freiTEXT | Olaf Lahayne

Die grelle Griselda

Sie hieß nicht wirklich Griselda.

Eh klar. Wer nennt sein Kind schon Griselda?

Sie nannte sich also selbst so. Griselda Grill, alias die grelle Griselda. Grill, so hieß sie wirklich. Mit Nachnamen. Mit Vornamen eigentlich Gisela.

Gisela, werden Sie jetzt sagen, das ist ja kaum besser als Griselda!

Nun, Gisela hatte halt eine gleichnamige Oma als Taufpatin. Eine durchaus wohlhabende Patin. Eine Patin, die ihre erste Enkelin stolz über den Taufstein hielt.

So lange jedenfalls, bis Gisela zu schreien anfing.

Das Geschrei war – man ahnt es – grell.

So grell, dass es außerhalb der Kirche zu hören war.

Sagt man.

Auf der anderen Straßenseite.

Jenseits einer sechsspurigen Hauptverkehrsstraße.

Aber das ist natürlich übertrieben.

Vermutlich.

Jedenfalls ließ sich die Großmutter künftig nur noch selten sehen. Im Gemeindebau aber, wo Giselas Familie lebte, da erweiterte sich rasch deren Bekanntenkreis. Leute schauten vorbei, die Vater und Mutter noch nie gesehen hatten. Selbst Nachbarn aus dem Parterre. Dabei wohnten die Grills im sechsten Stock. Und die Fenster wurden nur geöffnet, wenn Gisela schlief.

Also eher selten.

Angeblich schuf damals ein Nachbarsjunge den Spitznamen ›die grelle Gisela‹. Ein Junge, der erst seit ein, zwei Jahren im Land war, und Grell, Grill, das verwechselt man schon mal.

Wie auch immer: Bald schon, da fanden Giselas Eltern ein Mittel, ihr Töchterchen zu kalmieren: Nämlich mit Zuckerln und Spielzeug. Und Gisela lernte rasch. Sie lernte auch, dass man ein Mittel nicht überstrapazieren darf, wenn es wirksam bleiben soll. Somit schrie Gisela nur noch selten so grell, dass der halbe Gemeindebau aus den Federn fiel.

Auch in der Schule, da lernte Gisela schnell.

Und wer glaubt, dass sie dauernd störte: Oh nein!

Jedenfalls nicht dauernd. Nur, wenn es passte. Ihr. Oder auch anderen. So wurde sie prompt Klassensprecherin. Niemand störte, wenn sie sprach. Niemand sprach, wenn sie die Stimme erhob. Das mied man besser.

Sie meldete sich aber auch sonst zu Wort.

Im Unterricht. In allen Fächern. Ganz normal. Normal für ihre Verhältnisse, heißt das. Nicht gerade grell, aber nie sagte wer ›Lauter, Gisela!‹

Niemals!

Die Lehrer liebten sie. Meistens. Gisela konnte man immer fragen, selbst wenn keiner aufzeigte. Sie wusste immer was zu sagen. Klar, oft war es Unsinn, aber, so sagte man ihr: Besser was Falsches sagen als gar nichts!

In der Schule, da lernte Gisela wirklich was fürs Leben: Grell, das sind nicht nur Töne, nein, grell können auch Farben sein.

Grelles Grün, grelles Blau, grelles Rot. Besser noch: Grelles Gelb. Beim Zeichnen und Malen, da mochten die anderen Schüler Farben mischen, doch nicht Gisela: Stets nahm sie nur die reinen Farben.

Wie Gisela mit der Schule fertig war, da war ihr auch klar, was sie machen wollte: Kunst! Irgendwas mit Kunst!

Auch an der Universität, da lief es gut für Gisela. Schon im ersten Semester bekam sie ein Stipendium. Dazu verfasste ihr ein Kommilitone etwas theoretisches Zeugs zu dem Zeugs, das Gisela anfangs produzierte, von wegen Reinheit der Farbe, Berufung auf den Pointilismus, so etwas halt. Denn anfangs, da benutzte Gisela weiter die unvermischten Grundfarben. Auch ihren echten Vornamen benutzte sie noch, aber das änderte sich bald: Und zwar mit der Entdeckung dessen, was als ‚Grellweiß’ bekannt werden sollte.

Aber der Reihe nach.

Von einem Chemiker – dem Cousin jenes Kommilitonen –, da hörte Gisela von einem Farbstoff, der Weißer als Weiß sein soll, der mehr Licht ausstrahle, als er absorbiert, bis zu 30 Prozent mehr.

Unmöglich, sagen Sie?

Was meinen Sie, wie Ihre Waschmittel funktionieren?

Wie Ihre Gardinen Weißer als Weiß werden?

Weißmacher, das ist das Zauberwort! Die machen aus Ultraviolett sichtbares Licht.

Ist also nichts Neues. Neu war, dass dies auch bei normaler Farbe funktionierte, Farbe, die man wie üblich verarbeiten konnte, mit Pinsel, Rolle, Spachtel und Spray.

Dies, das wusste Gisela gleich, war genau ihr Ding. Und dank eines Anwalts – ein Nachbar jenes Cousins ihres Kommilitonen –, da gelang ihr der Coup: Für den Bereich der Bildenden Kunst erhielt sie einen Exklusiv-Vertrag: Sie und nur sie durfte da diese Farbe nutzen, ein Weiß, das ‚Grellweiß’ getauft ward. Und bei der Gelegenheit, da wurde Gisela zu Griselda, mit Eintrag im Ausweis und allem.

Dies war gefundenes Fressen für die Presse, und Griselda gab ihr, was sie wollte: Kuriose Fotos, schrille Stories, schräge Interviews, grelle Geschichten eben.

So ward ›die grelle Griselda‹ geboren. Von einer Designerin – der Freundin jenes Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – bekam sie Klamotten auf den Leib geschneidert, alles in Grellweiß. Griselda erwog gar, ihre schwarzen Haare platinblond zu färben, aber ihr Friseur – der Bruder jener Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – riet ihr ab. So begnügte sie sich einer Sonnenbrille, in Schwarz, wenn auch nicht in Vantablack.

Natürlich setzte Griselda ihr Grellweiß ein, wo immer sie konnte. Sie wechselte zu grellweißen Installationen, bevorzugt aus Objekten, die vorher Schwarz waren: Alte Pneus, Vinyl-Platten, Smokings, Unterhaltungselektronik, ganze Klaviere. Auch dafür verfasste ihr jener Kommilitone theoretische Texte; schließlich muss man irgendwas neben die Werke schreiben.

Am liebsten aber trug Griselda diese Texte selbst vor, in Interviews, auf Ausstellungen, immer in Grellweiß gestylt, immer sehr selbstsicher, wenn auch mit inhaltlichen Abschweifungen, die viele befremdeten. Aber gute Stories gab es allemal ab.

Griselda merkte natürlich, dass sie gut ankam. So ging sie dazu über, Auftritte auch unabhängig von ihrer Kunst anzusetzen. Bei Happenings, bei Demos, bei Poetry Slams, in Talkshows. Stets lieferte sie eine Show ab, nicht immer eine gute, doch eine wirkungsvolle allemal, eine, die in Erinnerung blieb.

Eh klar, dass bald Agenten auf Griseldas Auftritte aufmerksam wurden. Speziell einer, nämlich der Vater jenes Bruders der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – der übrigens nicht auch der Vater der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen war. Denn der Bruder, der war eigentlich ein Halbbruder.

Wie auch immer: Er – der Agent also –, der vermittelte Griselda den Kontakt zu einem Manager – seinem Golfpartner –, und der verschaffte ihr erste Auftritte, ließ ihr Songs und Videos auf den Leib schreiben, die Griseldas Organ und Erscheinung erst so recht zur Geltung brachten.

Das schlug ein. Wie eine Bombe. Eine grellweiße Bombe.

„Sie lässt Britney Spears und Lady Gaga bieder wirken“ hieß es. Rasch war ein Slogan geboren: „Grell, greller, Griselda.“

Dank ihres Managers stiegen Griseldas Gagen, stiegen die Preise für ihre Kunst um das Zehn- und Hundertfache. Ihre Alben stürmten die Charts, Alben, alle natürlich mit grellweißen Covern, die das ›White Album‹ blass aussehen ließen. Kurz, Griselda scheffelte Geld, richtig Geld.

Natürlich kam es, wie es kommen musste: Schon bei ihrem dritten Album, da hieß es, es sei unoriginell, allzu kommerziell, und die Kunstkritiker bemängelten, dass sie sich bei ihren Installationen nur noch selbst kopiere. Da konnte Griselda nur grinsen: Genau genommen, kopierten mehrere, bescheiden bezahlte Kunststudenten für sie.

Irgendwann, da schlug ihr Manager vor, dass Griselda auch als Schauspielerin arbeiten könne; er habe schon das eine oder andere Angebot. Griselda ließ sich das durch den Kopf gehen.

Damit stand sie vor der Wahl:

  1. Sie konnte versuchen, sich weiter zu steigern, bis ihr Publikum sie nicht mehr sehen, nicht mehr hören konnte und wollte.
  2. Sie konnte sich wiederholen, bis die Kopie von der Kopie von der Kopie immer blasser wurde, bis sie irgendwann tot von der Bühne fiel.
  3. Sie konnte versuchen, sich neu zu erfinden, sich ein neues Image zu verschaffen.
  4. Sie konnte Schluss machen. Klar, sie war erst knapp über Dreißig, aber sie hatte ihr Geld gut angelegt, dank ihres Anlageberaters, übrigens ein Parteifreund jenes Golfpartners des Vater vom Halbbruder der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen. Jedenfalls konnte sie bequem vom Kapital leben.

Griselda entschied sich für letztere Option.

Sie machte Schluss.

Mit der ihr eigenen Konsequenz: Keine Kunst mehr, keine Auftritte, kein grelles Scheinwerferlicht mehr, keine grellen Töne.

Was aus ihr wurde, wollt ihr wissen?

Falsche Frage!

Hier gibt’s kein Fadeout, sondern einen harten Schnitt.

Ende.

Olaf Lahayne

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