Visions of Samuel, Teil 1

Beklemmung

Herr Samuel Lichtenbring litt seit einiger Zeit unter entsetzlichen Beklemmungszuständen und war daher nicht mehr Herr seiner selbst. Er konnte es sich nicht versagen, dauernd mit dem Fuß zu wippen, wenn er über einem trockenen Kolleg saß. Was der Mensch sei, war ihm undeutlich, und er hatte verlernt, es wissen zu wollen. In der Regel wollte er um diese Uhrzeit nur noch nach Hause.

Herr Samuel Lichtenbring versuchte es mit Laufen, er war aber bereits außer Atem, wenn er den Feldweg hinter seinem Haus erreichte. Dann setzte er sich ins Gras und seufzte, seufzte noch einmal, seufzte unzählige Male, als sei es eine Beschäftigung. Er saß da, als warte er auf jemanden oder auf Erlösung, er hörte ein paar Krähen, er zog seine Schuhe aus, gähnte, rieb sich die Augen, gähnte wieder, als ob ihn jemand erhören sollte ‒ der liebe Gott oder der Nachbar. Er ging dann nach Hause und duschte, bis die Haut rot war.

Herr Samuel Lichtenbring war kein Träumer. Er sah die Dinge in ihrer Einfachheit, die Dinge waren so, wie sie waren, mein Gott, warum sollten sie anders sein, warum sich Gedanken machen. Bis die nervösen Zustände begannen. Er hielt sich seitdem nachts wach, um algebraische Aufgaben zu lösen, er fütterte seinen Goldfisch, er las lateinische Abhandlungen über die Natur, er versuchte den Gesang der Vögel und die Stimmen der Menschen in Noten zu fassen. Herr Samuel Lichtenbring hatte an die Vollkommenheit seines Lebens geglaubt. Sein Leben war ein Kreis. In dem Kreis war alles. Keiner durfte in den Kreis. Herr Samuel Lichtenbring hätte eher seinem Goldfisch das Sprechen beigebracht ˗ wenn er nicht von der Idiotie dieses Unterfangens überzeugt gewesen wäre ˗ als sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Überzeugt nämlich war er von seinen Fähigkeiten. Bis eines morgens die nervösen Zustände einsetzten. Eigentlich fingen sie nachts an. Er sah nachts einen Film, und die Bilder gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Lesen wäre an sich eine gute Idee gewesen, aber plötzlich konnte er sich für kein Buch mehr entscheiden. So fing es an: dass er sich nicht mehr für ein Buch entscheiden konnte. In einer Kettenreaktion fielen ihm Entscheidungen fortan grundsätzlicher schwerer. Am nächsten Morgen überlegte er sich, ob er den Kaffee nicht ohne Zucker trinken sollte. Er bekam regelrecht Angst vor einer Zuckerkrankheit. Am Nachmittag wippte er bereits das erste Mal mit den Füßen. Das Kolleg sagte ihm gar nichts mehr. Er freute sich nicht mehr auf die Algebra, die lateinischen Abhandlungen, die Vogelstimmen. Das Essen schmeckte nicht mehr. Der Goldfisch schien plötzlich beim Durchziehen des Wasserglases deutliche Geräusche zu machen. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, er hatte einmal in der Bibliothek eine Erektion, nur weil ihn eine Frau angelächelt hatte. Das erste Mal, seitdem er hier arbeitete, erlaubte er sich vor Feierabend an die frische Luft zu gehen, er atmete durch, doch es war zu  viel Luft und zu wenig Möglichkeiten. Er hatte auch auf einmal den Wunsch, fliegen zu können, und er kehrte an diesem Tag nicht in die Bibliothek zurück.

Lukrez

Mechanisch kaufte er seinerzeit den Band Lukrez. Er war einerseits beeindruckt von dessen Versuch, zu erklären, was die Welt im Innersten zusammenhielt (er erinnerte sich an den Anspruch eines Biolehrers, der sie zu Beginn jedes Schuljahrs mit diesem Faust-Zitat gequält hatte) und das noch dazu fast ausschließlich mit Hilfe der damaligen Naturwissenschaft, die seinerzeit noch enger mit der Philosophie verzahnt war. Andererseits vergötterte er bereits als Oberstufenschüler die lebenspraktische, unironische Lakonie: Erst als Professor allerdings sollte er den Tipp, das Bordell zu besuchen, um sich vor Liebeskummer zu schützen, erst tatsächlich zu schätzen lernen. An irgendeiner Buchhandlung kam er vorbei, ging, von einem unerklärlichen Gefühl geleitet, hinein, erinnerte sich an die Blume und an den Lateinunterricht an der Schule und an einen Nachmittag im Juli, als er mit Gretchen Weiler im Gras saß und sie über die Natur sprachen, ein bisschen auch über Philosophie, das erste und letzte Mal, dass Herr Samuel Lichtenbring mit einer Frau über Philosophie sprach. Im Gras neben ihnJen lag Lukrez. Sie kamen direkt aus der Lateinstunde an diesen Musenort, den er einmal beim Umherschlendern entdeckt hatte. Die kleine Dorfschule, die sie besuchten, lag an einem Bach, worin sie badeten. Den Lukrez, der hier im Gras lag, verlor er irgendwann; gleichsam leistete er also auf eine Art Abbitte, oder vielmehr hatte er das Gefühl, Abbitte zu leisten, als er an diesem Nachmittag, von einer unbestimmten Ahnung geleitet, den Lukrez wieder kaufte. Entflammt steckte er ihn in die Tasche.

 

Rosenflügel

In seiner Kindheit hatten die Rosen keine Flügel. Dabei war er davon überzeugt, dass sie keinesfalls nur trostlos nach unten fielen. Die Blätter konnten sich auch in die winzigen, kaum wahrnehmbaren Ösen der Luft einhaken. Wie in einer Windhose für Liliputaner schraubten sie sich dann noch oben und fügten sich ins Himmelmosaik ein. Lange sah er ihnen nach, bis seine Augen sonnenfleckig und wolkenmustrig waren. Ikarus fiel ihm dann ein und dass er weiterschreiben musste, wenn es ihm schon nicht gelang, die Vorlesungsmanuskripte fertigzustellen.

Ein Bettler mit einem Strich wie einem Mund, goss diese besonderen Rosen. Waren sie verwunschen? Er wünschte sich dann immer ein Prinz im Märchen zu sein und der andere sein mittelloses Gegenstück. Das erinnerte er noch. Der Bettler hatte kleine Augen, die sich fast in die Höhlen zurück verkrochen. Sonst sprach er nicht viel. Als Gärtner war er von meiner Eltern ganz unvermittelt eingestellt worden. In einer Fußgängerzone sah ihn mein Vater und offerierte ihm einen Job, weil er ihn wohl an einen Schulkameraden erinnerte, der im letzten oder vorletzten Krieg gefallen war. Vielleicht handelte es sich auch nur um einen Bischof, der sich zur Erde neigen wollte, um substanzielle Arbeit zu leisten. Das hatte Samuel vielleicht aber möglicherweise bloß in einem Film gesehen.

 

Die Zahnbürste

Er steht nach dem Aufschlag der Geschlechter vor dem Waschbecken. Er hat die Zahnbürste vergeblich gesucht. Hierfür hat er den ganzen Rucksack ausgeräumt und ihn wieder eingeräumt, um ihn nur zur Vergewisserung noch einmal auszuräumen. Die Bürste ist nirgends zu finden. In ihrem Hintern entdeckt er die kindliche Kaiserin. Tut diese irgendetwas? Zwinkert sie vielleicht? Es beschäftigt ihn sehr, so sehr, dass er darüber fast die Güte des Ineinandergreifens der Geschlechter vergisst. Ihr macht das tatsächlich ein bisschen Wut. Ihn verwundert das. Sie aber will eben die Güte des Ineinandergreifens nicht relativiert wissen und seine Gedanken an die Zahnbürste lassen sie glauben, dasselbe habe ihm vielleicht nicht gefallen. Warum muss er auch an diese dämliche Zahnbürste denken? Warum kann er die Dinge nicht einfach sein lassen, auf sich beruhen lassen, in sich beruhen lassen, so wie sie eben sind. Woher kommt die Sucht, alles erklären zu wollen? Ja, warum muss er, kaum dass die bei dem Aufschlag verlorene Kontrolle zurückgekehrt ist, diese sofort wieder im Zwischenmenschlichen, in der Kommunikation, in seinem Gehabe installieren? Warum nicht die angenehme Taubheit auf seinem Penis genießen und die Reste des Warmstrahls ihrer Vagina auf der Haut belassen, auf seiner Zunge die Salzigkeit ihrer Klitoris?

Während es ihr kommt, denkt er an das arschkalte Wasser der Ach oder war es die Urspring, so genau weiß er es trotz ihrer mehrfachen Erklärung, welcher Fluss nun welcher ist, nicht, in einen von diesen beiden jedenfalls ist sie nach einem ausgedehnt schnellen Lauf gesprungen. Das erstemal, dass das Gesez der Freiheit sich an uns äußert, erscheint es strafend. Es kam ihr vier Mal. Müssen in der Erinnerung schon wieder vergangen sprechen, der Fluch des Nachträglichen. Nicht hintereinander, sondern immer wieder, während er sie leckte, dann von hinten in sie eindrang, in einer unbeschreiblichen Verrenkung, einem eigentlich unmöglichen Winkel, gerade noch ihren Kitzler zu fassen bekam, was sie in dieser einmaligen Mischung und der unvermittelten Heftigkeit der doppelten Penetration, dem h‘schen Gesetz der Wechselwirkung zwischen Stoff und Geist, nochmal kommen ließ; während sie sich selbst an ihrer Hand rieb, ließ sie der Schreck, dass es ihr wieder kam, nochmal in die Ach springen. Übertritt der Grenzlinie: viermal. Zweimal hin, zweimal zurück. Er erinnerte seine Kindheit, wo er nach dem Seilspringen, im Gebüsch kauernd und lesend, die Kacke zurückhielt, sie fließen ließ, sie wieder zurückhielt. Ich möchte nicht mit dir über deine Zahnbürste reden. Nicht jetzt, sagte sie. Das verletzte ihn. Es war eine, wenn auch von ihm gewollte Auslegung der Sache: Die Auflehnung, die sich in ihrer Weigerung, über den Verlust seiner Zahnbürste zu sprechen, erwies. Er konnte es nicht fassen, dass die Welt sie so wenig anging. Seine Welt, die er doch nur aus Zufall mit ihr und all den anderen Menschen teilte. Manchmal wünschte er sich einen Privatzugang zur Welt, einen eigens für ihn angefertigten Schlüssel, der einzig und allein in die Hintertür passte. Die Hintertür, die vielleicht auch einzig für ihn angefertigt war, sodass der Doppelzugang wie die Penetration, der Ausgang zur Welt für sie, verdoppelt war. Er bedauerte, dass es ihm aufgrund seiner Anatomie nie so heftig kommen würde. Die seidige Taubheit auf seinem Geschlecht, wurde langsam aber sicher auch zum Schmerz. Und die Zahnbürste hatte er immer noch nicht gefunden. So sehr er sich auch anstrengte, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, mischten diese sich immer wieder ein. Er musste wohl heute Nacht ohne seine eigene Zahnbürste leben, notgedrungen eine von ihr nehmen. Warum war ihm das unangenehm?

Florian Neuner

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