunderlich, denkt sie, dass jemand anders auch ihre Stimme hat. Sie würde gern überprüfen, ob ihre noch da ist, aber sie hat keine Zeit. Sie kann ihre Tasche sehen, wie sie sanft neben ihrem Gesicht auf die Straße klatscht. Das gehört da alles nicht hin, sie weiß das, sie ist sich sicher. Die Haut schürft über den Teer. Der Teer ist ziemlich warm. Dann hört die Bewegung auf. Sie schließt die Augen.
Als sie ein Kind war, hatte sie einen Hund. Er war klein und hässlich und gelb, ihre Eltern hatten nicht diskutiert, als sie vor seinem Käfig stehen blieb. Er kam überall hin mit. Nur in die Badewanne durfte er nicht, sie tat es heimlich, wenn sie allein waren. Sie tröstete ihn, wenn er sich nicht schön fand. Für sie war er schön, war seine Krummheit schön und sein Stummelschwanz und sein linkes Auge, das heller war als das andere. Sie war überzeugt, dass er alles verstand, was sie ihm in die verfilzten Ohren sagte.
Der Geruch nach Blut und Hundescheiße, als er überfahren wurde.
Die Arme und Beine da, denkt sie, die gehören ihr gar nicht. Man hat sie dort abgelegt, ohne sie zu fragen. Es sind so viele Menschen auf der Straße, es wird bald Sommer, bald werden sie mit ihrem Eis spazieren gehen. Ein Eis wäre jetzt gar nicht schlecht, der Geschmack kriecht über die Zunge. Ihr fällt ein, dass sie zu spät zur Vorlesung kommt. Das ist ihr noch nie passiert.
Es vergeht Zeit. Sie macht die Augen wieder auf, als sie etwas gefragt wird, sie reagiert. Jemand möchte das.
Sie denkt an seine Augen, es war etwas Komisches in ihnen, sie kommt nicht darauf, was es war. Sie wird hochgehoben und hingelegt. Sie macht die Augen ein zweites Mal auf.
Das ist, denkt sie, alles sehr freundlich. Sie würde gern aufstehen und gehen, irgendwo muss ihre Tasche sein, da sind alle ihre Unterlagen drin. Sie würde auch Finderlohn bezahlen, bestimmt hat sie jemand aufgehoben, es ist eine blaue Tasche, denkt sie. Der Reißverschluss ist an einer Stelle ausgefranst.
Sie würde gern gehen. Sie wagt es nicht, es scheint nicht vorgesehen zu sein. Jemand hat ihr etwas an den Kopf geklebt.
So sieht das also aus, denkt sie. Was war denn in seinen Augen, es fällt ihr nicht ein, das stört sie.
Der kleine gelbe Hund mochte keinen Schaum. Deshalb badete sie immer ohne, solange er da war. Es war ein echtes Opfer. Sie hat die Badekugeln ihrer Mutter sehr geliebt, sie hatten bunte Farben, giftbunt, sie rochen gut. Sie glitschten einem durch die Hand, wenn man sie ins Wasser hielt.
Sie würde sich gerne am Arm kratzen, auch das ist irgendwie nicht vorgesehen. Dieser hochgewölbte Bauch vor ihr, ihr Bauch, sie hält sich nicht damit auf. Sie würde gern etwas sagen. Jemand diskutiert, der Himmel, denkt sie, ist sehr blau heute. Es ist ihr nur selten passiert, dass man Dinge mit ihr macht, und sie ist nur einmal beim Arzt gewesen, das ist wie mit dem Rauchen und allen Verantwortungsdingen, denkt sie. Dann vergisst sie es.
Sie sieht ihn an.
Er sitzt neben ihr, hier ist nicht viel Platz, wie hat er das geschafft, denkt sie, sein Gesicht ist so nah bei ihr, dass sie es anfassen könnte. Sie will ihn fragen, wo er sein Fahrrad gelassen hat.
Sie lächelt ihn an, sie ist sicher, dass ihr ganzer Körper lächelt. Sie muss den Kopf nur wenig drehen. Er hat ihre Hand genommen, er isst keine Eier, seine Mutter hat sein Lieblingsauto zertreten, er raucht, er hat ihre Hand genommen. Matchboxautos, denkt sie, kriegt man doch gar nicht kaputt. Das Licht ist sehr hässlich, aber ihm kann es nichts anhaben. Er streichelt ihr Haar, sie ist verblüfft, dass er das gleichzeitig tun kann, dann fällt ihr ein, dass er ja zwei Hände hat.
Jemand sagt, dass dem Baby sehr wahrscheinlich nichts passiert ist.
Sie hört es nicht.
Ann-Christin Kumm
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freiVERS | Nikola Huppertz
18. März 2018Nikola Huppertz,LiteraturLyrik,freiVERS
camera obscura
flüchtig kommen
und gehen die Szenen
es sei denn
ich gewähre ihnen einlass
in den papiernen raum
meiner gedanken
und drehe und wende und
stelle sie auf den kopf
so lasse ich sie eine weile
im abglanz der wörter verharren
und du kannst sie betrachten
ehe ich mich wieder verschließe
und sie im dunkeln
verschwinden
Nikola Huppertz
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freiTEXT | Olaf Lahayne
16. März 2018Olaf Lahayne,LiteraturfreiTEXT,Prosa
Die grelle Griselda
Sie hieß nicht wirklich Griselda.
Eh klar. Wer nennt sein Kind schon Griselda?
Sie nannte sich also selbst so. Griselda Grill, alias die grelle Griselda. Grill, so hieß sie wirklich. Mit Nachnamen. Mit Vornamen eigentlich Gisela.
Gisela, werden Sie jetzt sagen, das ist ja kaum besser als Griselda!
Nun, Gisela hatte halt eine gleichnamige Oma als Taufpatin. Eine durchaus wohlhabende Patin. Eine Patin, die ihre erste Enkelin stolz über den Taufstein hielt.
So lange jedenfalls, bis Gisela zu schreien anfing.
Das Geschrei war – man ahnt es – grell.
So grell, dass es außerhalb der Kirche zu hören war.
Sagt man.
Auf der anderen Straßenseite.
Jenseits einer sechsspurigen Hauptverkehrsstraße.
Aber das ist natürlich übertrieben.
Vermutlich.
Jedenfalls ließ sich die Großmutter künftig nur noch selten sehen. Im Gemeindebau aber, wo Giselas Familie lebte, da erweiterte sich rasch deren Bekanntenkreis. Leute schauten vorbei, die Vater und Mutter noch nie gesehen hatten. Selbst Nachbarn aus dem Parterre. Dabei wohnten die Grills im sechsten Stock. Und die Fenster wurden nur geöffnet, wenn Gisela schlief.
Also eher selten.
Angeblich schuf damals ein Nachbarsjunge den Spitznamen ›die grelle Gisela‹. Ein Junge, der erst seit ein, zwei Jahren im Land war, und Grell, Grill, das verwechselt man schon mal.
Wie auch immer: Bald schon, da fanden Giselas Eltern ein Mittel, ihr Töchterchen zu kalmieren: Nämlich mit Zuckerln und Spielzeug. Und Gisela lernte rasch. Sie lernte auch, dass man ein Mittel nicht überstrapazieren darf, wenn es wirksam bleiben soll. Somit schrie Gisela nur noch selten so grell, dass der halbe Gemeindebau aus den Federn fiel.
Auch in der Schule, da lernte Gisela schnell.
Und wer glaubt, dass sie dauernd störte: Oh nein!
Jedenfalls nicht dauernd. Nur, wenn es passte. Ihr. Oder auch anderen. So wurde sie prompt Klassensprecherin. Niemand störte, wenn sie sprach. Niemand sprach, wenn sie die Stimme erhob. Das mied man besser.
Sie meldete sich aber auch sonst zu Wort.
Im Unterricht. In allen Fächern. Ganz normal. Normal für ihre Verhältnisse, heißt das. Nicht gerade grell, aber nie sagte wer ›Lauter, Gisela!‹
Niemals!
Die Lehrer liebten sie. Meistens. Gisela konnte man immer fragen, selbst wenn keiner aufzeigte. Sie wusste immer was zu sagen. Klar, oft war es Unsinn, aber, so sagte man ihr: Besser was Falsches sagen als gar nichts!
In der Schule, da lernte Gisela wirklich was fürs Leben: Grell, das sind nicht nur Töne, nein, grell können auch Farben sein.
Grelles Grün, grelles Blau, grelles Rot. Besser noch: Grelles Gelb. Beim Zeichnen und Malen, da mochten die anderen Schüler Farben mischen, doch nicht Gisela: Stets nahm sie nur die reinen Farben.
Wie Gisela mit der Schule fertig war, da war ihr auch klar, was sie machen wollte: Kunst! Irgendwas mit Kunst!
Auch an der Universität, da lief es gut für Gisela. Schon im ersten Semester bekam sie ein Stipendium. Dazu verfasste ihr ein Kommilitone etwas theoretisches Zeugs zu dem Zeugs, das Gisela anfangs produzierte, von wegen Reinheit der Farbe, Berufung auf den Pointilismus, so etwas halt. Denn anfangs, da benutzte Gisela weiter die unvermischten Grundfarben. Auch ihren echten Vornamen benutzte sie noch, aber das änderte sich bald: Und zwar mit der Entdeckung dessen, was als ‚Grellweiß’ bekannt werden sollte.
Aber der Reihe nach.
Von einem Chemiker – dem Cousin jenes Kommilitonen –, da hörte Gisela von einem Farbstoff, der Weißer als Weiß sein soll, der mehr Licht ausstrahle, als er absorbiert, bis zu 30 Prozent mehr.
Unmöglich, sagen Sie?
Was meinen Sie, wie Ihre Waschmittel funktionieren?
Wie Ihre Gardinen Weißer als Weiß werden?
Weißmacher, das ist das Zauberwort! Die machen aus Ultraviolett sichtbares Licht.
Ist also nichts Neues. Neu war, dass dies auch bei normaler Farbe funktionierte, Farbe, die man wie üblich verarbeiten konnte, mit Pinsel, Rolle, Spachtel und Spray.
Dies, das wusste Gisela gleich, war genau ihr Ding. Und dank eines Anwalts – ein Nachbar jenes Cousins ihres Kommilitonen –, da gelang ihr der Coup: Für den Bereich der Bildenden Kunst erhielt sie einen Exklusiv-Vertrag: Sie und nur sie durfte da diese Farbe nutzen, ein Weiß, das ‚Grellweiß’ getauft ward. Und bei der Gelegenheit, da wurde Gisela zu Griselda, mit Eintrag im Ausweis und allem.
Dies war gefundenes Fressen für die Presse, und Griselda gab ihr, was sie wollte: Kuriose Fotos, schrille Stories, schräge Interviews, grelle Geschichten eben.
So ward ›die grelle Griselda‹ geboren. Von einer Designerin – der Freundin jenes Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – bekam sie Klamotten auf den Leib geschneidert, alles in Grellweiß. Griselda erwog gar, ihre schwarzen Haare platinblond zu färben, aber ihr Friseur – der Bruder jener Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – riet ihr ab. So begnügte sie sich einer Sonnenbrille, in Schwarz, wenn auch nicht in Vantablack.
Natürlich setzte Griselda ihr Grellweiß ein, wo immer sie konnte. Sie wechselte zu grellweißen Installationen, bevorzugt aus Objekten, die vorher Schwarz waren: Alte Pneus, Vinyl-Platten, Smokings, Unterhaltungselektronik, ganze Klaviere. Auch dafür verfasste ihr jener Kommilitone theoretische Texte; schließlich muss man irgendwas neben die Werke schreiben.
Am liebsten aber trug Griselda diese Texte selbst vor, in Interviews, auf Ausstellungen, immer in Grellweiß gestylt, immer sehr selbstsicher, wenn auch mit inhaltlichen Abschweifungen, die viele befremdeten. Aber gute Stories gab es allemal ab.
Griselda merkte natürlich, dass sie gut ankam. So ging sie dazu über, Auftritte auch unabhängig von ihrer Kunst anzusetzen. Bei Happenings, bei Demos, bei Poetry Slams, in Talkshows. Stets lieferte sie eine Show ab, nicht immer eine gute, doch eine wirkungsvolle allemal, eine, die in Erinnerung blieb.
Eh klar, dass bald Agenten auf Griseldas Auftritte aufmerksam wurden. Speziell einer, nämlich der Vater jenes Bruders der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – der übrigens nicht auch der Vater der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen war. Denn der Bruder, der war eigentlich ein Halbbruder.
Wie auch immer: Er – der Agent also –, der vermittelte Griselda den Kontakt zu einem Manager – seinem Golfpartner –, und der verschaffte ihr erste Auftritte, ließ ihr Songs und Videos auf den Leib schreiben, die Griseldas Organ und Erscheinung erst so recht zur Geltung brachten.
Das schlug ein. Wie eine Bombe. Eine grellweiße Bombe.
„Sie lässt Britney Spears und Lady Gaga bieder wirken“ hieß es. Rasch war ein Slogan geboren: „Grell, greller, Griselda.“
Dank ihres Managers stiegen Griseldas Gagen, stiegen die Preise für ihre Kunst um das Zehn- und Hundertfache. Ihre Alben stürmten die Charts, Alben, alle natürlich mit grellweißen Covern, die das ›White Album‹ blass aussehen ließen. Kurz, Griselda scheffelte Geld, richtig Geld.
Natürlich kam es, wie es kommen musste: Schon bei ihrem dritten Album, da hieß es, es sei unoriginell, allzu kommerziell, und die Kunstkritiker bemängelten, dass sie sich bei ihren Installationen nur noch selbst kopiere. Da konnte Griselda nur grinsen: Genau genommen, kopierten mehrere, bescheiden bezahlte Kunststudenten für sie.
Irgendwann, da schlug ihr Manager vor, dass Griselda auch als Schauspielerin arbeiten könne; er habe schon das eine oder andere Angebot. Griselda ließ sich das durch den Kopf gehen.
Damit stand sie vor der Wahl:
- Sie konnte versuchen, sich weiter zu steigern, bis ihr Publikum sie nicht mehr sehen, nicht mehr hören konnte und wollte.
- Sie konnte sich wiederholen, bis die Kopie von der Kopie von der Kopie immer blasser wurde, bis sie irgendwann tot von der Bühne fiel.
- Sie konnte versuchen, sich neu zu erfinden, sich ein neues Image zu verschaffen.
- Sie konnte Schluss machen. Klar, sie war erst knapp über Dreißig, aber sie hatte ihr Geld gut angelegt, dank ihres Anlageberaters, übrigens ein Parteifreund jenes Golfpartners des Vater vom Halbbruder der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen. Jedenfalls konnte sie bequem vom Kapital leben.
Griselda entschied sich für letztere Option.
Sie machte Schluss.
Mit der ihr eigenen Konsequenz: Keine Kunst mehr, keine Auftritte, kein grelles Scheinwerferlicht mehr, keine grellen Töne.
Was aus ihr wurde, wollt ihr wissen?
Falsche Frage!
Hier gibt’s kein Fadeout, sondern einen harten Schnitt.
Ende.
Olaf Lahayne
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freiVERS | Harald Kappel
11. März 2018Harald Kappel,LiteraturLyrik,freiVERS
beiläufige Sätze
unter der gelben Kugelleuchte
bei den Wollsocken
liegen beiläufige Sätze
ein wundersamer Frieden
du küsst durch
meinen lauten Großvortrag
hindurch
ein groteskes Nebeneinander
von verlegenen Worten
und risikoloser Leidenschaft
sie führt
schon bald
zur Bauchhochzeit
und ins Möbelhaus
die hellen Stunden
versiegen im Holzregal
dort steht lange die Weile
und zahlt den Preis
für beiläufige Sätze
unter der Kugelleuchte
bei den Wollsocken
Harald Kappel
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Leipzig 2018
Wir gebens ja zu: Wir sind ziemlich nervös. Unser erstes Jahr auf der Buchmesse Leipzig. Also, keine Sorge: Wir verbraten unser spärliches Geld nicht für Standgebüren. Aber wir kommen mit zwei nigelnagelneuen Büchern, vielen motivierten mosaik-Menschen – und die neue mosaik25 nehmen wir auch mit. Und weil es gegen die Nervosität hilft, haben wir einen auf Streber gemacht und zusammengeschrieben, was es denn so alles tolles gibt...
Dass diese Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, versteht sich von selbst. Die Auswahl erfolgte vollkommen subjektiv - und sicher haben wir genausoviele (mindestens so tolle) Veranstaltungen übersehen. Du bist der Meinung, da fehlt was? Schreib uns!
Wir fangen natürlich mit Eigenwerbung an: Gleich zwei (in Zahlen: 2) neue Bücher stellen wir euch in Leipzig vor.
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mosaik-Auswärtsspiel
Franziska Füchsel | Lisa Viktoria Niederberger
Samstag, 17. März | 20:00 Uhr | Textat (Erich-Zeigner-Allee 64) | Eintritt frei
Zwei der spannendsten Stimmen junger Literatur stellen ihre ersten Bände vor: Franziska Füchsel arbeitet sich mit viel sprachlichem Feingefühl an grundlegenden Fragen der Bedeutungsebenen ab; Lisa Viktoria Niederberger entwickelt in ihren Texten einen Sog, der scheinbar unaussprechliches sinnlich erfahrbar macht. Moderation: Marko Dinic & Josef Kirchner.
Eine Kooperation der edition mosaik mit dem Textat Textatelier.
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Die Lyrikbuchhandlung kann man eigentlich täglich besuchen. Als Initiative für junge Lyrik-Verlage ist sie grundsätzlich mit offenen Armen zu begrüßen, dann wartet auch noch ein unglaubliches Programm. Namedropping: Katharina Schultens, Johanna Schwering, Moritz Gause, Mario Osterland, Martin Piekar, Jonis Hartmann, Tobias Roth, Nico Feiden, Yevgeniy Breyger, Rick Reuther und viele viele mehr...
Eine Übersicht gibt es zum Beispiel >> hier <<
Mittwoch - Freitag | Kunstraum D21, Demmeringstr. 21
Unseren Herausgeber Josef kann man auch am Samstag erleben. Zusammen mit Alexandru Bulucz von der „Faust Kultur“ und Andreas Heidtmann vom „poetenladen“ diskutiert er unter der Moderation von Sabine Scholl die Bedeutung junger Literaturzeitschriften, die auch über die gedruckten Exemplare hinaus wachsen und Autor*innen fördern. Veranstaltet wird das ganze vom LCB.
Samstag, 17. März | 16:00 – 17:00 Uhr | Forum Literatur Halle 4, Halle 4, Stand F100
Der wunderbare homunculus Verlag ladet drei Menschen ein, die wir sehr schätzen: Julia Grinberg (kennt man zum Beispiel aus der mosaik24), Gorch Maltzen und natürlich den wunderbaren Tobias Roth (zuletzt insbesondere durch seine Übersetzungen aus dem Italienischen bei uns präsent. Und dann natürlich der Titel der Veranstaltung und des Buches: „Menschenfresser der Liebe“ (gibts auch bei uns im Gschäft!)
Samstag, 17. März | 14:30 – 15:00 Uhr | Leseinsel Junge Verlage Halle 5, Stand G200
Unsere wunderbaren Kolleg*innen der PS – Politisch Schreiben sind auch da! Sie stellen ihre dritte Ausgabe der Zeitschrift vor: Dem Magazin geht es darum, dass sich Schriftsteller_innen politisch positionieren und nicht darum, literarische Texte an politische Inhalte zu binden. Autor*innen der 3. Ausgabe von PS geben Einblick in ihre Praxis politischen Schreibens und den literarischen Teil der Zeitschrift. >> zur Veranstaltung <<
Sonntag, 18. März | 11:00 Uhr | Kulturfabrik Leipzig, Frauenkultur e.V., Windscheidstr. 51
Was noch?
Ghayat Almadhoun hat einst in der mosaik19 unsere erste BABEL-Sektion mit einem unglaublich intensiven Gedicht eröffnet. Am Freitag liest er um 15 Uhr (Nordisches Forum, Halle 4, Stand C400) >> Zur Veranstaltung << und dann nochmal um 19 Uhr bei der Nordischen Lesenacht mit vielen anderen. >> zur Veranstaltung <<
Maren Kames kennt man zum Beispiel aus der mosaik21. Sie diskutiert am Do, 15. März um 19 Uhr gemeinsam mit Anja Kampmann, Ulf Stolterfoht und Mathias Zeiske von der Leipziger „Edit“ im DLL (Wächterstr. 34) über das Verhältnis von Literaturzeitschriften und jungen Autor*innen.
Danach gibt es am 15.3. um 20:30 den traditionellen Indie-Abend im Beyerhaus (Ernst-Schneller-Str. 6), u. a. mit Sven Heuchert (könnte man in Zweifel zwischen Zwieback kennengelernt haben) und vielen anderen. >> zur Veranstaltung <<
Marie Gamillscheg war einst bei der mosaik14 mit dabei - am Samstag um 10:30 stellt sie ihren ersten Roman vor! >> zur Veranstaltung << - am Freitag zuvor kann man sie um 19:30 hören >> zur Veranstaltung <<
Judith Keller war Teil von Lyrik für alle - am Samstag stellt sie um 12:30 ihr Debut vor. >> zur Veranstaltung << - am Freitag ist sie Teil der Lesenacht am DLL ab 20:30 >> zur Veranstaltung <<
Vom neuen Buch von Simone Hirth findet ihr eine Rezension in der neuen mosaik25. Wer sich selber überzeugen möchte: Samstag, 14:30 >> zur Veranstaltung <<
Jetzt hören wir mal auf. Wer sich durch das Programm wühlen möchte: www.leipziger-buchmesse.de/Programm
freiTEXT | Kerstin Meixner
9. März 2018Kerstin Meixner,LiteraturfreiTEXT,Prosa
…dann kriecht man eben
Am Eingang des Friedhofs: Plötzliche Kindheitserinnerungen. Gedankenstakkato. Die erste Woche an einer neuen Schule und die damit verbundene Einsamkeit. Ein Junge auf dem Gipfel eines Schuttberges, der zu weiteren Kindern an dessen Fuß herabspricht. Assoziation des erwachsenen Ichs: Als habe er uns in eine Revolution führen wollen. Damals, mit neun Jahren: Noch kein Wissen über Aufstände. Blankes Staunen über den da oben. Das Gefühl der unter den eigenen Händen und Füßen herabgleitenden Trümmer ist wieder da. Der verbissene Wettkampf darum, den steilen Gipfel der gesprengten Lagerhalle zu erreichen, die aufgeschüttet vor ihnen liegt. Links und rechts die Schatten von Gleichaltrigen, die es ebenfalls versuchen. Er selbst noch hartnäckiger und unnachgiebiger ringend als sie, denn er ist neu in der Siedlung und verspürt in sich den Drang, sich vor den anderen behaupten zu müssen. Vielleicht ist es das beständige Knirschen der kleinen Steine, die auf dem Friedhofsweg ausgesät sind, unter seinen Schuhen, das ihn zurück an jenen Ort bringt.
Hendrik war damals nicht sofort mit ihnen losgerannt, als sie beschlossen hatten, den Berg zu stürmen. In einem gleichgültigen Trab war er ihnen auf das Fabrikgelände gefolgt und hatte vom Fuß des Hanges aus gelassen ihre fruchtlosen Versuche beobachtet, gegen die Trümmerteile anzukämpfen, die ihnen auf allen Seiten entgegenrutschten. Nach und nach hatten sie alle aufgegeben. Als letztes auch er selbst. Und plötzlich hatte Hendrik doch Anlauf genommen, sich auf der steilen Schräge merkwürdig flach auf alle Viere ausgestreckt und in dieser fast robbenden Haltung bald unter ihrem Jubel die Spitze des Schutthaufens erreicht. Später am Abend hatte er ihn gefragt, wie er es bis nach oben geschafft habe. Das erste Gespräch bester Freunde. »Wenn nichts mehr geht, dann kriecht man eben«, hatte Hendrik geantwortet. Mit schiefgelegtem Kopf.
Zwei Wochen später waren sie zum ersten Mal gemeinsam in Schwierigkeiten geraten. Sie hatten im Wald einen Stützpunkt für eine Bande errichten wollen, die zu gründen sie beabsichtigten. Hendrik hatte darauf bestanden, dass dieser nur perfekt sein würde, wenn sie ihn mit einigen Trümmerteilen vom alten Fabrikgelände ausstatteten. Dort jedoch hatte sie der neue Wachmann des Grundstücks erwischt und sofort zur Rede gestellt. Ob sein Freund wirklich nicht gewusst hatte, dass man auch Müll nicht einfach mitnehmen durfte, hatte er nie erfahren. Man hatte bei Hendrik überhaupt nie so genau gewusst, wo dessen Geschichten endeten und die Wahrheit begann.
Schon am Abend waren sie allen Warnungen zum Trotz wieder an der Fabrik gewesen. Das Hoftor war fest verschlossen und er selbst wäre sofort wieder nach Hause gegangen, aber Hendrik war, seinem Lebensmotto treu, so lange um das Gelände herumgeschlichen, bis er eine Stelle gefunden hatte, an der er unter dem Zaun hindurchkriechen konnte, wenn er sich nur eifrig genug bemühte. Als ihn der strenge Wächter am darauffolgenden Tag zu den fehlenden Stücken befragte, hatte sein bester Freund nur unschuldig zu diesem aufgeschaut und gesagt, er hätte die Schuttstücke wohl gerne haben mögen, doch die Mauern seien leider zu hoch für ihn gewesen.
Die Erinnerungen haben ihn über den Hauptweg des Friedhofs bis zu einer Abzweigung begleitet. Abschnitt B, Gang 3, Reihe III. Wie der Geheimcode für eine Bande, die es an ihrem Stützpunkt nie gegeben hatte. Stattdessen: Verbrannte Schulbenachrichtigungen. Blutsbrüderschaft. Freie Nachmittage. Vormittage auch. Irgendwann Mädchen. Streit darum sowieso, aber man kann vieles teilen. Heimat unter einem flachen Dach aus Trümmerteilen. Dann waren sie ihr entwachsen.
Gemeinsam beendeten sie die Schule und während er selbst seinen Zivildienst in einem der Altenheime der Stadt ableistete, entschied Hendrik sich für die Bundeswehr. Er hatte den Freund nicht verstehen können, aber Hendrik hatte nur gelacht und gesagt, dass man es dem deutschen Heer kaum vorenthalten dürfe, den weltbesten Durch-den-Dreck-Kriecher endlich persönlich kennenzulernen. Es war seit ihrem neunten Lebensjahr das erste Mal gewesen, dass sie nicht mehr in der gleichen Siedlung gelebt hatten und es hatte auch keine Rückkehr mehr zu diesem Status gegeben. Als der andere zwei Jahre später endgültig aus der Kaserne zurückgekehrt war, hatte er selbst schon zusammen mit seiner damaligen Freundin in der nächstgelegenen Großstadt gewohnt. Die Zeit des Teilens war vorbeigewesen. In mehr als einer Hinsicht. Einmal noch hatte Hendrik ihn abgeholt und sie waren gemeinsam heimlich in das alte Fabrikgelände eingestiegen, doch das Hindurchkriechen unter Zäunen hatte für ihn als angehenden Studenten den Reiz verloren gehabt. Auch Hendrik hatte bald darauf seine Taschen gepackt und sein Talent, auch dort noch weiterzukriechen, wo der Verstand einem sagte, dass nichts mehr zu erreichen sei, in der Welt erprobt. »Für den Sommer«, hatte er gesagt und war doch nur noch zu Weihnachten oder runden Geburtstagen in die Heimat zurückgekehrt und stets innerhalb von einer Woche wieder verschwunden. Umso überraschter war er daher im vergangenen Jahr gewesen, als Hendrik ihn kurz nach Neujahr angerufen und gefragt hatte, ob er ihn ins Krankenhaus fahren könne. Er hatte sofort zugesagt und war wartend auf dem Gang geblieben. Warum, das wusste er bis heute nicht. Niemand hatte ihn darum gebeten. Mit ernsten Gesichtern hatten zwei Ärzte ihren Patienten aus dem Behandlungszimmer begleitet. Auch, ob die Diagnose dieses Tages für Hendrik wirklich eine Neuigkeit gewesen war, gehörte zu den Dingen, bei denen er nicht sicher war, wo die Wahrheit begann und dessen Geschichten endeten.
Sie hatten noch einmal ihre alte Hütte im Wald besucht. Sie waren unter den fast eingestürzten Wänden hindurch in das Innere des Unterschlupfs gekrochen und hatten den Nachmittag weitestgehend schweigend verbracht, bis Hendrik plötzlich gefragt hatte, ob wohl der Wachmann von damals noch lebe und ob sie ihm nicht die Trümmerteile zurückbringen wollten. Tatsächlich hatten sie den Mann in ihrer alten Siedlung wiedergefunden. »Ich habe immer gewusst, dass du das warst«, hatte er nüchtern festgestellt und ausgesehen, als habe er in diesem Moment eine Art Frieden mit dem Freund geschlossen. Drei Wochen später war Hendrik gestorben.
Die letzten Meter sind die schwersten. Keine Kindheitserinnerungen mehr, stattdessen Erinnerungen an die Beerdigung. Er hatte den Sarg tragen wollen, aber es nicht gekonnt. Er hatte zur Andacht gehen wollen, aber nicht gewusst wie. Schließlich war er doch gegangen und am Rand geblieben.
Der Weg ist jetzt fremd. Zu selten hier gewesen. Verdrängung funktioniert so sehr, dass man Besuche am Grab vergisst. Rückkehr nur an besonderen Tagen. Stärkeres Vermissen des Jugendfreundes, als des Mannes, der gestorben ist. Diffuse Schuldgefühle. Noch einmal nur: Verbrannte Schulbenachrichtigungen, Blutsbrüderschaft, Heimat unter Trümmerteilen und irgendwann Mädchen - - Aber man kann nicht zu den freien Nachmittagen zurück. Zu den Vormittagen auch nicht.
Am Grab steht Hendriks Großmutter und versucht, mit ihrem Gehstock etwas am oberen Ende der Fläche zu erreichen. Sie erkennt ihn sofort. Unter der dichten Hecke liegt ein ausgebranntes Grablicht, das wohl der Wind dorthin geweht haben muss. Er bietet seine Hilfe an, sie nickt. Er betritt mit einem langen Schritt vorsichtig die vom Regen der vergangenen Nacht noch leicht rutschige Steinplatte in der Mitte der rechteckigen Ruhestätte. Von hier versucht er aus der Hocke heraus, die umgestürzte Kerze zu erreichen, aber es gelingt ihm nicht, also lässt er sich vorsichtig weiter auf seine Knie nieder und streckt sich merkwürdig flach über das Grab aus, bis er den kleinen, roten Plastikzylinder an der Hecke erreicht hat. Sein Hemd streift die feuchte Erde und als er sich wieder aufrichtet und vorsichtig die kleinen, schwarzen Klümpchen von seiner Brust abklopft, sieht er Hendriks Großmutter entschuldigend an. Die alte Dame aber nimmt ihm lächelnd die ausgebrannte Kerze aus der Hand und sagt: »Wenn nichts mehr geht, dann kriecht man eben.« Sie legt dabei den Kopf schief.
Kerstin Meixner
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freiVERS | Sara Maurer
4. März 2018Sara Maurer,LiteraturLyrik,freiVERS
du und ich in wien im advent.
Eines trüben morgens,
die vorhänge waren noch geschlossen
und das zimmer dämmrig kalt,
setzte ich mich ruckartig im bett auf,
denn mir war eingefallen,
dass ich eine woche zuvor
zwanzig euro am theaterparkettboden gefunden hatte
und das bedeutete nämlich,
dass ich umsonst die ganze letzte woche schlecht gelaunt
auf der suche nach einem bankomaten gewesen war
denn in den kleinen cafés,
in die ich vorgehabt hatte zu gehen,
konnte man ausschließlich mit bargeld bezahlen.
da es dort aber keinen bankomaten gab,
bekam ich auch keinen kaffee
von einem kleinen café.
Ich setzte mich also ruckartig mit diesem gedanken auf,
schüttelte den üblichen morgenschwindel ab
und ich sagte zu dir,
denn du bist aufgewacht, weil ich mich so ruckartig aufgesetzt hatte:
„heute morgen bin ich aufgewacht und hatte kein blut mehr im gesicht.“
und du hast mich angeschaut,
mit deinen noch halb geschlossenen schläfrigen augen,
dein ohr in den polster gerdrückt und "was?" gemurmelt,
und ich darauf
"ach nichts"
und du
"mhm",
das war so schön.
Dann hast du dich langsam angezogen
und ich hab dir zugesehen,
es ist ein nasser tag gewesen,
denn es hatte den ganzen morgen geregnet,
und bist an der haltestelle vor dem kindergarten,
an der du dich immer über die kindergruppen ärgerst,
in den bus gestiegen und von zuhause weggefahren.
Der bus stand im stau,
wegen des regens,
aber auch wegen der leute,
und da stiegen zwei vom alter gekrümmte frauen mit krücken zu.
die verabschiedeten sich dann lange voneinander,
sie sahen sich sonst nämlich nie
und das war sehr schade,
aber vielleicht würde man sich ja bald mal
auf einen kaffee
in einem kleinen café treffen
und die eine musste zwei die andere drei stationen fahren.
Als der bus dann aber kurz geführt wurde
und sie beide an derselben station aussteigen mussten,
gab es nichts mehr zu sagen
über die enkel oder das wetter
und man hatte sich ja auch schon
verabschiedet und wieder verabredet,
also bist du mit ihnen in ihrer peinlichen stille gestanden.
Ich aber bin dagegblieben
und habe versucht mich so zu wundern,
wie du dich immer über mich gewundert hast,
wenn ich gesagt habe,
dass ich irgendwie das gefühl habe,
dass die halben stunden zwischen dreiviertel und viertel
viel schneller vergehen,
als die zwischen punkt und halb,
wenn ich so am küchenfenster sitze,
den rest deines kalten und viel zu starken kaffees trinke,
rauche und darauf warte, dass der regen schwächer wird
oder die nachbarskatze sich blicken lässt
und die Minuten zwischen dreiviertel acht und viertel neun zähle.
Ich rauche eigentlich immer,
wenn du nicht da bist,
so wie der vater immer trinkt,
wenn meine mutter geht,
weil ich dann daran denken muss,
dass du das hasst
und ich es mag,
wenn du sagst,
dass du das hasst.
Und wenn der regen
dann fast ganz aufgehört hat
und die sonne durch die wolkendecke bricht,
gehe ich vielleicht zum museumsquartier
und warte und schaue den gestressten menschen zu
dort, wo kleine blaue schafe
oder food trucks
oder ziehharmonika spielende pferde
unter der weihnachtsbeleuchtung stehen.
Und wenn eine halbe stunde zwischen elf und halbzwölf vergangen ist,
treffe ich im museumsquartier vielleicht eine frau,
die mir sagt,
während sie ihren terminkalender wieder einsteckt,
dass sie das jetzt schon etwas nervt,
oder so,
wenn ICH das gerne SO machen möchte,
also wenn ich das so machen will,
dann kann ich das gerne so machen,
sie findet das jetzt auch nicht schlecht oder so,
aber sie weiß auch nicht,
ob sie MIR das falsch kommuniziert hat,
denn sie dachte schon,
dass wir das JETZT alles zusammen ausmachen.
Aber wenn ICH das jetzt lieber nicht ausmachen will,
dann ist das natürlich auch voll ok und passt voll für sie.
Und zu der barista,
die in dem starbucks,
in den die frau gerne gehen wollte,
weil sie heute noch garkeinen kaffee getrunken hat
und ihr morgen dann immer ganz schrecklich ist,
lattés ausgibt,
sagt sie dann,
nachdem sie ihren kaffee nach dem ersten schluck angewidert abgestellt
und dann auch zurückgebracht hat,
vielleicht so etwas wie,
dass es ja auch nicht so schwierig sein kann,
SOJAmilch
in einen kaffee latte mit
SOJAmilch
zu geben
auch wenn sie keine unverträglichkeit hat,
man sollte sich mal vorstellen,
sie hätte eine,
aber milch sei einfach so ekelhaft,
weil sie so einen grauslichen geschmack im mund macht
und weil sie früher oft am bauernhof gewesen sind
dann denkt sie sofort
wenn sie die milch nur riecht,
schon an die kuh
und den stall
und das ist ekelhaft.
Und ich nicke recht viel
und sage „mhm, mhm“
und starre der barista später,
während sie eine neue latte macht,
die ich für die frau holen gehe,
auf die lippen weshalb sie,
unangenehm berührt,
unter der theke mit den füßen
zur last christmas dauerschleife
zu wippen beginnt.
Und wenn ich den neuen kaffee
dann zu dem tisch,
an dem die frau wartet, bringe,
entschuldigt sie sich
für ihren kurzweiligen ausbruch,
das ist nämlich sonst so garnicht ihre art
und ich schüttle meinen kopf
und sage so etwas wie
“nein, bitte, das ist total lebensecht”
und die frau sagt nichts
und starrt für einen augenblick durch mich hindurch
während sie am kaffeetassenrand der sojalatte nippt,
und entscheidet sich wohl
dass das keine beleidigung war.
atmet laut aus und sagt
„ach du”.
es ist nämlich nicht so leicht mit mir,
denn ich bin wie meine mutter.
Wenn die frau die tasse abstellt
und einen moment lang dem kaffehaustreiben zusieht
greife ich in meinen rucksack
schiebe ein kleines packet über den tisch
und sage so etwas wie:
„grüße von der mama“
und die frau beißt die zähne zusammen und murmelt:
„oh wie lieb das wäre doch gar nicht notwendig gewesen, das hätte ja gar nicht sein müssen, da werd ich ihr gleich eine SMS schreiben.“
Dann bin ich durch die stadt losgelaufen,
ich weiß nicht mehr wohin,
bis es dunkel war und ich verloren gegangen bin,
irgendwo in den übergängen wiens,
in denen es nach pferdepisse
und manchmal auch nur nach pisse riecht
und den donauwalzer spielt.
Und du bist am abend
mit dem bus zurückgefahren,
aber der bus musste eingezogen werden,
weil ein alter wiener,
der aus weihnachtsvorfreude
auf ein fest mit der ganzen familie
besonders gut gelaunt war,
zuerst lautstark
"hearst, mach die tür auf, du komiker!”
richtung busfahrer schrie
und dann auch
als dieser keine anstände machte
die tür während der fahrt für den mann zu öffnen
auch auf diese eintrat bis sie kaputt war
und der fahrer alle aussteigen ließ.
Im ersatzbus wolltest du
dann an der haltestelle vor dem kindergarten aussteigen,
hattest aber aus versehen
eine station zu früh auf den aussteigeknopf gedrückt
und musstest jetzt überlegen,
ob du auch eine station früher aussteigen sollst,
und den rest zu fuß gehen,
weil die tür sonst ja für niemanden aufgehen würde
und der bus vielleicht umsonst stehengeblieben wäre,
und dir das vor den anderen leuten unangenehm ist.
aber ein alter mann ist aufgestanden und ausgestiegen
und du hast aufgeatmet.
Und als ich wieder zuhause war,
habe ich eine kerze auf dem
schon im letzten jahr nicht mehr schön gewesenen kranz,
den du nicht weggeworfen hast,
weil du meintest,
dass der shabby chic look wieder im kommen ist,
ein wort dass ich dann gegooglet habe,
angezündet,
denn heute ist erster advent.
Und dann bist auch du heim
und durch die tür gekommen
und da bin ich gesessen
und hab dich angeschaut
und gefragt
„na wie war dein tag”
und du sagst
„anstrengend”
und ob ich
„zwischendurch mal an dich gedacht habe”,
und ich sage
„nein, aber ich hab meine tante getroffen”
und dann frage ich dich, ob du kühe ekelhaft findest,
und du schüttelst den kopf und murmelst leise:
„was?”,
lachst und umarmst mich.
Und wenn du dann vorsichtig eine hand auf meinen rücken legst,
dort wo die schulterblätter zusammenlaufen,
flackern nur noch kerzenflamme
licht und schatten um uns durch den raum
und es riecht nach harz und wachs und feuer.
Und später, wenn es draußen wieder stärker zu regnen beginnt
und der früchtetee uns süßlich heiß auf den lippen brennt,
werden wir gemeinsam in die flamme starren
und etwas summen,
das wir von früher kennen,
eine melodie,
die schon fast nicht mehr zu uns gehört.
Sara Maurer
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