2 | Marc Späni

Zielorte

Im Homeoffice habe ich die praktische Philosophie entdeckt.

Wann immer es die Arbeit zulässt – und das ist eigentlich immer –, gehe ich zur S-Bahn-Station und helfe den Leuten, ihren Weg zu finden.

Ich bin aber keiner von denen, die Bibeln verteilen oder mit Kreide den ganzen Asphalt vollschreiben, Gott ist der Weg. Jesus rettet dich. Das Gebet wirkt.

Das Zentrum meines Wirkens ist der Billettautomat, dieser stählerne rot-blaue Altarblock, das Kontrollzentrum der Station, ihr Gehirn.

Zehn, fünfzehn Minuten bevor der Zug fährt, stehe ich da.

Ich helfe auch denjenigen, die mit dem Automaten nicht klarkommen, wie man ein 24-Stunden-Anschlussbillett für drei Zonen löst oder ein halbes nach Olten 1.Klasse. Meine eigentliche Zielgruppe sind aber diejenigen, die nicht wissen, wohin sie eigentlich wollen. Ihnen mache ich Vorschläge. Mittlerweile sehe ich es den Leuten nämlich immer besser an, wo ihre Bestimmung liegt. Schwierig sind diejenigen, die behaupten zu wissen, wo sie hinwollen, und sich nicht von ihrem Irrtum abbringen lassen. Erst einmal ist es mir gelungen, einem solchen gegen seinen Willen das Ticket zu seiner richtigen Bestimmung zu lösen und es ihm im letzten Augenblick in die Hand zu drücken, als sich die Zugstüren schon schlossen. Man muss diese Leute zu ihrer Bestimmung zwingen. Schwierig sind auch diejenigen, die den Automaten für sich in Anspruch nehmen, da kommt es schon mal zu kleineren Rangeleien, vor allem zu Stosszeiten.

Selten ist niemand da. Meistens wenigstens Oberholzer, mit seinem karierten Hemd und der verschlissenen Manchesterjacke.

Ihm brauche ich nicht zu helfen, er kennt seine Bestimmung: Er will nirgendwo hin.

Mit Oberholzer erörtere ich philosophische Fragen: Wer sind all die Leute, die ein- und aussteigen? Wer sind wir? Worauf warten wir eigentlich? Was sollen wir sonst noch tun? Am Automaten komponieren wir immer ausgeklügeltere Tickets: Mit einer Mehrfahrtenkarte erster Klasse von Goppensteig nach Ganterswil via Le Locle, Arosa und Brunnen SZ haben wir neulich die Marke von 17'000 Franken gesprengt. Natürlich kann man solche Billette am Ende nicht am Automaten kaufen. Es sind Gedankenexperimente, Denkspiele.

Immer freitags kauft Oberholzer ein Ticket, nach Amriswil, Puntrutt, Höri oder sonst wo hin, faltet es, steckt es sorgfältig in sein Portemonnaie und geht nach Hause. Er muss schon eine große Sammlung haben.

Wenn ich ihn frage, warum er nie fährt, schüttelt er den Kopf. «Der Zug fährt genau dahin, wo die Schiene hinführt, egal was du dir für ein Billett kaufst.» Seit einiger Zeit ist er auch überzeugt, dass Orte wie La Tine, Tinglev, Tinizong oder Tincques nur Erfindungen eines verrückten Programmierers sind.

Und langsam gelange ich zur Überzeugung, dass er recht haben könnte.

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Marc Späni

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15 | Marc Späni

Natürlich machen wir nicht auf

Wenn sie mit ihrer roten Kappe durch die Straße geht, verfärben sich die Fassaden der Wohnhäuser ins Dunkelbraune, die Feuerleitern ziehen ihre Sprossen ein und die Klimaanlagen halten die Luft an. Katzen, Hunde, Mäuse und Ratten stecken bereits in Mauerritzen und wir, die wir hinter den matten Scheiben wohnen, seit Ewigkeiten schon, im Wohlfühl-Licht vollautomatischer Beleuchtungssysteme, wir richten uns auf wie Nagetiere, lassen die EBook-Reader, Smartphones, Spielkonsolen und Fernbedienungen sinken und horchen mit angehaltenem Atem.

Zwar vermuten wir, dass sie zum Sanatorium am Ende der Straße will, zu diesem mächtigen weiß getünchten Komplex mit den großen Fensterfronten und dem von Zitterpappeln gesäumten Park, wo wahrscheinlich diejenigen leben, die ihre Wohnungen hier aufgegeben haben, freiwillig oder unter Zwang, das vermuten wir, reden es uns ein, obwohl wir genau wissen, dass sie sich bisweilen auch einen der Hauseingänge vornimmt, in einen Innenhof einbiegt oder in eine der schmalen Gassen mit den Müllcontainern. Natürlich können wir nicht wissen, was sie eigentlich tut, hier bei uns und in den weiten Bogengängen des Sanatoriums, in den Aufenthaltsräumen, Fernsehzimmern, Krankenstationen und Appartements – was wir wissen, haben wir aus den Medien, auch die grässlichen Bilder von den Tatorten; die Nachbarn (diejenigen, die noch da sind) ergänzen, was sie zu wissen glauben, im Flüsterton. Natürlich sagen wir uns, es sei nicht erwiesen, dass sie dafür verantwortlich sei, sie mit ihrer roten Kappe, dass sie das alles angerichtet haben soll, ohne eine Spur von Skrupel oder Mitleid, dafür mit chirurgischer Effizienz und maschinenhafter Präzision. Nicht selten sind unter den Opfern auch Tiere, was das Ganze nicht besser macht.

Mit jeder verlassenen Wohnung steigt die Gefahr für die Zurückgebliebenen, das wissen wir natürlich, und wir sagen uns immer wieder, dass wir nicht öffnen würden, wenn es klingelte oder klopfte, auf gar keinen Fall; dass wir in Schockstarre verharrten, bis die Schritte sich wieder entfernen, auch wenn es heißt, dass sie bisweilen nur auf einen Tee vorbeischaut, Geschichten von früher erzählt, sogar eigene Plätzchen mitbringt und die Katze streichelt.

Früher, als wir den Kindern noch Märchen vorlasen, um sie auf das Leben vorzubereiten, von Geißlein, die am Ende doch gerissen werden, geschändeten Prinzessinnen und Hexen, die Kinder fressen, da haben wir jeweils schnell und atemlos weitergelesen, bis die Schritte auf dem Pflaster nicht mehr zu hören waren. Heute stellen wir manchmal den Fernseher lauter, und wenn dort wieder dieselben Schreckensmeldungen ausgestrahlt werden, die wir mit ihr in Verbindung bringen könnten (die vielleicht aber auch von jemand ganz anderem handeln), dann schalten wir um auf eine Telenovela, einen Historienfilm oder, wenn es sein muss, auf den Shoppingkanal, wo sie dermatologische Pflegesets, Schlankheitsgürtel und batteriebetriebene Zen-Brunnen verkaufen, und sollten sie für einmal nur handgeschmiedete Japanmesser oder Profi-Kettensägen bringen, dann wenden wir uns eben den Dingen zu, die wir uns über die vergangenen Monate ins Haus bestellt haben: Ich habe eine Modelleisenbahn Spur H0 um Polstergruppe und  Salontisch gelegt, zwei miteinander verbundene Kreise, digitales Stellwerk, Landbahnhof mit 12V-Beleuchtung – der Fernseher liefert passende Landschaftsbilder –, Elsa ihrerseits telefoniert seit Tagen auf einem neuen Smartphone mit ihrer Schwester, die zwei Straßen weiter wohnt.

Ein einziges Mal hatten wir nach draußen gehen und uns vergewissern wollen, dass Rotkappe wirklich zum Sanatorium geht, aber schon im Treppenhaus haben die Nachbarn uns aufgehalten, uns beschworen, stattdessen ihr neues Dolby Surround-System zu bestaunen,  die ergonomische Sprudelmatte für die Badewanne oder den Elektro-Haubengrill mit Niedergarfunktion. Ob wir, raunen sie, die Sache mit Woolfe denn nicht mitbekommen hätten. Woolfe, der Kriminalist, habe dem Morden ein Ende setzen wollen, Woolfe, den wir alle aus dem Lokal-Fernsehen kennen. Aber dann habe man ihn in einem Schacht gefunden, mit aufgeschnittenem Bauch.

Elsa und ich, wir sagen uns immer, dass wir einfach nicht zur Tür gehen würden, sollte sie vor unserer Wohnung auftauchen, auch wenn sie nur zum Tee kommt, Geschichten erzählt und Plätzchen mitbringt, die überraschend gut schmecken sollen, besser noch als die gekauften. Während der ICE im Maßstab 1:87 nach vier Runden unter dem Fernsehmöbel den Orientexpress überholt, hören wir ein Klopfen: ein feines, höfliches Klopfen, kein Donnern mit dem Türknauf, kein Schrillen der Klingel, nur ein feines, diskretes Klopfen; wir wissen nicht, wer es ist, aber wenn wir durch den Spion schauen würden, was wir natürlich niemals täten, sähen wir den Zipfel des roten Käppchens.

„Ich geh schon“, sagt Elsa, und ich nicke stumm.

Marc Späni

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