8 | Gundula Schiffer

Wippende Feuer-Seiten

 

Und die zwei Kerzen schauen
mich so traurig an
kleine schluchzende Feuer-Augen
„Du wirst es schon noch schaffen
ganz, den Schabbat zu halten“, klagen
sie zum Trost mich zärtlich an

Die zwei Kerzen sind gütig, stehen
auf dem Holztisch im Flur, zwei Engel
die leicht schwankende Glut eines natürlichen Lichts
das bereits Kulturtechnik, darum ebenfalls verboten ist
ab jetzt, taucht mein Haus in die wundersame Stimmung
eines Fests, in ein Dunkelgold, das immer freitags, das
ganze Jahr, gegen Abend bei uns einzieht – der Schabbat
schlägt selbst dem schrillen Sommer ein Schnippchen.

Die zwei Kerzen sind gütig, sie schauen still
zu, wie ich weiterschreibe, feiern glimmend ihre
Genugtuung, dass es in mir zu arbeiten beginnt:
das grelle Flutlicht des Bildschirms, der starre
Blick der Salzsäule, meiner Schreibtischlampe
beflecken mein Gewissen, sie erscheinen mir
wie Einbrecher. Liebste Sätze, die ich zu Kabbalat
Jedid Nefesch erschaffe, sind mir Tränen worden
schaue ich zu den Kerzen: Slicha, ich lerne es noch
wie man einen Text notiert im Kopf, so schlägt es
der Rabbiner vor. Eine Nacht lang euch zuschauen
wie ihr herunterbrennt, zwei schöne Königskinder
die Schechina selbst hat euch geboren. Wirklich
füllen zwei Kerzen, deren wippende Zungen uns
Poeme andeuten, die leeren Seiten des Schabbats.

.

Gundula Schiffer

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7 | Susanne Gurschler

Wegskizze

 

Eigentlich sollte der Vollherbst
Hagebutten und Schafgarben
In meinen Stoffbeutel schieben

Doch da mauern an aufgesetzter Stelle
Ahnen- und Familienforschung eine Kapelle
zu protokollieren im Verein mehr oder weniger
Verwurzelung, internationale Treffen
Gedenkbuch und Kerzendienst

Zum ewigen Licht plätschert
namenlos kaltes Wasser
in den Brunnen Elisabeths

Wenig später ein Stöckl mit Holzdach gelichtet
in Kiefern und Fichten, erbaut 1946
im Sommer von Anton und Josef
zum Dank für die gesunde Heimkehr, die gesunde
des Vaters und der Söhne [deren fünf ohne Josef]

Sonnseitig Stall um Stall im Rücken und
Steilhang: Hof um Hof und viel trockenes Holz
schob der Berg, spuckte Geröll oder röchelte
Schneemassen, war immer erst das Vieh
zuschanden, Glocken läuten trotzdem seit immer

Balkenreiche Nester über Tal
gestellt, und nur von unten
scheint der Himmel weit

Schattseitig brüchiger Kalkstein geschichtet
unter Etagenmoos, von schweren Händen geschlichtet
tagaus tagein, nachtaus nachtein zu Mehl verglüht
und da nun – wie bestellt: ein bis in den Kern mürber
Knochen gebettet auf feuchtem Holz

Gegenüber bleiche Wurzelstöcke auf
fast nacktem Rücken, Bäume gefallen wie Soldaten
im Sturm, herausgeschält und weggebracht
nur einige der stumpfen Stangen quergelegt
damit nichts nachrutschen kann von oben

Kein Andachtsfeuer zündete der Brandmeister
auf dem Holztisch überm Felsvorsprung, wo
längst faltige Stämme die Sicht verstellen
wo Schmugglergeschichten geronnen zum Pfad
und gierige Finger suchen eine andere Gefahr

Rechter Hand bewegte Erde, halb gekegelt
überm Bachlauf und unter diesem Betanien, das derzeit
zum Grabtuch von Turin in seinen Vorraum holt
aber immer noch das Kruckenkreuz an der Hauswand trägt
nur an der Panoramatafel ist der Ort ein weißer Fleck

In Marmor gelistet die Priester der Expositur, verewigt auch
die Saga des von Gewehrkugeln Getroffenen, unter frischen Blumen
wie alle die in 14-fach geweihter Erde, trägt diese dennoch weniger Namen
wichtiger seit je eh die Vulgonamen
wer sie nicht kennt, ist nicht von hier

Unterm Gekreuzigten mit päpstlichem Segen ausgerollt
die Zutaten für vollkommene und unvollkommene Ablässe
hinter der Kirchentür dutzendfach: Maria hat geholfen
Nichts jedoch den 31, die MDCXXXIIII an der Pest
gestorben, die wallfahrend kam und sie begrub

So erodiert die Anschlagtafel
nicht seit heut
gibt die Zelle keinen Laut

Das Giatlahaus, wie alle ordentlich Holz um die Hütte
wenige Mist auf dem Haufen und eine Handvoll Vieh verteilt
auf der Weide, hinterm Haus wird die Betonwand hochgezogen
da und dort stapeln plastikfaulig Marshmallows in vanillegelb
und barbierosa, trauerschwarz und lindgrün

Nur kurz der Kran höher
als der Kirchturm, der Motor
lauter als die Glocke

Den Pestweg entlang, den Zeilen nach schon
Ernst Jandl ging, vorbei am holzumrandeten Marterl
mit Maria Mutter Gottes und Rosenkranz hinterm Draht
und immerzu Blühendem in Beton, verhängen sich Gedanken
in mehrfach offenen Wunden

Sicher, sagen sie, war der Boden
hier nie, sicher waren hier immer nur
die Wurzeln und das Amen im Gebet

.

Susanne Gurschler

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6 | Stephan Kaiblinger

Leuchtturmwärter

Als sein Wecker läutete, lag Markus bereits seit Stunden wach. Rasch kochte er sich Kaffee, stieg die Wendeltreppe in den obersten Raum empor und überprüfte, ob das Leuchtfeuer mittlerweile ausgeschaltet war. Dann inspizierte er alle Mechanismen und Scharniere. Trotz seines hohen Alters war der Turm in tadellosem Zustand. Nichts musste gerichtet oder geölt werden. Die Funkverbindung zur Steuereinrichtung im Rathaus war stabil, im digitalen Fehlerprotokoll fand sich nicht ein einziger Eintrag und auch die turmeigene Radaranlage, eine kostspielige Anschaffung, wie der Bürgermeister erklärt hatte, wies kein einziges Schiff aus, das nachts zu nahe an die Küste gefahren war.

„Eine Ausnahme. Das ist eine absolute Ausnahme, die ich hier mache. Normalerweise wohnt kein Mechaniker in unserem Turm“, hatte der Bürgermeister gesagt, als Markus sich ihm vorgestellt hatte. „Dafür gibt es eigene Firmen, die schicken wen, wenn es Probleme gibt. Ist auch billiger.“

Markus wusste, dass der Bürgermeister recht hatte. Einmal pro Monat eine Überprüfung zu machen genügte hier vollauf. Und das Leuchtfeuer schaltete sich jeden Abend automatisch ein, sobald die Sonne zu sinken begann und erlosch am nächsten Morgen. Auch dafür brauchte es ihn nicht. Menschen waren fehlbarer als Maschinen, denn Maschinen vergaßen nicht, das wusste Markus seit seinem Studium nur zu gut. Und doch war er hier, als „Leuchtturmwärter“, den es im Berufsregister der Küstenstadt eigentlich nicht mehr gab. Aber weil Markus jemanden kannte, der jemanden kannte, hatte der Bürgermeister für ihn diese „absolute Ausnahme“ gemacht.

In dieser Rolle kannte Markus sich nur zu gut: die Ausnahme. Der überflüssige Zusatz, ohne den es eigentlich besser funktionieren würde. Der alles ein wenig komplizierter machte, als es eigentlich sein musste. Auch Lena hatte zu ihm gesagt: „Du bist lieb, aber ohne dich ist es gerade einfacher.“ Immerhin hatte sie darauf verzichtet, ihn mit etwas wie „es liegt nicht an dir, es liegt an mir“ zu vertrösten. Lena hatte das Leben kapiert. Sie haute nicht einfach ab, weil sie es nach einer Trennung zuhause nicht mehr aushielt. Für Lena musste niemand mehr Ausnahmen machen, sie wusste, wer sie war und was sie wollte. Sie war notwendig. Markus nicht. Er war die Überbrückungskonstruktion. Die zweite Sicherung, wo eine genügte. Mitgedacht und mitgemeint, aber nicht notwendig. Er war halt da.

Markus sah auf sein Handy. Kein Anruf in Abwesenheit. Alle Leben da draußen funktionierten auch ohne ihn. Er trank einen Schluck Kaffee und starrte in die Ferne. Es war der erste schöne Tag seit langem. Die Sonne kletterte langsam über den Horizont, keine einzige Wolke trübte die Aussicht. Nach dem Frühstück würde er Sport machen. Dann die Vorräte prüfen und jeden Raum des Leuchtturms. Vielleicht würde er heute etwas lesen, Bücher hatte er genug dabei. Aber bislang waren seine Gedanken zu laut gewesen, um sich auf die Buchseiten konzentrieren zu können. Wenn er gekonnt hätte, wäre er auf die Aussichtsplattform hinausgetreten und hätte seinen übervollen Kopf in die Tiefen des Meeres geleert. Stattdessen lauschte er dem Wellenrauschen. Irgendwann, da war er sich sicher, würde es sein Grübeln ersticken. Bis es so weit war, würde er hierbleiben.

„Ausnahmsweise“, hatte der Bürgermeister gesagt.

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Stephan Kaiblinger

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5 | Mariusz Lata

als du in einer frage wohntest
als es zeit wurde
als die sängerin während des konzerts stürzte
& nicht allzu lang danach verstarb
als eines sonntagmorgens der gemüseladen sperrangelweit
offen stand der verkaufsraum hell erleuchtet
als die zeit wurde

das war
das war
das war

als die ente zum sterben auf der wiese landete
als geschichten nicht notwendig waren
als es im september so richtig sommerlich wurde
als der winter einbrach
als du dein älterwerden bemerktest

das war
das war
das war

als die utopie da war
als der vogel phönix sich erhob doch nicht
fliegen konnte
als das werden noch war
als noch nicht alle alles wussten
als die eisblumen den farn grüßten

das war
das war
das war

als es zeit wurde
als die zeit wurde

das war
das war
das war

als für einen film das kino wieder lebte
als die sprache in gestalt des laubs auftrat
als die wiederholungen musik wurden
als es für dich & so manche & manchen erst
einmal aus war mit den antworten

das war
das war
das war

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Mariusz Lata

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4 | Christina König

Raststation

Ich war mitten auf einem Autobahnknoten, als mein Wagen den Geist aufgab. Die Asphaltstreifen kreuzten sich und liefen nach links und rechts, vorne und hinten, die Sonne knallte auf mein Armaturenbrett, das Auto hickste, es wurde langsamer und zwei oder drei Kontrollleuchten flammten auf. Am Pannenstreifen hielt ich an. Die Warnblinkanlage klickte wie ein Metronom, links rasten die Autos an mir vorbei und ich zog die Handbremse. In einer halben Stunde sollte ich bei meiner Schwester sein und ihr bei den Vorbereitungen für die Taufe meiner Nichte helfen.

„Was soll das heißen, du hast eine Panne?“ Die Stimme meiner Schwester stolperte. „Wir brauchen dich! Was ist mit den Salaten und der Deko und der Kerze? Und Tante Walli? Du bist die Taufpatin, ich schwör dir, wenn du nicht auftauchst…“

Der Schweiß stand auf meinen nackten Armen. Ich öffnete das Fenster und schloss es im Donnern der vorbeifahrenden Autos sofort wieder. Ich telefonierte mit meiner Mutter, die sagte, sie könnte mich unmöglich abholen, sie müsste noch Besorgungen für meinen Vater machen, dann mit meinem Cousin, der brummte, wenn es unbedingt sein müsste, dann könnte er jetzt losfahren und mich aufklauben, dann mit Tante Walli, der ich erklärte, dass ich sie nicht pünktlich abholen würde. Mitten in ihrer Schimpftirade tauchte der Abschleppwagen auf.

Während die Autos an mir vorbei ihren Zielen entgegenhetzten, balancierte ich am Pannenstreifen und beobachtete den Abschleppfahrer, wie er mein Auto auf seiner Ladefläche festschnallte und die Räder stabilisierte. Das kalt verschwitzte Taufkleid wehte im Luftsog der Autos um meine Beine und zerrte mich vorwärts, ich stemmte mich dagegen, stieg beim Abschleppwagen ein und er fuhr los und von der Autobahn ab; wir kurvten unter den vier Spuren durch und blieben an einer staubigen Raststation stehen. Hinter dem Tankstellenlogo ragte ein Burger King in den glühenden Himmelsdunst. Der Abschleppwagen verschwand, ich schulterte meine Taschen und schleppte zwei Nudelsalate, eine Taufkerze, ein aufblasbares Schwimmlama und meinen Übernachtungsrucksack durch die Glastüren, bestellte etwas Eiskaltes mit viel Zucker und warf mich in einen der harten Sitze. Popmusik dudelte aus den Lautsprechern. Eine Ladung übergewichtiger Männer existierte mit halb geschlossenen Augen in einer Ecke. Sonst war das Restaurant leer.

Mein Cousin antwortete mit einem genervten Daumen-hoch-Emoji, als ich ihm meinen Standort schickte. Mein Onkel schrieb mir eine Nachricht: hab ghört du hast a panne, vielleicht findst ja an feschen kerl der di mitnimmt haha. Meine Schwester fluchte. „Ja super, und ich mach das Buffet jetzt allein oder was? Wer schaut auf Sophia? Also du hast dir wirklich einen Scheißtag ausgesucht für deine Panne.“

Die Eiswürfel klickten in meinem Pappbecher, als ich mit dem Strohhalm umrührte. Hinter meinem Fenster preschten weiterhin die Autos vorbei. Die Glasscheiben verschluckten ihren Lärm. Inzwischen sollte ich bei meiner Schwester sein und die Nudelsalate in schöne Schüsseln füllen, die Markise ausrollen, Tomaten und Mozzarella schneiden, Saucen bereitstellen, Servietten falten, mit Sophia spielen, Anna in den Mittagsschlaf schaukeln und Luftballons aufblasen. Ich rollte den feuchten Becher an meiner Stirn hin und her und schloss die Augen. Hinter den Lidern jagten sich rastlos die Autos. Meine Mutter schrieb: Gibt es dort eine Apotheke, wo Du bist? Dein Vater braucht neue Warzenpflaster. Mama.

 

Die Resopalplatte meines Tisches war klebrig, wo die Menschen vor mir ihre Getränke verschüttet hatten. Die Angestellten drifteten hinter der Theke hin und her. Meine erhitzte Haut kühlte. Ich sah mich Polster auf die Bierbänke drapieren, Girlanden über Hecken werfen, Zitronensaft pressen, das Lama aufpumpen, Sonnenschirme herumschleppen, Grillkohle suchen, Sandspielzeug wegräumen und mich anmaulen lassen, weil die Taufkerze nicht schön genug war.

Wie Spinnfäden tropften die Minuten von der Decke auf mich herab. Ich fuhr mit den Autos auf ihren grauen Straßen in die Zukunft, zu Kindergebrüll und müden Sektkorken und brutzelnden Grillwürstchen und Tante Walli, die schrie, ihre Füße wären unruhig und jemand sollte ihr Tabletten bringen; Tortencreme klatschte auf hysterisch gemähten Rasen, Rotweinflecken landeten auf Annas Taufgewand, Fürze stahlen sich zwischen Fettschichten und Kleiderfalten durch und alles schmatzte und wieherte und witzelte. Meine Großmutter kniff mir in den Hintern. Der Graue Star meines Vaters starrte in den Pool. Meine Mutter klopfte die Brösel von seinem Schoß und goss pissgelbes Bier in sein Glas. Ich drückte die Handballen in die Augen und meine Schwester drückte mir Kinder und Teller und Windeln in die Arme, die Tischkärtchen platzierten mich neben Tante Walli, die sonst niemand ertrug, und die Rücken meiner Cousinen befragten meine Schwester zu den besten Stilleinlagen. Mein Großvater vergaß meinen Namen. Die Familie meines Schwagers redete mit mir, wenn sie Salz brauchte. Mein Onkel schaute auf meinen Busen und sagte: „So a Verschwendung.“ Die Autos stanken und hupten und fetzten hinter den Fenstern vorbei, sie heulten in meinen Ohren, fegten durch meine Adern, blitzten und blinkten und gleißten durch alle Synapsen und mein Handy vibrierte. Ich öffnete die Augen. Mein Cousin rief an. Eine Weile lang betrachtete ich die graue Kopfsilhouette auf dem Display. Dann schloss ich die Augen wieder.

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Christina König

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3 | Sofie Morin

Falten aufspüren .:. Tag und Nacht

Wir kennen Flügelschläge, oder Reissäcke in anderen Erdteilen, die ich mir so gern verbitten will umzufallen an Weltenden. Wir kennen die Geschichten von feinsten Luftbewegungen, die gar Tornados auslösen, über absurde Entfernungen, die auf keine Landkarte mehr passen.

Diese oder jene Effekte, die wirken, schmetterlingsgleich über jegliche Vernunft hinweg, die wir uns so bitter erarbeitet haben. In der Meteorologie, und überhaupt, wünsche ich mir verstehbare Zeugnisse intelligenten Lebens und lieber keine Unvorhersehbarkeit. Besser Konvektionsströme sauber berechnen, als Divergenzen aushalten müssen.

In meinem Garten vor allem wünsche ich nur sauber angepflanzte Lieblichkeit und nicht mehr zwischen uns als die Flügelspannweite eines freundlichen Falters.

Aber so einfach ist das nicht, denn je genauer ich hinsehe, umso mehr erkenne ich von der Zerbrechlichkeit dieser und jener Schuppen, die sich unter der leisesten Berührung der Fallsucht ergeben. Es hilft nichts, das alles nicht wissen zu wollen, nichts von Tagesrändern und Lebensspannen, die so gering bemessen, dass nur ihr farbensprühendes Aufglühen schon alles vom nahen Ende her beweist. Nichts hilft es, das aufzuspüren, was sich faltet, wie Flügeldecken, wie Zellen, wie die Entfaltung des Lebens nur unter anderem aus mir. Wie all das, was wir vernünftig glauben.

Lieber will ich angemessen ungeduldig sein, mit mir und dem Sprießen, mit dem Überdauern und Tilgen von all der Schuld, die wir auf uns geladen haben mit dieser einen irrigen Idee, die Erde untertan.

Doch sind es zunächst nicht die Wesen des Tages, die meine Zuneigung an sich binden. Der unstete Schmetterlingsflug ist mir kein gutes Beispiel und auch andere vernunftbegabte Menschen sind mir bekannt, die ihn daher verabscheuen, wie das notwendige Aufspüren der Falten selbst.

Die Vermutung liegt nah, wie immer, der Fokus aufs Menschliche, das nicht ohne weiteres human ist, wäre die Wiege dieser falschverstandenen Reflektion. Auch wenn der Ursprung dieser Abneigung zuweilen mit der mutmaßlichen tierischen Effekthascherei begründet wird. Aufreibende Buntsucht und flatterhafte Bühnengeilheit, sagen sie, würden den Abgeneigten die Tagfalter zutiefst unsympathisch machen.

Da loben wir uns doch die Unscheinbaren, welche die Nächte nicht heller machen, als sie es sind. Solche Falter, die auf innere Werte statt auf Farbfeuerwerke setzen. Tarnfarbig halten sie der Ordnung die Treue und falten ihre Flügel stets höflich auf nach Gebrauch. Sie mögen fälschlich als Spinner, Glucken oder verunglimpfend als Nonnen oder Widderchen bezeichnet werden, doch für mich sind sie die wahren Heldinnen und Schmetterlinge, allesamt Schwärmer!

Neueste Forschungen zu Nachtfaltern besagen wohl, sie seien bloß fürs menschliche Auge eintönig gefärbt. In Wahrheit jedoch würden sie so schuppentreu schillern, wie unsere Hinwendung zur Erde, die doch insgeheim innig ist. Kein Faltenwurf in der Wirklichkeit käme dagegen an, wenn einmal die Einfühlung entfesselt wäre, die uns das drohende Fehlen rundum sichtbar mache. Darauf will ich nicht warten!

So stelle ich mich vor diese Mitgeschöpfe und halte kein Maß an sie, das kein Tageslicht kennt. Ich schürfe nach Gründen und belasse sie bei sich wie die Flugfähigkeit unserer Träume. Nichts soll dazu dienen sich die Welt anzueignen, deren Teil wir sind. Ich stelle die Freiheit im Lichtmikroskop scharf und nehme den Zeichenstift in die Hand und nichts sonst.

Und alles genaue Hinsehen ist, du weißt schon, ist Liebe und Frieden daher. Und ich denke, ginge es uns so miteinander!

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Sofie Morin

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2 | POEDU: Emma

Türchen öffne dich

Meine Süßigkeit ist eine Maus
Die Maus isst Zucker
Und wird zum Pfau
Der Pfau geht durch die Straße
Auch
Die Frau
Sagt: Schau
Ein Pfau
Die Männer rufen an im Zoo
Die Wärter kommen angebraust
Der Pfau, der rennt und spuckt
Den Zucker aus
Zurück ist sie, die kleine Maus
Die huscht hinein ins
Türchen zu
Ruh

 

Emma (8 Jahre alt)

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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Die Aufgabe kam diesmal von Sabine Schiffner:

Erstelle ein Gedicht für ein Türchen von einem Adventskalender, den Du Deiner/m besten Freund:in schenken willst. Mach ihr/ihm also ein Geschenk aus süßen Worten. Schreibe über Deine Lieblingssüßigkeit, oder denk Dir doch einfach eine neue Süßigkeit aus, eine lustige, eklige, oder eine Zaubersüßigkeit.

 

>> Alle POEDU Texte des Monats

>> POEDU - das Buch / Teil 2

>> DAS POEDU – Virtuelle Poesiewerkstatt für Kinder

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1 | Leonie Höckbert

Mehrfamilienhausfassade

 Später in der Nacht sind oft nur die Fenster der höheren Stockwerke noch hell. Einen Blick in die Fenster auf Höhe des Eingangs kann nur werfen, wer bereits nach Einbruch der Dunkelheit auf der Plastikbank am gegenüberliegenden Straßenrand Platz nimmt. Vielleicht wohnen unten eher ältere Leute, die die Treppen in den fünften Stock nicht mehr schaffen würden. Vielleicht lassen die Menschen unten die Lichter aus, damit Passanten nicht durch die dünnen Gardinen direkt mit neugierigen Blicken auf ihre Esstische springen können. Vielleicht wohnen auch nur zufällig weiter oben die Nachteulen, Schichtarbeiter, Schlaflosen und Rumtreiber. Links und rechts des Treppenhauses hat jede Wohnung drei Fenster, von denen eins immer zur Küche gehört. Nach neun brennt in den Küchenfenstern am seltensten Licht. Dafür hängen dort meistens keine Gardinen oder sie sind beiseitegeschoben. In einer Wohnung steht der Kühlschrank direkt am Fenster und seine Tür verdeckt einen guten Teil davon, wenn sie geöffnet wird. Sie wird oft geöffnet, vermutlich um immer wieder Kleinigkeiten rauszunehmen, in der Wohnung wohnen zwei oder drei Leute zusammen, Studierende vermutlich, manchmal kocht auch jemand, aber eher selten, und die anderen beiden Fenster scheinen nicht den Blick auf ein Wohnzimmer freizugeben, ihre Poster und Kleiderschränke wirken mit Betrachtungsabstand wie in Jugendzimmern, als hätten die Bewohnenden nur diese paar Quadratmeter für alle ihre Selbstausdrucksbedürfnisse.

Ein Fenster im zweiten Stock ist ein Kinderschlafzimmer, meistens ist das Licht aus, wenn die Dunkelheit kommt, unterbrochen nur von wenigen Minuten, in denen manchmal jemand das verschlafene Kind zum Fenster trägt, wahrscheinlich in der Absicht, es wieder in den Schlaf zu wiegen, aus dem es von rastlosen Träumen gerissen wurde. Die Elterngesichter, deren Blick ohne Ankerpunkt auf die gegenüberliegende Fassade trifft, wirken immer erschöpft, aber nie angestrengt. Valerie bewundert das, wenn sie die Beiden zufällig sieht. Meistens geht auch deren Wohnzimmerlicht lange vor vielen anderen des Hauses aus. Zwischen Valeries Füßen sammeln sich ihre ausgetretenen Zigaretten. Die hässlichen städtischen Bänke aus Plastik, das immer an irgendeiner Stelle von Jugendlichen mit dem Feuerzeug angebrannt und schmelzdeformiert wurde, haben den Vorteil, auch nachts nicht besonders kalt zu werden, anders als schickere Bänke aus Metall.

Eins weiter oben, auf der anderen Treppenhausseite gibt es noch andere Eltern. Valerie kennt ihre Gesichter nicht so gut, die Kinder sind schon älter und werden nicht mehr ans Fenster getragen. Sie kennt dafür ihre Stimmen, die hört man im Treppenhaus oft streiten, manchmal mit den Kindern, meistens miteinander, sie schreien sich mit der Rückhaltlosigkeit längst aufgegebener Schamgrenzen an, sie weichen den Blicken der Nachbarn im Treppenhaus nicht aus, Peinlichkeit ist lange zurückgelassen hinter ihrer Wut aufeinander. Durch die Wände, vom Echo des Treppenhauses verzerrt wie eine Megafondurchsage unter Wasser, ist nie auszumachen, worüber sie streiten, nur die erdrückende Atmosphäre des Nicht-Ausweichenkönnens schwappt unter der Wohnungstür hindurch. Manchmal weint eins der Kinder schrill und Valerie denkt, dass man sich einmischen muss, tut es aber nie. Die Wohnung der Familie sieht schon von außen zu voll aus, in den Fenstern hängen Dekoelemente, Traumfänger, auf den Scheiben kleben Windowcolor-Bilder, drinnen stapeln sich Kisten auf den Schränken, um den letzten Raum unter der Decke noch auszunutzen. Valerie stellt sich vor, wenn man die Fenster eines Raums öffnete, würde alles rauspurzeln, was drinnen zu viel ist: die ganzen Sachen, für die kein Platz ist und die ganzen Bedürfnisse, für die kein Raum bleibt. Sie fragt sich, ob dort deswegen auch im Sommer die Fenster immer geschlossen sein werden. Und hofft zugleich, hier nicht mehr zu sitzen, wenn der Winter vorbeigeht.

Das Fenster, das im ersten Stock im Schnitt am längsten hell bleibt, liegt in der Wohnung rechts von der Eingangstür. Dort lebt ein älterer Mann allein. Vielleicht hat er nachts Schwierigkeiten zu schlafen oder er ist einfach gerne lange wach. Sein Fernseher flackert heller auf die Gehwegplatten als das mürbe Licht seiner einzigen Energiesparlampe. Im Fenster sitzt manchmal eine Katze und starrt rüber zu Valerie, sie schauen einander in die Augen und Valerie kann nicht lesen, ob ihr Blick sagt: Ich verstehe dich, ich bewahre dein einsames Geheimnis – oder ob er sagt: Ich werde dich verraten, eines Tages werde ich dich im Treppenhaus verraten. Womöglich beobachtet die Katze sie auch nur aus Langeweile oder weil es ihr sympathisch ist, dass Valerie raucht, der alte Mann vor dem Fernseher raucht auch, Valerie hat ihn tagsüber schon mit dem Aschenbecher am offenen Fenster stehen sehen und nachts verdichten sich manchmal kleine Rauchschwaden in der Ecke, in der der Mann vor dem Fernseher zu sitzen scheint. Wenn die Katze nicht auf der Fensterbank liegt, liegt sie sicher auf seinem Schoß und bildet eine schnurrende Barriere gegen die Einsamkeit, gegen die auch die bekannten Gesichter im Fernsehprogramm nicht immer ankommen können.

Wenn Valeries Hände nicht von der Winterkälte zu steifgefroren wären, würde sie sich gerne Notizen machen, wer wann wie lange wach bleibt, wer zuletzt das Licht löscht und was sie über die Menschen dieser Wohnungen und deren Tageslichtleben weiß. Sie nährt den Verdacht, dass die traurigeren Geschichten hinter den schlaflosesten Fensterlidern wohnen. Aber vielleicht sind das auch nur die Räume, in die sie am liebsten schaut, die Leben, in die sie sich am liebsten projiziert aus ihrem Schutzraum aus Halbdunkelheit heraus. Heute wird sie nicht erfahren, wer zuletzt das Licht ausmacht, denn fast unterm Dach leuchtet ein Fenster auf, das sie nach drinnen winkt. Im vierten Stock hat Alexanders Wecker geklingelt und obwohl sie das von hier unten nicht sehen kann, weiß Valerie, dass er eben seine Arbeitskleidung für die Frühschicht zusammensucht. Sie zieht an ihrer letzten Zigarette, drückt sie zwischen den anderen aus und sammelt alle Stummel des Abends in der hohlen Hand, um sie in die Hausmülltonne zu werfen, bevor sie reingeht. Drinnen muss sie im Treppenhaus noch eine Weile stehenbleiben und Hände und Gesicht aufwärmen, damit Alexander nicht fragt, der verschlafene Alexander, der damit rechnet, dass sie wie immer um diese Zeit von der Spätschicht nach Hause kommt, der keine Ahnung hat, dass Valerie den Job gekündigt hat. Ein Teil von ihr bleibt draußen auf der Bank sitzen, schaut sich selbst in die Fenster und weiß schon genau, wie ihre Geschichte ausgehen wird.

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Leonie Höckbert

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freiVERS | Julo Drescowitz

5,0

Du liegst
neben mir
im Bett
und du
fährst dir
auf diese
Art durch die
Haare
wie du es
immer tust,
und deine Arme
sind wie
Äste
und deine
Hände
würde ich unter
Millionen
erkennen;
und ich spüre die
Hitze und
Nässe
unter unserer
Bettdecke
und wir trinken
dieses
Billigbier
aus Dosen
es heißt:
5,0
und die Dosen
sind eiskalt
mit
Kondenstropfen
am Blech;
und wir trinken
das kalte
Bier
und du
fährst dir
durch die
Haare
und
sagst
die eine
Hälfte
deiner Familie
tränke,
weil sie die
Welt
nicht verstehen
würde,
und die andere
Hälfte
deiner Familie
sei tot
weil sie
sie
irgendwann
von Grund auf
verstanden
hätte;
und dann
schweigen wir
einen Moment,
und es ist
dunkel
in meinem
Zimmer
und kühle
Herbstluft
zieht durchs
Fenster
herein
und ich rieche
unsere
Haut
deine
Haare,
und du
trinkst und
lachst und
sagst
du würdest
einfach
nicht
wissen
wohin
du
gehörst

.

Julo Drescowitz

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freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
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freiTEXT | Chris Lauer

Der Gebetsbaum

Wenn Marion in ihrem Schlafzimmer steht, sieht sie auf einen Innenhof hinaus. Der Innenhof gehört zu einem anderen Haus, oder vielleicht auch zu keinem, das weiß Marion nicht. Der Boden ist uneben und die Mauern krumm; Marion stellt sich den Innenhof immer vor wie eine Zahnkrone, die man auf den Kopf gedreht und zwischen die Häuser gesteckt hat, damit der herunterhängende Himmel nicht blank da steht. Irgendwann hat ein Baum angefangen, in der Mitte des Innenhofs zu wachsen. Im Frühling ist dieser Baum ein Ostereierbaum, im Sommer ein Papiergirlanden- oder Weißewäschebaum, im Winter ein Lichterkettenbaum, nur im Herbst hat der Baum, der seine Blätter verliert, keinen Namen. Um dem Baum auch im Herbst einen Namen zu geben, haben Menschen begonnen, Gebete an den Baum zu hängen. Die Gebete flattern als bunte Stoffstreifen im Wind. Marion hört sie bei geschlossenem Fenster, wenn sie in ihrem Schlafzimmer steht, mit hellen Stimmen durcheinander reden. Ein Wort hat Marion noch nicht verstanden. Sie sieht nur, dass je leichter der Baum durch das Verlieren seiner Blätter wird, desto schwerer wird er an Gebeten. Beim ersten Schnee ist der Baum dann so schwer an Gebeten, dass er gekrümmt da steht und kein Vogel mehr Platz hat, um sich auf einen seiner Äste zu setzen. Dann kommt jemand vorbei und sammelt die Gebete ein. Manchmal ist es eine Frau und manchmal ein Mann. Die Frau oder der Mann knoten jedes Gebet einzeln wieder auf und verstauen es in einer Tasche. Für die Gebete, die an den oberen Ästen hängen, müssen sie oder er auf eine Leiter steigen und mit ausgestreckten Armen das Gebet vom Ast entfernen. Nie aber wird dabei ein Gebet zerschnitten. Marion fragt sich, wohin die Gebete verschwinden, was eigentlich mit den Gebeten passiert, die gesprochen werden, wenn der Baum kein Gebetsbaum, sondern ein Ostereier-, Papiergirlanden-, Weißewäsche- oder Lichterkettenbaum ist. Vielleicht fühlen diese Gebete nicht den Wind, der sie immerzu in Bewegung hält, vielleicht sind sie nicht bunt, vielleicht können sie nicht über die Haut gleiten, wie Stoff über die Haut gleitet, und vielleicht sprechen sie nicht mit hellen Stimmen durcheinander. Vor allem müssen diese Gebete einfachere sein, denkt Marion, denn sie brauchen nicht eine Zeit lang angebunden zu werden, so wie man einen störrischen Hund anbindet, bevor man ihn frei laufen lassen kann.

Gerade hängt der Baum wieder voll mit Gebeten und Marion entscheidet sich in diesem Augenblick dazu, zwei weitere anzubringen. Eins für den Baum, denn irgendwann ist Marion klar geworden, dass der Baum zwar die Gebete vieler anderer Leben trägt, er aber nie ein eigenes wird hinzufügen können. Das andere Gebet möchte sie für sich selbst dort anknoten. Marion ist sich unsicher, ob es gegen die Regeln des Gebetsbaums verstößt, aber für ihre Gebete möchte sie keine Stoffstreifen benutzen, sondern ihre beiden Schnürsenkel. Die Schnürsenkel sind mintgrün und viel länger als die anderen Stoffstücke, die an dem Baum hängen, obschon ihre Gebete kurz sind. Da Marion ihre Schnürsenkel nicht entzweischneiden möchte, entschließt sie sich dazu, mit ihnen Schleifen zu binden. Warum Marion keine Stoffstreifen, sondern ihre Schnürsenkel zum Befestigen der Gebete benutzt, hat einen einfachen Grund: Marion trägt den Kampf, den sie mit sich ausficht, in den Beinen. Zunächst hat ihr das erlaubt, ihren Alltag zu ordnen. Einmal morgens und einmal abends, dann dreimal, viermal, fünfmal am Tag. Wenn es Marion nicht gut ging, weil sie essen wollte, ihr dieser Wunsch aber große Angst machte, meldeten sich ihre Beine. Ihr Beine sagten ihr, dass sie gerne laufen würden. Und Marion hielt das für eine gute Idee, denn anstatt dass sie mit sich selbst zusammenarbeitete, ließ sie einfach ihre Beine zusammenarbeiten. Das ging am besten, wenn die Beine ihre Aufgabe ganz schnell und ohne Pause ausführten. Dann bekam Marion das Gefühl, dass überhaupt kein Kampf mehr da war; dass so wie ihre Beine zwei und doch eins waren, auch sie zwei und doch eins war. So lief Marion eine Runde nach der anderen im Park. Sie lief so viele Runden im Park, dass die Muskeln in ihren Beinen anschwollen und mehr Platz in ihren Ober- und Unterschenkeln da war. Sie konnten jetzt nicht mehr nur Marions Kampf, sondern auch ihren Verstand aufnehmen. Dann musste Marion gar nicht mehr nachdenken, wo sie abzubiegen und welche Strecke sie zu laufen hatte, das ging dann ganz von alleine. Aber nach langer Zeit merkte Marion, dass ihr Alltag gar nicht mehr dadurch geordnet wurde, dass sie Runden lief, und dass der Hunger nicht dadurch verschwand. Trotzdem konnte Marion gar nicht mehr aufhören mit laufen. Sie lief Schuhpaar um Schuhpaar kaputt, bis sie plötzlich fürchtete, auch sich selbst kaputtzulaufen. Deswegen fädelt Marion gerade ihre Schnürsenkel aus und geht nach draußen. Eine kalte Brise wirbelt Blätter auf; die Gebete schnalzen laut mit der Zunge, sonst bleiben sie still. Marion schaut in den Himmel hinauf. Er hängt durch, als ob jemand sich in ihn wie in eine Hängematte gelegt hätte. Da sagt sie sich: Diese Nacht wird es Schnee geben. Sie bindet zuerst den ersten Schnürsenkel fest, dann den anderen. Sie braucht gar nicht lange dafür. Dann geht sie zurück ins Haus. In der Nacht steht sie in ihrem Schlafzimmer und schaut hinaus. Sie fragt sich, wie viel Schnee es braucht, um den ganzen Innenhof einzuschneien. Vielleicht so viel, wie es Gebete braucht, um eine Hängematte zu füllen, denkt sie. Dann schläft sie ein. Als sie am nächsten Morgen erwacht, sind die Rollladen noch hochgezogen. Es hat geschneit. Mintgrün.

 

Chris Lauer

 

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