17 | Verena Dolovai

lebkuchen im sonnenbad

die glasur glänzt wie
regennasses gras
tropft vom tisch

du wischst
die schokolade weg

verwirrt
irren wir durch die jahreszeiten
war schon winter?
fragt das kind

die katze im sommerkleid
schnappt nach insekten
die zu dicht
in der luft tanzen

wir atmen ein
blasen unsichtbaren hauch aus

das frühe dunkel
hüllt den tag ein

drinnen
glühen unsere wangen nicht

.

Verena Dolovai

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16 | POEDU: Ari

Ein Maoam

Ein Maoam
klebt vorwärts oder rückwärts
dir die Zähne zusammen und dann
hängts am Gaumen und trotzdem
schmeckts lecker, egal
in welchem Türchen es steckt,
es klebt!

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Ari (8 Jahre alt)

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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Die Aufgabe kam diesmal von Sabine Schiffner:

Erstelle ein Gedicht für ein Türchen von einem Adventskalender, den Du Deiner/m besten Freund:in schenken willst. Mach ihr/ihm also ein Geschenk aus süßen Worten. Schreibe über Deine Lieblingssüßigkeit, oder denk Dir doch einfach eine neue Süßigkeit aus, eine lustige, eklige, oder eine Zaubersüßigkeit.

 

>> Alle POEDU Texte des Monats

>> POEDU - das Buch / Teil 2

>> DAS POEDU – Virtuelle Poesiewerkstatt für Kinder

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15 | Claudia Dvoracek-Iby

„Die gerade Linie ist gottlos“
– Friedensreich Hundertwasser

wir  biegen  und  wir  knicken  wir  formen  unser  lineares  Leben
zu   einem   kompakten   Viereck    um   und   alles    scheint   nun
geregelt  alles  scheint  nun  geordnet  sogar  eine Sonne scheint
zu   scheinen   in    unserem   kantigen  Sein   denn   vom   oberen
vom  rechten Eck   ausgehend   strömt   kontinuierlich  Wärme  in
unseren  Raum  und  gerade  deshalb  erscheint es uns  unrichtig
dass   nachts   immer  einer   von   uns   laut  weinen  muss   dass
nachts  immer   einer  von  uns   abwegige   Wörter   rufen   muss
Wörter  wie  Wellen  Winter  Berge  Schnee

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Claudia Dvoracek-Iby

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14 | Valeska Stach

Der Mann mit der Falte

Ich sehe ihn aus dem Hauseingang stolpern und die Straße hinuntereilen. Am Abend würde ich ihn vielleicht wieder mit einem Buch auf dem Sofa sitzen sehen, durch die nur halb zugezogene Gardine, oder am Küchentisch mit einer Zigarette. Und einem Glas Wein. Oder beidem. Er würde traurig aussehen, wie immer, wenn ich ihn am Tisch oder auf dem Sofa sitzen sehe. Nur wenn er aus dem Haus eilt und die Straße hinunter zur U-Bahn oder zum Späti an der Ecke läuft, da sieht er nicht mehr ganz so traurig aus.

Er sagt, er wolle keine Beziehung, er habe dafür gerade keinen Platz im Leben. Ja, und ich, ich habe keinen Platz in meinem Bett, denke ich und tippe mit dem Fuß immer wieder gegen das Stuhlbein. Er lacht. Wieso ich denn eine Beziehung wolle, mein Leben sei doch gar nicht dafür eingerichtet. Ich würde doch auch viel herumreisen wollen. Das könne man auch mit Kindern, sage ich und weiß nicht, ob ich mir selber glauben soll. Ich gebe ihm eine Kopfmassage und er stöhnt ein paar Mal zu viel dabei. Sein Blick ist auf die Ecke mit der Falte in der Wand gerichtet. Ich sage, das sei eine Therapie und später, dass wir heute Abend keinen Sex haben werden. Er sagt, das sei gut zu wissen und will dann plötzlich schlafen gehen. Ich gehe nach Hause und stelle mir vor, dass gar kein Platz in seinem Bett ist für zwei Körper. Dass einer immer halb von der Matratze rutscht. Das Bett ist bestimmt genauso schräg wie die Wand mit der Falte. Am nächsten Morgen bedankt er sich für die gemeinsame Nacht und ich frage mich, warum er dabei den Betreff der E-Mail so rätselhaft kryptisch formuliert. Meine Freundin fände er auch gut, sagt er. Bei ihr versucht er es später bestimmt auch noch.

Der Mann mit der Falte in der Wand ist auch der Mann mit den Haaren. So nennen sie ihn. Diejenigen ohne Haare, oder die, mit nur wenig Haaren. Man kann die Hand in seine Haare stecken und sie verschwindet darin. So voll sind sie. Blond. Gewellt. Weich. Wie Wüstensand. Sie hassen ihn dafür, sagt er und lächelt.

Der Mann mit den Haaren mag keine Badewannen, zumindest fehle ihm nichts ohne Badewanne. Man könne auch einfach monatlich in die Sauna, ins Dampfbad oder ins Salzbad gehen. Ich stelle mir vor, wie er nackt auf einer Holzbank sitzt und die Hitze einatmet. Und dass er sich dabei fühlt wie in der Wüste. Das ist kitschig. Der Mann mit den Haaren, die aussehen wie Wüstensand, hat einen Hang zum Kitsch in meinem Kopf. Ich entschuldige mich, dass ich zu spät bin. Er antwortet, „nicht schlimm“ und ich könne ihm ja mal wieder eine Kopfmassage geben.

Der Mann mit der Falte in der Wand hat spontan Zeit für ein Abendessen. Oder Kuscheln, zu dritt, wie er schreibt. Sorry, Missverständnis, meine Freundin ist gerade im Urlaub. Aus dem Abendessen wird ein Kaffeetrinken. Wir sitzen wieder an der Straße, an der Ecke, an der die Tram vorbeifährt und laut neben den Tischen um die Kurve biegt. Ich löffle Milchschaum aus meinem Kaffeeglas und schaue ihn von der Seite an. Ich erzähle ihm, dass ich wisse, was Kuscheln für ein Synonym für ihn sei, dass ich das eingetragen habe, in mein Wörterbuch, damals. Er lacht. Tatsächlich. Das hatte er vergessen. Ach so, nein, das hätte er nicht gemeint. Aber es sei auch keine schlechte Idee. Er meine nur, wir müssten üben, falls es im Winter keine Heizung mehr gibt.

Ich stelle mir vor, wie der Mann mit der Falte in der Wand Pizzateig ausrollt und wie sich dabei immer wieder eine Falte in der Fläche abzeichnet, auf dem Teig, der beim Plattdrücken unter der Küchenrolle weg knickt, sich an einer Stelle überlappt und so eine kleine linienartige, aber plastische Erhöhung in der sonst glatten Masse abbildet. Der Mann mit der Falte in der Wand drückt die Falte im Teig nach unten, aber sie bleibt dennoch sichtbar, bäumt sich auf, schnellt nach oben, lässt sich nicht wegretuschieren. Er rollt mit dem Nudelholz erneut über die Stelle, aber die Falte bleibt im Teig. Tief in die Oberfläche hineingedrückt wirkt sie noch fester, noch unbeweglicher, noch unvermeidbarer.
Die Falte im Pizzateig ist nach dem Backen knusprig und kracht im Mund.

Der Mann mit der Falte in der Wand hat spontan Zeit für ein Mittagessen. „Es ist warm“, sage ich und wir sitzen draußen, wo neben uns wieder eine Straßenbahn vorbeifährt. Nicht nur die Straßenbahn fährt an uns vorbei, Menschen auf Lastenrädern und normalen Fahrrädern fahren an dem Tisch, an dem wir sitzen, vorbei. Und sie winken uns. Oder vielmehr winken sie ihm, dem Mann mit den Haaren und er winkt zurück und die Haare wippen dabei kurz, die Haare, in die man die Hand hineinstecken und verschwinden lassen kann. Der Mann mit den Haaren erzählt mir von der Frau, die er seit zwei Monaten trifft. Dass sie darüber nachdenken, zusammenzuziehen, darüber nachdenken, Kinder zu bekommen. Das ging schnell, sage ich. Dabei führe ich dünne, mit saurer Salatsoße benetzte Mangostreifen zu meinem Mund und sauge sie ein. Wir bekommen von der Bedienung zwei Schokoladenherzen geschenkt. Sie sind in rote Aluminiumfolie gewickelt. Der Mann mit der Falte isst sein Herz und knüllt das Papier zu einer kleinen Kugel, die er über den Tisch rollt. Ich streiche meines auf dem Tisch glatt und forme ein neues Herz daraus. Das flache, plattgedrückte Herz hat kleine Krisselfalten in der roten, metallenen Oberfläche.

Ich stelle mir vor, wie der Mann mit der Falte versucht, die Falte in seiner Wand wegzubügeln, jeden Abend, vor dem Schlafengehen. Und wie die Falte doch immer wieder aus der Tapete quillt. Ich stelle mir vor, wie er trotzdem immer und immer wieder mit der Hand über die gewellte Fläche fährt, bis sie glatt ist. Für einen Moment.

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Valeska Stach

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13 | Georg Großmann

Mühlkreisberechnung

die Landschaft hier ist
mehrgeschossig
fiebrig, unstet
wechselt ständig
ihr Niveau
ist überall
und nirgendwo
ist Senke, Hang und
Kuppe an einem
Fleck

die Landschaft hier ist
durchstockwerkt
ist mit Wald bestockt
ist mit Wiesen bespannt
mit Häusern getupft
in denen sich weitere
Stockwerke anfügen
kleinteilig, feiner
abgestuft, filigran
erschlossener Raum
wie

eine winzige Schublade
die man aus einem Möbel-
gebirge zieht
ein Mikrokosmos
ein Setzkasten im
leuchtenden Moos
in dem wir
versteckt – in der
Nähe der Wälder, die
auch durchstockwerkt
vom

Wurzelkeller bis
zur Kronendach-
terrasse
alles verschachtelt sich
in die Höhe, dreht
sich, kippt seitwärts
kriecht in die Kerben
springt aus den Leiten
wie Erker hervor
wölbt sich den
Wolken entgegen

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Georg Großmann

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12 | Mario Thunert

Gleiszeit

Regen fällt
und gefriert
auf der Stelle
auf der Schwelle
spiegelt schlicht
das künstlich grelle
Neonlicht
beleuchtet
künstlich schnelle
Abschiedspflicht
Blicke wagen
nicht mehr viele
nutzen den vom Markt wehenden
Nelkenduft
für ein Lächeln
ist keine Zeit
der Zug
kommt wieder
aus dem Takt

.

Mario Thunert

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11 | Thomas Empl

Benno

Ich war einmal aus Versehen bergsteigen.

Beinahe katatonisch saß ich in der Straßenbahn nach Fushimi, in der Hoffnung, den Touristen am „Schrein der tausend Tore“ zuvorzukommen. Wie so oft in den letzten drei Wochen hatte ich kaum geschlafen und mich in der Dämmerung aus dem Sechzehner-Schlafsaal geschlichen. Mein Plan war, mir den Fushimi Inari-Taisha anzuschauen und danach in dessen Umgebung zu frühstücken, weshalb ich die Händler auf der Hauptstraße ignorierte, die mir unter Entschuldigungen ihre Bento-Sets feilboten. Tatsächlich herrschte am Tempel noch angenehme Ruhe; um seine Traufbalken hing der Morgennebel. In seinem Rücken sah ich die berühmten, orangefarbenen Tore, die einen Steinweg umschlossen, den Hügel hinauf. Ich ging los, womöglich gab es noch einen Nebenschrein. Etwas seltsam, dass nach vielleicht hundert Toren ein Getränkeautomat am Wegrand stand, in dem ein Mineralwasser teure 300 Yen kostete. Ich bemerkte, dass ich meine Wasserflasche im Hotel vergessen hatte, aber ich würde gleich unten zum Frühstück etwas trinken.

Ich ging und ging, schon fast eine Stunde durch die immergleichen Tore. Da würde ja jetzt noch was kommen. Ah – da. Eine Lichtung, eine Art Hügelvorsprung, von dem man auf Kyoto schauen konnte, über dessen münchnerischem Stadtbild die Sonne aufging. Gut, dachte ich.

Dann sah ich das Schild.

現在地  – You are here. Ein roter Punkt.

Ich war erst ein Drittel des Weges gegangen.

Meine Zunge klemmte trocken in meiner Mundhöhle, die Schlaflosigkeit stach in meine Venen. Ich hatte Hunger. Jede Vernunft hätte gesagt: Geh zurück.

Geh rauf, sagte mein Großvater.

Obwohl ich seinen Namen als zweiten Vorname trage, kenne ich meinen Großvater nicht. Er starb ein Jahr vor meiner Geburt an einem Krebsleiden. Ich kenne seine Stimme nicht, und nur ein einziges sepiafarbenes Bild, das eher nach 1890 aussieht als nach 1990. Weste, Wanderstock, Hut. Mein Großvater war Postmann im oberbayerischen Hausham. Er war in der SPD. Aber vor allem, das weiß ich, vor allem war er Bergsteiger. Und jetzt sagte er, oder wenn Ihnen das lieber ist, telegraphierte er mir: Wer anfängt, einen Berg zu besteigen, der muss auch bis zum Gipfelkreuz.

Ich bin kein Bergsteiger. Endlose Jahre lang wurde ich die schwierigsten Routen hinaufgescheucht, im strömenden Regen, bis zum Erbrechen, lernte als Achtjähriger die Nähe von Leben und Tod. Du lebst, wenn du dich gscheit am Seil festhältst, du stirbst, wenn du von der Felskante rutschst.

Ich wiederhole: Ich gehe nie bergsteigen. Ich war sehr müde. Ich hatte zwei Drittel Berg vor mir und ein Drittel hinter mir.

Natürlich ging ich rauf.

Ich verbot mir die Automaten, deren Inhalt – ich schwöre es – teurer wurde, je höher ich kam. Wie in Trance trieb es mich durch den Schlauch der Torbögen, die immer schiefer und immer roter mein Blickfeld einsperrten, ein schräger Tunnel für einen schrägen Jungen, seit drei Wochen allein auf fremden Gleisen.

Als ich nach Stunden oben ankam, hörte ich etwas, das ich seit drei Wochen nicht mehr gehört hatte: Deutsch. Plötzlich war ich umgeben von Deutschen. Ein Gipfelkreuz gab es nicht, keine Automaten mehr. Die Aussicht war unten beim Wegdrittel besser gewesen, hier versperrten hohe Bäume die Sicht. Warum hätte jemand hierherkommen sollen?

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Thomas Empl

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10 | Sigune Schnabel

Ich habe eine Schneehaut bekommen

 

Ich weiß noch, wie sie zum ersten Mal überfror
und mich die Erde widerwillig trug.
Ich ging auf ihr spazieren.
Frostblumen blühten grau.

Als ich die Felder erreichte,
knackte die Stille
vor Kälte. Ich legte ihr die Hand
auf den Rücken,
aber sie schob mich fort.

Ob sie alleine weiterzieht,
fragte ich sie.
Ihr Körper nickte.
Ihr Gesicht war weiß.

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Sigune Schnabel

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9 | POEDU: Tulinchen

Tiramisu

Ich stehe in der Küche
Und backe Sachen voller leckerer Gerüche.
Ein bisschen Kekse, Kaffee und Mascarpone
Mische ich dazu
Und im Nu
Hab ich ein Tiramisu!
Ich will grad gehen
Und schnappe mir meinen Schuh.
Doch da riech ich das fertige Tiramisu!
Ich kann gar nicht wiederstehen
Und statt zu gehen
Muss ich mal nachsehen:
Ist noch was da?
Vielleicht ja?
Vielleicht nein?
Ich mag diesen Reim!

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Tulinchen (11 Jahre alt)

 

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8 | Gundula Schiffer

Wippende Feuer-Seiten

 

Und die zwei Kerzen schauen
mich so traurig an
kleine schluchzende Feuer-Augen
„Du wirst es schon noch schaffen
ganz, den Schabbat zu halten“, klagen
sie zum Trost mich zärtlich an

Die zwei Kerzen sind gütig, stehen
auf dem Holztisch im Flur, zwei Engel
die leicht schwankende Glut eines natürlichen Lichts
das bereits Kulturtechnik, darum ebenfalls verboten ist
ab jetzt, taucht mein Haus in die wundersame Stimmung
eines Fests, in ein Dunkelgold, das immer freitags, das
ganze Jahr, gegen Abend bei uns einzieht – der Schabbat
schlägt selbst dem schrillen Sommer ein Schnippchen.

Die zwei Kerzen sind gütig, sie schauen still
zu, wie ich weiterschreibe, feiern glimmend ihre
Genugtuung, dass es in mir zu arbeiten beginnt:
das grelle Flutlicht des Bildschirms, der starre
Blick der Salzsäule, meiner Schreibtischlampe
beflecken mein Gewissen, sie erscheinen mir
wie Einbrecher. Liebste Sätze, die ich zu Kabbalat
Jedid Nefesch erschaffe, sind mir Tränen worden
schaue ich zu den Kerzen: Slicha, ich lerne es noch
wie man einen Text notiert im Kopf, so schlägt es
der Rabbiner vor. Eine Nacht lang euch zuschauen
wie ihr herunterbrennt, zwei schöne Königskinder
die Schechina selbst hat euch geboren. Wirklich
füllen zwei Kerzen, deren wippende Zungen uns
Poeme andeuten, die leeren Seiten des Schabbats.

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Gundula Schiffer

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