Ausschreibung Advent-mosaik 2018
24 Tage | 24 Türchen | 24 Autor*innen | 24 mal Literatur.
Dein perfekter Weg durch die Vorweihnachtszeit.
Heuer schon wieder keine Schokolade. Dafür zum siebten Mal gute Literatur, quer durch. Jeden Tag darfst du auf advent.mosaikzeitschrift.at ein neues „Türchen“ aufmachen, Punsch dazu trinken und Schokolade dazu essen.
Damit das funktioniert, brauchen wir aber auch Türchen-Material. Schick uns deine Texte aller Art:
schreib@mosaikzeitschrift.at | Einsendeschluss: 17. November 2018
Inspiration dafür kannst du dir z.B. bei den freiTEXTen, den freiVERSen oder beim letztjährigen Advent-mosaik holen.
Wir freuen uns auf deine Texte!
mosaik27 – Grakughch.
mosaik27 – Grakughch.
INTRO
Über das Gefallen zu schreiben ist ein schwieriges Unterfangen. Über das Gefallen in der Kunst zu schreiben ist ein unmögliches Unterfangen. 270 Wörter haben auf dieser Seite noch Platz – das geht sich aus!
„Sie betrachtet sich selbst, ihr Gesicht, das ihr irgendwie fremd vorkommt. Die Arme wirken künstlich platziert. Das muss sie das nächste Mal anders machen.“ – Bastian Kresser
Wir sehen uns schon mit Fragen nach der Schönheit des Covers dieser Ausgabe konfrontiert. Warum habt ihr so ein ekelerregendes Cover gewählt? Manchen wird es (trotzdem?) gefallen, andere werden sich damit zufriedengeben müssen: Weil.
Jetzt diskutieren wir aber vor jeder Ausgabe über hunderte literarische Kunstwerke und entscheiden uns für eine Handvoll davon. Persönliche Geschmäcker sollten bei dieser Auswahl außen vor gelassen werden, brechen selbstverständlich ständig durch. Es ist allerdings eine schwierige Gratwanderung zwischen gefallen und gefällig. Letzteres geht anscheinend in der Kunst gar nicht. Und so wählt man Texte aus, die nicht gefallen – und andere nicht, die es tun. Und zack! sind wir in der Diskussion, was Kunst leisten soll/ kann/darf/muss.
„Ab und zu mag ich es auch mal, Dinge nicht zu verstehen!“ – Peter.W.
Und gleichzeitig fühlt man sich ständig in einer Rechtfertigungsschuld: Warum dieser Text, aber nicht jener? Auf diese und ähnliche Fragen antworten wir mit für richtig empfundenen Argumenten. Doch manchmal wissen wir selbst nicht, warum wir Entscheidungen auf bestimmte Weisen treffen – in der Retrospektive wird das erschreckend deutlich. Vielleicht muss man sich eingestehen, dass die Kunst den Argumenten manchmal voraus ist: Was man mit Logik (noch) nicht in Worte fassen kann, das geht durch Kunst oft besser.
„Wonach Schatten schmecken? Er lacht. Nach Staub natürlich. Man müsse ihn verwandeln, darin liege die Kunst.“ – Marlene Gölz
Warum hier dieser Text steht und kein anderer? Weil.
Euer mosaik
Inhalt
Lichtwellenleiter
- Katharina Körber – Menschen
- Markus Grundtner – Da sucht einer sein Glück
- Natalia Breininger – Entropie
- Babet Mader – Suppengrün
- Jörg Kleemann – Aus dem Stand
Bodentreppen
- Mariusz Lata – nicht mehr sein
- Sigune Schnabel – Mein Leben trägt Bürokleidung
- Ann-Christin Kumm – Wird grün, wird gelb
- Marcel Pollex – Die Baustelle
- Johanna Müller – Das Leuchten der Hemdkrägen bei Nacht
- Andreas Hippert – Graureiher
Fernsehbilder
- Peter Paul Wiplinger – Du böses Kind
- Bastian Kresser – Fältchen aber keine Falten
- Wolfgang Wurm – Beschämt; drei, zwei, eins
- Markus Leitgeb – Keine Zugfahrt
- Marlene Gölz – Schattenschlucker
Kunststrecke von Molly May Lewis
BABEL – Übersetzungen
- Gatuduvan – Det blixtrar till ibland / Es blitzt manchmal auf – En stilla eftermiddag i september / Ein stiller Nachmittag im September
- Jelena Anðelevski – Panter zna da ste ga otrovali / Panther weiß, dass ihr ihn vergiftet habt
Kolumne
- Peter.W.: Hüte aus Fischhaut, Hanuschplatz #14
Essay
- Samer Schaat – Fragilität der Welt
Buchbesprechung
- Thomas Ballhausen: Obdach für Gespenster
Interview
- „Das muss man mal so knallhart sagen.“– Marko Dinic beim Halleschen Dichterkreis
Kreativraum mit Niklas L. Niskate
freiVERS | Thomas Ballhausen
Versuch über das Rauschen
„Veränderung durch Wörter ist Dichtung.“
Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2
Das Rauschen kann in seinem Naturzustand nicht beobachtet oder beschrieben werden, die Sprache geht ihm voraus.
Für das Rauschen gibt es keine Erklärungen oder Gebrauchsanweisungen, bloß warnende Empfehlungen hinsichtlich Verhaltensweisen, Ausbreitungsgrad und Formen der Übertragung.
Im Rauschen findet sich etwa ein Hundertstel eines länger zurückliegenden sehr lauten Beginns.
Rauschen und Raum stehen in einer schwierigen Beziehung. Das Rauschen findet deshalb vor allem zwischen Zeilen und in Pausen statt.
Rauschen kennt keine Handlungen oder Absichten, es löst sie aber wie beiläufig aus.
Es ist nicht ratsam, das Rauschen zu verdünnen.
Das Rauschen hat keine Farbe. Gerüchten nach ist es vielleicht weiß.
Es gibt bislang keine vollständige Auflistung der im Rauschen enthaltenen Allergene. Das Rauschen kann Spuren von Nüssen, Spänen und Dornen enthalten.
Das Rauschen ist nicht geeignet, um Katzen zu trocknen.
Je nach Dosierung können alle Sinne vom Rauschen kurzfristig beeinträchtigt oder auch dauerhaft verändert werden.
Man kann natürlich versuchen das Rauschen zu imitieren, aber bestenfalls wird man es ein wenig nachahmen. Alle bislang unternommenen Versuche waren lächerlich.
Vom Rauschen muss man sich erfassen und eine Zeit lang tragen lassen.
Das Rauschen ist keine Entschuldigung für irgendetwas. Vielleicht gibt es hin und wieder eine schlechte Erklärung ab.
Das Rauschen kennt keine Wehmut für das Ende des vergangenen Jahrhunderts. Das Rauschen kennt nur Immer und Überall.
Das Rauschen ist Gegenwart und Wirklichkeit.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Manon Hopf
wir haben noch den Schwindel einer Reise in den Beinen als wir schon im Feld stehen, aus dem tiefen Wein Erinnerungen ziehen die noch nachts in unsren Hosen halten, wüste Klettenköpfe sind am Schienbein, in den Kniekehlen ein Ziehen, Beugenwollen, wir sind groß geworden auf den Wegen senken wir die Blicke, suchen unsre Erde, unsre Gräser zwischen Kieselsteinen, Schotter, die Augen, die den Händen näher waren, jetzt ein Kopfumblicken sind, ein Sehen ohne Hand und Fuß, die Landschaft einsortierend, Nutzen, Schönheit die ein Nutzen ist der malträtierten Seelen, sie lassen sich scheuchen vom einsilbigen Kirchturmläuten durch die dünnen Gassen wächst ein Holzgeruch, im Ofen liegt die Ruhe einer schwarzen Nacht, die mit uns in dicken Jacken auf der Dachterasse sitzt, sich nach dem weißen Rücken streckt des greisen Mont Ventoux
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Katie Grosser
Herbstgefühle
Die Regentropfen prasseln mit Wucht ans Fensterglas
Doch drinnen wohlig‘ Wärme beschützend mich umhüllt
Das Prasseln bringt Gefühle, die ich nur kurz vergaß
Gefühle, die mich tragen hinaus aufs weite Feld
Wo letzte Sonnenstrahlen mit ihrem golden Licht
Behutsam mich begleiten, voll stiller, sanfter Ruh‘
Und Vögel leise singen im Einklang mit der Welt
Gefühle, die der Winde gar rastlos rasend bringt
Er bunte Blätter wirbelt – ein farbenfrohes Fest –
Mit luftig weichen Fingern er zärtlich Wangen streicht
Und nussig pralle Düfte er trägt ins Land hinaus
Mein Herz, es pocht dann höher und freuderquickt es singt
Gefühle, die den Anfang vom End‘ versprechen mir
Denn nun am Jahresende ich kehre still hinein
An jedem langen Abend ich endlich habe Zeit
Für Dankbarkeit und Ruhe, bin voll von leisem Glück
Ein warmes Licht mich füllet ganz sanft von innen aus
Im Herbst ich kann genießen allein das Jetzt und Hier
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Sergej Tenjatnikow
Zebra
frisch erlegtes Zebra
liegt
auf dem Asphalt –
herrenlos.
(hier enden die Verse.)
wenn du darüber schreitest,
mach dich nicht schmutzig
mit seinem weißen Blut.
hinterlasse keine Spuren
den Fußgängerjägern.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Florian Neuner
Visions of Samuel, Teil 1
Beklemmung
Herr Samuel Lichtenbring litt seit einiger Zeit unter entsetzlichen Beklemmungszuständen und war daher nicht mehr Herr seiner selbst. Er konnte es sich nicht versagen, dauernd mit dem Fuß zu wippen, wenn er über einem trockenen Kolleg saß. Was der Mensch sei, war ihm undeutlich, und er hatte verlernt, es wissen zu wollen. In der Regel wollte er um diese Uhrzeit nur noch nach Hause.
Herr Samuel Lichtenbring versuchte es mit Laufen, er war aber bereits außer Atem, wenn er den Feldweg hinter seinem Haus erreichte. Dann setzte er sich ins Gras und seufzte, seufzte noch einmal, seufzte unzählige Male, als sei es eine Beschäftigung. Er saß da, als warte er auf jemanden oder auf Erlösung, er hörte ein paar Krähen, er zog seine Schuhe aus, gähnte, rieb sich die Augen, gähnte wieder, als ob ihn jemand erhören sollte ‒ der liebe Gott oder der Nachbar. Er ging dann nach Hause und duschte, bis die Haut rot war.
Herr Samuel Lichtenbring war kein Träumer. Er sah die Dinge in ihrer Einfachheit, die Dinge waren so, wie sie waren, mein Gott, warum sollten sie anders sein, warum sich Gedanken machen. Bis die nervösen Zustände begannen. Er hielt sich seitdem nachts wach, um algebraische Aufgaben zu lösen, er fütterte seinen Goldfisch, er las lateinische Abhandlungen über die Natur, er versuchte den Gesang der Vögel und die Stimmen der Menschen in Noten zu fassen. Herr Samuel Lichtenbring hatte an die Vollkommenheit seines Lebens geglaubt. Sein Leben war ein Kreis. In dem Kreis war alles. Keiner durfte in den Kreis. Herr Samuel Lichtenbring hätte eher seinem Goldfisch das Sprechen beigebracht ˗ wenn er nicht von der Idiotie dieses Unterfangens überzeugt gewesen wäre ˗ als sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Überzeugt nämlich war er von seinen Fähigkeiten. Bis eines morgens die nervösen Zustände einsetzten. Eigentlich fingen sie nachts an. Er sah nachts einen Film, und die Bilder gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Lesen wäre an sich eine gute Idee gewesen, aber plötzlich konnte er sich für kein Buch mehr entscheiden. So fing es an: dass er sich nicht mehr für ein Buch entscheiden konnte. In einer Kettenreaktion fielen ihm Entscheidungen fortan grundsätzlicher schwerer. Am nächsten Morgen überlegte er sich, ob er den Kaffee nicht ohne Zucker trinken sollte. Er bekam regelrecht Angst vor einer Zuckerkrankheit. Am Nachmittag wippte er bereits das erste Mal mit den Füßen. Das Kolleg sagte ihm gar nichts mehr. Er freute sich nicht mehr auf die Algebra, die lateinischen Abhandlungen, die Vogelstimmen. Das Essen schmeckte nicht mehr. Der Goldfisch schien plötzlich beim Durchziehen des Wasserglases deutliche Geräusche zu machen. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, er hatte einmal in der Bibliothek eine Erektion, nur weil ihn eine Frau angelächelt hatte. Das erste Mal, seitdem er hier arbeitete, erlaubte er sich vor Feierabend an die frische Luft zu gehen, er atmete durch, doch es war zu viel Luft und zu wenig Möglichkeiten. Er hatte auch auf einmal den Wunsch, fliegen zu können, und er kehrte an diesem Tag nicht in die Bibliothek zurück.
-
Lukrez
Mechanisch kaufte er seinerzeit den Band Lukrez. Er war einerseits beeindruckt von dessen Versuch, zu erklären, was die Welt im Innersten zusammenhielt (er erinnerte sich an den Anspruch eines Biolehrers, der sie zu Beginn jedes Schuljahrs mit diesem Faust-Zitat gequält hatte) und das noch dazu fast ausschließlich mit Hilfe der damaligen Naturwissenschaft, die seinerzeit noch enger mit der Philosophie verzahnt war. Andererseits vergötterte er bereits als Oberstufenschüler die lebenspraktische, unironische Lakonie: Erst als Professor allerdings sollte er den Tipp, das Bordell zu besuchen, um sich vor Liebeskummer zu schützen, erst tatsächlich zu schätzen lernen. An irgendeiner Buchhandlung kam er vorbei, ging, von einem unerklärlichen Gefühl geleitet, hinein, erinnerte sich an die Blume und an den Lateinunterricht an der Schule und an einen Nachmittag im Juli, als er mit Gretchen Weiler im Gras saß und sie über die Natur sprachen, ein bisschen auch über Philosophie, das erste und letzte Mal, dass Herr Samuel Lichtenbring mit einer Frau über Philosophie sprach. Im Gras neben ihnJen lag Lukrez. Sie kamen direkt aus der Lateinstunde an diesen Musenort, den er einmal beim Umherschlendern entdeckt hatte. Die kleine Dorfschule, die sie besuchten, lag an einem Bach, worin sie badeten. Den Lukrez, der hier im Gras lag, verlor er irgendwann; gleichsam leistete er also auf eine Art Abbitte, oder vielmehr hatte er das Gefühl, Abbitte zu leisten, als er an diesem Nachmittag, von einer unbestimmten Ahnung geleitet, den Lukrez wieder kaufte. Entflammt steckte er ihn in die Tasche.
Rosenflügel
In seiner Kindheit hatten die Rosen keine Flügel. Dabei war er davon überzeugt, dass sie keinesfalls nur trostlos nach unten fielen. Die Blätter konnten sich auch in die winzigen, kaum wahrnehmbaren Ösen der Luft einhaken. Wie in einer Windhose für Liliputaner schraubten sie sich dann noch oben und fügten sich ins Himmelmosaik ein. Lange sah er ihnen nach, bis seine Augen sonnenfleckig und wolkenmustrig waren. Ikarus fiel ihm dann ein und dass er weiterschreiben musste, wenn es ihm schon nicht gelang, die Vorlesungsmanuskripte fertigzustellen.
Ein Bettler mit einem Strich wie einem Mund, goss diese besonderen Rosen. Waren sie verwunschen? Er wünschte sich dann immer ein Prinz im Märchen zu sein und der andere sein mittelloses Gegenstück. Das erinnerte er noch. Der Bettler hatte kleine Augen, die sich fast in die Höhlen zurück verkrochen. Sonst sprach er nicht viel. Als Gärtner war er von meiner Eltern ganz unvermittelt eingestellt worden. In einer Fußgängerzone sah ihn mein Vater und offerierte ihm einen Job, weil er ihn wohl an einen Schulkameraden erinnerte, der im letzten oder vorletzten Krieg gefallen war. Vielleicht handelte es sich auch nur um einen Bischof, der sich zur Erde neigen wollte, um substanzielle Arbeit zu leisten. Das hatte Samuel vielleicht aber möglicherweise bloß in einem Film gesehen.
Die Zahnbürste
Er steht nach dem Aufschlag der Geschlechter vor dem Waschbecken. Er hat die Zahnbürste vergeblich gesucht. Hierfür hat er den ganzen Rucksack ausgeräumt und ihn wieder eingeräumt, um ihn nur zur Vergewisserung noch einmal auszuräumen. Die Bürste ist nirgends zu finden. In ihrem Hintern entdeckt er die kindliche Kaiserin. Tut diese irgendetwas? Zwinkert sie vielleicht? Es beschäftigt ihn sehr, so sehr, dass er darüber fast die Güte des Ineinandergreifens der Geschlechter vergisst. Ihr macht das tatsächlich ein bisschen Wut. Ihn verwundert das. Sie aber will eben die Güte des Ineinandergreifens nicht relativiert wissen und seine Gedanken an die Zahnbürste lassen sie glauben, dasselbe habe ihm vielleicht nicht gefallen. Warum muss er auch an diese dämliche Zahnbürste denken? Warum kann er die Dinge nicht einfach sein lassen, auf sich beruhen lassen, in sich beruhen lassen, so wie sie eben sind. Woher kommt die Sucht, alles erklären zu wollen? Ja, warum muss er, kaum dass die bei dem Aufschlag verlorene Kontrolle zurückgekehrt ist, diese sofort wieder im Zwischenmenschlichen, in der Kommunikation, in seinem Gehabe installieren? Warum nicht die angenehme Taubheit auf seinem Penis genießen und die Reste des Warmstrahls ihrer Vagina auf der Haut belassen, auf seiner Zunge die Salzigkeit ihrer Klitoris?
Während es ihr kommt, denkt er an das arschkalte Wasser der Ach oder war es die Urspring, so genau weiß er es trotz ihrer mehrfachen Erklärung, welcher Fluss nun welcher ist, nicht, in einen von diesen beiden jedenfalls ist sie nach einem ausgedehnt schnellen Lauf gesprungen. Das erstemal, dass das Gesez der Freiheit sich an uns äußert, erscheint es strafend. Es kam ihr vier Mal. Müssen in der Erinnerung schon wieder vergangen sprechen, der Fluch des Nachträglichen. Nicht hintereinander, sondern immer wieder, während er sie leckte, dann von hinten in sie eindrang, in einer unbeschreiblichen Verrenkung, einem eigentlich unmöglichen Winkel, gerade noch ihren Kitzler zu fassen bekam, was sie in dieser einmaligen Mischung und der unvermittelten Heftigkeit der doppelten Penetration, dem h‘schen Gesetz der Wechselwirkung zwischen Stoff und Geist, nochmal kommen ließ; während sie sich selbst an ihrer Hand rieb, ließ sie der Schreck, dass es ihr wieder kam, nochmal in die Ach springen. Übertritt der Grenzlinie: viermal. Zweimal hin, zweimal zurück. Er erinnerte seine Kindheit, wo er nach dem Seilspringen, im Gebüsch kauernd und lesend, die Kacke zurückhielt, sie fließen ließ, sie wieder zurückhielt. Ich möchte nicht mit dir über deine Zahnbürste reden. Nicht jetzt, sagte sie. Das verletzte ihn. Es war eine, wenn auch von ihm gewollte Auslegung der Sache: Die Auflehnung, die sich in ihrer Weigerung, über den Verlust seiner Zahnbürste zu sprechen, erwies. Er konnte es nicht fassen, dass die Welt sie so wenig anging. Seine Welt, die er doch nur aus Zufall mit ihr und all den anderen Menschen teilte. Manchmal wünschte er sich einen Privatzugang zur Welt, einen eigens für ihn angefertigten Schlüssel, der einzig und allein in die Hintertür passte. Die Hintertür, die vielleicht auch einzig für ihn angefertigt war, sodass der Doppelzugang wie die Penetration, der Ausgang zur Welt für sie, verdoppelt war. Er bedauerte, dass es ihm aufgrund seiner Anatomie nie so heftig kommen würde. Die seidige Taubheit auf seinem Geschlecht, wurde langsam aber sicher auch zum Schmerz. Und die Zahnbürste hatte er immer noch nicht gefunden. So sehr er sich auch anstrengte, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, mischten diese sich immer wieder ein. Er musste wohl heute Nacht ohne seine eigene Zahnbürste leben, notgedrungen eine von ihr nehmen. Warum war ihm das unangenehm?
Florian Neuner
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
Habt ihr uns vermisst?
Der Scroll-free August ist vorbei und damit ein Monat ohne Social Media-Beiträge, Likes etc. des mosaik. Wir haben uns ein paar Gedanken gemacht, wie es uns damit gegangen ist.
Ok, ehrlicherweise: So ganz ohne Social Media gings dann doch nicht. Wir haben jeweils drei Mal auf Facebook und Instagram vorbeigeschaut, um unseren Account und etwaige Messages zu kontrollieren. Eine Nachricht haben wir beantwortet bzw. auf eine Mail-Konversation umgeleitet. Und Josef, unser Social Media-Beauftragter, ist beruflich noch in anderer Form verpflichtet, hin und wieder mal vorbeizuschauen…
Und ja, man könnte statistische Abweichungen bei den Zugriffszahlen auf die Homepage feststellen, andererseits befinden wir uns immer noch in der Schwankungsbreite und nicht besorgniserregend schlechter als andere August-Werte. Wir haben aber auch nur einen Freitext und einen freiVERS in diesem Zeitraum veröffentlicht – hauptsächlich, weil wir die Auswirkungen der Breitenwirkung nicht kannten und niemandem „schlechtere“ Voraussetzungen bieten wollten. Allerdings stellte sich raus: Der freiTEXT von Anna Sophia Merwald und der freiVERS von Niklas Cron sind bei den Zugriffszahlen sogar unter den 50 besten – bei den vielen hunderten veröffentlichten Texten für neue Veröffentlichungen wirklich beachtenswert.
Und wie ging es uns selber jetzt damit?
Die Gefühle bei neu eintreffenden Benachrichtigungen („X gefällt dein Foto“, „Y hat deinen Beitrag kommentiert“ etc.) wandeln sich mit der Zeit: Ist man am Anfang noch, aus der Gewohnheit heraus, versucht, jeder Interessensbekundung nachzugehen, wandelt es sich immer mehr in Richtung Ignorieren und damit einhergehend einer gewissen Befreiung.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir werden wieder unsere Social Media-Kanäle benutzen, hoffentlich etwas bewusster als zuvor, werden weiterhin versuchen, uns in gewisser Weise davon unabhängig zu positionieren und trotzdem den Kontakt mit euch zu halten. Diese Form der Abstinenz können wir nur weiterempfehlen – allein schon um sich des eigenen Verhaltens und der ausgelösten Gefühle bewusst zu werden. Bei Gelegenheit werden wir das auch sicher wiederholen…
freiTEXT | Anna Sophia Merwald
Sie an der Leine
Sie bauen ein Haus, leben sich ein und kleben auseinander, sie vegetieren in vorbildlichen Gärten mit gestriegelten Kindern und verriegelten Türen.
Sie zwingen die Mundwinkel und sie wippen mit dem Kopf, im Takt ihre vollautomatischen Rasenmäher, die nichts machen und auch Lärm.
Sie lugen über ihre tapezierte Hibiskushecke, ihre Perücken Ton in Ton, die Kinder tragen Maulkorb, der Terrier Schnuller, sie selbst eine Leine.
Eigenmächtig mähen sie den Rasen, weil der Roboter tuts doch nicht.
Die Kinder, eins, zwei, sie haben den Überblick verloren, machen ihnen Nudeln in der Mikrowelle kalt.
Eigenmächtig mähen sie den Rasen, weil sie wollen, dass er nicht mehr ist.
Und als er dann nicht mehr ist als geschredderte Erde, schlucken sie in 30 Gramm dosierte kalte Nudeln.
Die Kinder wissen einfach, was ihnen schmeckt, sagt Kind zwei. Oder drei.
Sie haben den Überlick verloren.
Geht in die Arbeit, spielen, sagen sie zu den Kindern, drei, zwei, sie haben die Rollen verloren.
Die Kinder schleudern zur verriegelten Tür und schnellen zurück.
Sie ersticken fast, ziehen sich die Nudeln wieder aus dem Hals, wer soll denn das alles schlucken. Mit bloßer Hand wühlen sie in ihren Hälsen.
Sie suchen nach sinnhaftiger Ordnung, doch ihre Körper sind Hülsen. Sie sind offene Rohre und gestaute Vakua. Sie sind an Überwässerung getrocknete Pfützen.
Die Kinder, eins, vier, sie haben die Fassung gewonnen, reißen die Hibiskushecke von der Wand, trampeln sie zu Boden.
Sie werden gestürzt und laufen aus.
Und später bleiben die Gärten leer und dann ist der Terrier - Leinen los! - an der Leere ertrunken.
Anna Sophia Merwald
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Niklas Cron
trockene tage
und wieder flimmert die hitze durch den tag
schlieren verheddert zwischen zweigen
knarrender kiefern
ihre nadeln braune borsten
die sich im blick der sonne kräuseln
knisternd im wind bis sie brechen
und staubig zu boden sinken
auch dem wind geht bald die puste aus
sein atem hechelt durchs geäst
verwirrt gehetzt dem kollaps nahe
spröde die erde die ihr umbra
in tiefen rissen trägt
gefurcht und schmerzverzerrt
welk wedeln die gräser ihre grauen halme
ertrunken im lodernden licht
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at