freiTEXT | Marc Späni

Der Klang der Stille

Stille könnte die Lösung sein, absolute Stille. Wenn nur nicht in der Stille, gerade in der absoluten Stille erst diese Androhung von Lärm steckte, in der Stille wächst sogar die Vorstellung eines Geräuschs ins Unerträgliche, zu einem Grad, der denjenigen des realen Geräuschs um ein Vielfaches übersteigt. Das Einschalten der Kaffeemaschine etwa, diese Kakophonie von Schaben, Klicken, Mahlen, Reiben, Zischen: Jede Komponente für sich genommen ein kleiner Stich, zusammen schon richtig schmerzhaft, in der Vorstellung aber die reinste Folter. Das Hoch- und Niederfahren der Sonnenstoren, der Geschirrspüler, unregelmäßige Schritte auf der Treppe, das Öffnen und Schließen der Zimmertüren. Am schlimmsten: menschliche Laute in all ihren Facetten. Wäre es gleichmäßig, permanent, ginge es vielleicht noch an, aber es ist eine chaotische Abfolge der unterschiedlichsten Teilgeräusche – Tausende, Hunderttausende, wahrscheinlich mehr – und jedes reißt mich von Neuem aus der konzentrierten Arbeit. Ich bin an der Buchführung, an einem Bericht, an einer Statistik, da schreit das Baby, meine Frau murmelt beruhigende Worte, extra leise, aber dadurch erst recht störend, es folgen Schritte, das Schließen von Schranktüren, Geschirrklappern, der Wasserhahn. Und selbst wenn es tatsächlich einmal ganz leise ist, warte ich nur auf das nächste Räuspern, Klirren, Rauschen, Klicken oder Scheppern, und wenn sie mir diesen Wahnsinn ersparen und mich in meinem Home Office oben in Ruhe lassen will, dringt zuerst das Rascheln der Jacken und Mäntel zu mir hoch, das Klimpern von Kleiderbügeln an der Garderobenstange, das Zuschlagen von Schranktüren, die Geräusche des Schlüssels im Türschloss, dann Schritte auf dem Kies, Autotüren, das Anlassen des Motors, aber auch dann, wenn ich ängstlich in die Stille lausche, dauert es nicht lange und fremde Kinder lärmen auf dem Trottoir, der Bus rauscht vorbei, ein Auto hupt oder die Müllabfuhr fährt mit unerträglichem Krach vor.
Dabei muss ich funktionieren, muss meinen Job machen, ich brauche Konzentration, muss eins werden mit meinen Zahlen, meinen Abrechnungen, den Konten und Bilanzen. Absolute Stille wäre nur die angstvolle Erwartung der nächsten Störung, außerdem völlig illusorisch. Nein, die Lösung liegt darin, die unregelmäßigen, unkontrollierbaren Geräusche durch gleichmäßige, kontrollierbare zu überlagern, um aus dieser zermürbenden Erwartung neuer Störungen zu kommen. Radio zum Beispiel geht anfänglich ganz gut, dieser immergleiche Strom von inhaltslosem Schwatzen und anspruchsloser Musik. Alle paar Monate optimiere ich die Senderwahl, stoße auf Radio Swiss Jazz, bei diesem Geplänkel dauern immerhin die Stücke länger, aber irgendwann ist jedes Stück fertig, und schon zuvor warte ich verkrampft darauf, dass nach den letzten Tönen die unkontrollierbaren Geräusche in die kurze Leere platzen, dass unten die Tür geht, ein Kind von der Schule kommt, mit Freunden telefoniert, Videospiele spielt. Ich bin zu Hörbüchern übergegangen, dann zu längeren Hörspielen, die haben weniger Leerräume, nach weiteren Jahren zu Opern, zuerst wahllos, Berlioz, Verdi, Mozart, wie sie alle heißen, dann entdecke ich Wagner. Es ist zwar scheußlich pathetisch, und überhaupt mag ich keine klassische Musik, aber eine Wagneroper hält mich fünf Stunden an der Arbeit, die Berichte und Auswertungen fließen nur so aus mir heraus, ja letzten Endes hat bei der ersten Restrukturierung Richard Wagner wohl meinen Arbeitsplatz gerettet.
Die Chefs oben sind nämlich zufrieden mit meiner Leistung, aber ich weiß, das reicht nicht, ich muss noch produktiver sein, die nächste Restrukturierung kommt, ich muss mehr tun als ich müsste, darf mich nicht ablenken lassen, gar nicht, nie. Nun ist es nicht so, dass die Wirkung eines einmal gewählte Klanghintergrunds über Monate andauert, nein, sie nutzt sich ab, mit der Zeit weiß man intuitiv, wo die Pausen sind, und schon wartet man ängstlich darauf, dass gerade dann eines der Kinder mit dem Wagen vorfährt, mit Partner und Kleinkindern unten Lärm macht, dass die Frau Freundinnen bewirtet, der Postbote klingelt. Immer müssen neue Lösungen her. Ich gehe kaum mehr nach unten, ich kann mir diese Auszeiten nicht mehr leisten, dafür bin ich mit den Jahren aber auch immer besser geworden, meine Berichte lassen keine Beanstandung zu, die zweite und dritte Entlassungswelle schwappt über mich hinweg, viele werden entlassen, ich bleibe. Entdecke irgendwann Youtube-Videos, auf denen stundenlang ein bestimmtes Musikgenre abgespielt wird, Hintergrundmusik für Hörspiele oder Filme: 10 Stunden Horrormusik, 15 Stunden Flamenco-Gitarre, ohne Unterbruch, das ist herrlich, ich steigere meine Effizienz gleich nochmals, werde mit über fünfzig sogar befördert, habe dadurch noch mehr zu erledigen, muss noch mehr Zeit für die Geräuschbewältigung investieren. Denn mit den Videos ist es nicht etwa einfacher geworden: Man muss sie zuerst finden, probehören, herunterladen, die Internetverbindung könnte ja mal abbrechen und man wäre dann dem ganzen Klangdschungel schutzlos ausgeliefert. Außerdem gibt es immer noch Steigerungspotenzial: Von den musikalischen Klangteppichen bin ich auf Geräusche gekommen: 15 Stunden Brandung, Wellen und Möwen, 12 Stunden Alpen mit Kuhglocken und dem Wind in den Tannen, Waldgeräusche in Endlosschlaufe, 10 Stunden fahrendes Auto, 12 Stunden das gleichmäßige Geräusch einer Waschmaschine. Ich nähere mich der Perfektion, auch wenn ich nur noch wenige Jahre arbeiten muss.
Dabei ist es mittlerweile im Haus selbst immer still. Seit die Kinder studieren oder selbst schon zu wichtigen Rädchen in der Maschinerie der Berufswelt geworden sind, seit sich auch meine Frau für ein neues Leben entschieden hat, könnte ich grundsätzlich wieder nach unten gehen, ich könnte sogar unten arbeiten, aber wenn der Ort einmal durch jahrzehntelangen Lärm infiziert ist, bleibt die Erinnerung und die Stille ist nur die Androhung weiteren Lärms und damit weit zerstörerischer als der Lärm selbst.
Wenige Tage vor meiner Pensionierung stoße ich auf ein neues Video: 10 Stunden Alltagsgeräusche eines Haushalts mit Kindern. Damit mache ich weiter, sobald ich offiziell im Ruhestand bin, man kann ja ohnehin nicht einfach aufhören.

 

Marc Späni

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

2 | Marc Späni

Zielorte

Im Homeoffice habe ich die praktische Philosophie entdeckt.

Wann immer es die Arbeit zulässt – und das ist eigentlich immer –, gehe ich zur S-Bahn-Station und helfe den Leuten, ihren Weg zu finden.

Ich bin aber keiner von denen, die Bibeln verteilen oder mit Kreide den ganzen Asphalt vollschreiben, Gott ist der Weg. Jesus rettet dich. Das Gebet wirkt.

Das Zentrum meines Wirkens ist der Billettautomat, dieser stählerne rot-blaue Altarblock, das Kontrollzentrum der Station, ihr Gehirn.

Zehn, fünfzehn Minuten bevor der Zug fährt, stehe ich da.

Ich helfe auch denjenigen, die mit dem Automaten nicht klarkommen, wie man ein 24-Stunden-Anschlussbillett für drei Zonen löst oder ein halbes nach Olten 1.Klasse. Meine eigentliche Zielgruppe sind aber diejenigen, die nicht wissen, wohin sie eigentlich wollen. Ihnen mache ich Vorschläge. Mittlerweile sehe ich es den Leuten nämlich immer besser an, wo ihre Bestimmung liegt. Schwierig sind diejenigen, die behaupten zu wissen, wo sie hinwollen, und sich nicht von ihrem Irrtum abbringen lassen. Erst einmal ist es mir gelungen, einem solchen gegen seinen Willen das Ticket zu seiner richtigen Bestimmung zu lösen und es ihm im letzten Augenblick in die Hand zu drücken, als sich die Zugstüren schon schlossen. Man muss diese Leute zu ihrer Bestimmung zwingen. Schwierig sind auch diejenigen, die den Automaten für sich in Anspruch nehmen, da kommt es schon mal zu kleineren Rangeleien, vor allem zu Stosszeiten.

Selten ist niemand da. Meistens wenigstens Oberholzer, mit seinem karierten Hemd und der verschlissenen Manchesterjacke.

Ihm brauche ich nicht zu helfen, er kennt seine Bestimmung: Er will nirgendwo hin.

Mit Oberholzer erörtere ich philosophische Fragen: Wer sind all die Leute, die ein- und aussteigen? Wer sind wir? Worauf warten wir eigentlich? Was sollen wir sonst noch tun? Am Automaten komponieren wir immer ausgeklügeltere Tickets: Mit einer Mehrfahrtenkarte erster Klasse von Goppensteig nach Ganterswil via Le Locle, Arosa und Brunnen SZ haben wir neulich die Marke von 17'000 Franken gesprengt. Natürlich kann man solche Billette am Ende nicht am Automaten kaufen. Es sind Gedankenexperimente, Denkspiele.

Immer freitags kauft Oberholzer ein Ticket, nach Amriswil, Puntrutt, Höri oder sonst wo hin, faltet es, steckt es sorgfältig in sein Portemonnaie und geht nach Hause. Er muss schon eine große Sammlung haben.

Wenn ich ihn frage, warum er nie fährt, schüttelt er den Kopf. «Der Zug fährt genau dahin, wo die Schiene hinführt, egal was du dir für ein Billett kaufst.» Seit einiger Zeit ist er auch überzeugt, dass Orte wie La Tine, Tinglev, Tinizong oder Tincques nur Erfindungen eines verrückten Programmierers sind.

Und langsam gelange ich zur Überzeugung, dass er recht haben könnte.

.

Marc Späni

.

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

15 | Marc Späni

Natürlich machen wir nicht auf

Wenn sie mit ihrer roten Kappe durch die Straße geht, verfärben sich die Fassaden der Wohnhäuser ins Dunkelbraune, die Feuerleitern ziehen ihre Sprossen ein und die Klimaanlagen halten die Luft an. Katzen, Hunde, Mäuse und Ratten stecken bereits in Mauerritzen und wir, die wir hinter den matten Scheiben wohnen, seit Ewigkeiten schon, im Wohlfühl-Licht vollautomatischer Beleuchtungssysteme, wir richten uns auf wie Nagetiere, lassen die EBook-Reader, Smartphones, Spielkonsolen und Fernbedienungen sinken und horchen mit angehaltenem Atem.

Zwar vermuten wir, dass sie zum Sanatorium am Ende der Straße will, zu diesem mächtigen weiß getünchten Komplex mit den großen Fensterfronten und dem von Zitterpappeln gesäumten Park, wo wahrscheinlich diejenigen leben, die ihre Wohnungen hier aufgegeben haben, freiwillig oder unter Zwang, das vermuten wir, reden es uns ein, obwohl wir genau wissen, dass sie sich bisweilen auch einen der Hauseingänge vornimmt, in einen Innenhof einbiegt oder in eine der schmalen Gassen mit den Müllcontainern. Natürlich können wir nicht wissen, was sie eigentlich tut, hier bei uns und in den weiten Bogengängen des Sanatoriums, in den Aufenthaltsräumen, Fernsehzimmern, Krankenstationen und Appartements – was wir wissen, haben wir aus den Medien, auch die grässlichen Bilder von den Tatorten; die Nachbarn (diejenigen, die noch da sind) ergänzen, was sie zu wissen glauben, im Flüsterton. Natürlich sagen wir uns, es sei nicht erwiesen, dass sie dafür verantwortlich sei, sie mit ihrer roten Kappe, dass sie das alles angerichtet haben soll, ohne eine Spur von Skrupel oder Mitleid, dafür mit chirurgischer Effizienz und maschinenhafter Präzision. Nicht selten sind unter den Opfern auch Tiere, was das Ganze nicht besser macht.

Mit jeder verlassenen Wohnung steigt die Gefahr für die Zurückgebliebenen, das wissen wir natürlich, und wir sagen uns immer wieder, dass wir nicht öffnen würden, wenn es klingelte oder klopfte, auf gar keinen Fall; dass wir in Schockstarre verharrten, bis die Schritte sich wieder entfernen, auch wenn es heißt, dass sie bisweilen nur auf einen Tee vorbeischaut, Geschichten von früher erzählt, sogar eigene Plätzchen mitbringt und die Katze streichelt.

Früher, als wir den Kindern noch Märchen vorlasen, um sie auf das Leben vorzubereiten, von Geißlein, die am Ende doch gerissen werden, geschändeten Prinzessinnen und Hexen, die Kinder fressen, da haben wir jeweils schnell und atemlos weitergelesen, bis die Schritte auf dem Pflaster nicht mehr zu hören waren. Heute stellen wir manchmal den Fernseher lauter, und wenn dort wieder dieselben Schreckensmeldungen ausgestrahlt werden, die wir mit ihr in Verbindung bringen könnten (die vielleicht aber auch von jemand ganz anderem handeln), dann schalten wir um auf eine Telenovela, einen Historienfilm oder, wenn es sein muss, auf den Shoppingkanal, wo sie dermatologische Pflegesets, Schlankheitsgürtel und batteriebetriebene Zen-Brunnen verkaufen, und sollten sie für einmal nur handgeschmiedete Japanmesser oder Profi-Kettensägen bringen, dann wenden wir uns eben den Dingen zu, die wir uns über die vergangenen Monate ins Haus bestellt haben: Ich habe eine Modelleisenbahn Spur H0 um Polstergruppe und  Salontisch gelegt, zwei miteinander verbundene Kreise, digitales Stellwerk, Landbahnhof mit 12V-Beleuchtung – der Fernseher liefert passende Landschaftsbilder –, Elsa ihrerseits telefoniert seit Tagen auf einem neuen Smartphone mit ihrer Schwester, die zwei Straßen weiter wohnt.

Ein einziges Mal hatten wir nach draußen gehen und uns vergewissern wollen, dass Rotkappe wirklich zum Sanatorium geht, aber schon im Treppenhaus haben die Nachbarn uns aufgehalten, uns beschworen, stattdessen ihr neues Dolby Surround-System zu bestaunen,  die ergonomische Sprudelmatte für die Badewanne oder den Elektro-Haubengrill mit Niedergarfunktion. Ob wir, raunen sie, die Sache mit Woolfe denn nicht mitbekommen hätten. Woolfe, der Kriminalist, habe dem Morden ein Ende setzen wollen, Woolfe, den wir alle aus dem Lokal-Fernsehen kennen. Aber dann habe man ihn in einem Schacht gefunden, mit aufgeschnittenem Bauch.

Elsa und ich, wir sagen uns immer, dass wir einfach nicht zur Tür gehen würden, sollte sie vor unserer Wohnung auftauchen, auch wenn sie nur zum Tee kommt, Geschichten erzählt und Plätzchen mitbringt, die überraschend gut schmecken sollen, besser noch als die gekauften. Während der ICE im Maßstab 1:87 nach vier Runden unter dem Fernsehmöbel den Orientexpress überholt, hören wir ein Klopfen: ein feines, höfliches Klopfen, kein Donnern mit dem Türknauf, kein Schrillen der Klingel, nur ein feines, diskretes Klopfen; wir wissen nicht, wer es ist, aber wenn wir durch den Spion schauen würden, was wir natürlich niemals täten, sähen wir den Zipfel des roten Käppchens.

„Ich geh schon“, sagt Elsa, und ich nicke stumm.

Marc Späni

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at