freiVERS | Avy Gdańsk

Slalom in Tartu

hinter der Sorge
läuft jemand her, weicht
dem Mondrotz aus, der
wie verächtliche Kometen
ausgespien auf den Straßen liegt
jede Nacht spuckt der Mond auf uns Pisser, amigo
unsere Visagen verstecken wir hinter
heruntergelassenen Rollos, während’s
im Treppenhaus klimpert: die Sorge schließt Türen auf
und schmeißt sich aufs Sofa; lass!
lass sie nur bleiben, die geht
schon wieder
eine Nacht mit Blutarmut und Erik
über den Kerzen Gedichte
Wörter brennen aus und wenn
wir einen Blick riskieren ist
manchmal ein Lächeln aus-
zumachen zwischen den runden
Augen der Autos, die leuchten
vor Staunen: sie bewundern die Dunkelheit
und bewahren das fröhliche Schwarz
am Tag in offenen Mündern; erinnern an
deine verspielten Zähne, dein
lückenhaftes Lächeln
wenn die Sorge dich in meine Wohnung führt

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Avy Gdańsk

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1 | Avy Gdańsk

Wortgewand

Alle Wangen sind mit Aufregung bemalt. Ich stecke im Atemgefieder der Menschen fest, es ist zu warm, ich kann mich nicht bewegen. Der Bus ist ein Schiff, die Straße schwappt darunter hinweg. Wir schwanken, der Seegang wirft uns alle aus der Bahn. Quer durch die Sitzreihen segeln Gespräche, eine Gruppe verstreut auf getrennten Plätzen. Zersprengt in Einzelheiten. Ich weiche den zungrigen Mündern aus, ihrem groben Gelärm auf dem Gang, schlage den Kragen ums Kinn. Unsere Köpfe und Schultern im Spiegel, wir sind ein Renoir auf den Scheiben. Die anderen Busse kurze Raupen mit stämmigen Fühlern, die Straßenbahn eine singende Nacktschnecke. Immer wieder fahren sie an uns vorbei und wir passieren lichtgefüllte Fenster, Lebensraum. Das Murmeln der Menschen ein Bienenstock. Mein schwerer Kopf versinkt im Summen wie in einer Kissenhülle. So sprechen die Dämmermenschen: vorbei an den Herzkapillaren. Eine nadellose Sprache, untauglich zum Blutgewinn. Ich wetze meine Worte, will zur feinsten Ader.

Immer weiter geht die Fahrt, immer mehr Ummantelte stürzen heraus, nur ein Falter steigt zu. Unter den wartenden Laternen schwebt eine milde Abendkälte, bei jedem Öffnen der Türen huscht davon etwas herein, ein kühlender Streif über Augen und Wangen, ein Spätherbstschweif. Er fächelt mir Erinnerung um die Nasenflügel, bald ist es Zeit, Endhaltestelle. Ich stehe allein im Bus, Stiefel fest auf dem Boden, die Teerwellen reitend. Wir gleiten durch die Kurven, im Bauch der Schlange bin ich ein schlingernder Schatten in lichttriefenden Innereien, ein Dunkelförmiges unter zuckendem Glas.

Mit Wucht spuckt sie mich aus, ein Ruck brusteinwärts, mein Fuß setzt sich auf unbekanntes Land. In meinen Schritten weiß ich zu gebieten, laufe mal wie Herrin, mal wie Herrscher, die Straßen voll von nichts als meinem Trittlaut. Frei ist nur, wer kein Wohin erfragt.

Das Blattgold der Alleen schimmert auf der Straße, ich schleiche nun, werde zu Lautlosem, bin ein Wanderer zwischen den Fenstern, der sich in der Nacht versteckt, sich anpasst an die Vorwelt – die Gegend vor verschlossener Tür. Auch ein anderer streift durch die Vorwelt, ein Jäger, der Fallen aufgespannt hat in den Lücken zwischen den Mülltonnen, unter den Außentreppenstufen, in den Gittermustern der Gartentore: Netze aus Schwärze, in denen sich jeden Abend ein paar Blicke verfangen, ein paar Unglückliche in den Abgrund fallen mögen. Füllen sich die Netze mit dem Sehnen der Menschen, nährt er sich davon, liefert er das Eingesammelte irgendwo ab? Oder breitet sich die Schwärze in ihnen aus, füllt sie an wie melancholische Plätzchenformen? Was auch immer sein Zeil ist, nie mangelt es ihm an Beute, denn die Augen treibt es nach draußen. Keiner kann es lassen, den Blick auf Wanderschaft zu schicken, weit fort aus dem Gefängnis des Schädels. Die Sehnsucht hört nie auf, immer suchen die Menschen die Welt mit den Augen, und was sie sehen, gibt ihnen Bedeutung, zeigt eine Lesart der Welt. Wie außen, so innen. Aber wenn alles nur ein Spiegel ist – ich passiere eine Tür mit einem Schild in Fraktur, „Familie ist die Heimat des Herzens“ – dann Gnade den Dämmermenschen. Jemand, der sich so an vermeintlich bedeutungsschwere Worte klammert, weil er selbst der Tiefe entbehrt, dem ist auch das Meer nur ein blauer Streifen, ein Urlaubsmotiv, und selbst das muss er nachbearbeiten, damit es den Anschein von etwas erweckt – etwas, das ihm fehlt, das er sucht und das er niemals finden wird.

„Ja, ein unerträglicher Gedanke – die armen Menschen.“

Ich fahre herum und neben mir steht der Jäger, deutet auf das deprimierende Schild, entfaltet ein weiteres Netz. Das spannt er zwischen den Grashalmen des Vorgartens, ein verschachteltes, viellagiges Leporello, das unbemerkt den Garten ziert, der ausartend mit Schildern dekoriert ist.

„Menschen, die Sprüche wie Schutzschilde aufstellen, empfinden einen großen, wenngleich dumpfen Seinsmangel.“

Er pocht gegen ein Blechschild mit der Aufschrift „Mein Haus, meine Regeln“.

„Jeder klammert sich an Worten fest, an irgendwelchen Zitaten, die einen an etwas erinnern sollen oder in etwas bestätigen. Sinnstiftung eben.“

Wieder holt er ein Netz aus der Tasche und beginnt es zu ziehen und zu formen, dehnt das unendliche Nichts.

„Aber wer die Worte noch nie verstanden hat, für den bleiben sie tot, und das ist wirklich allein. Siehst du?“

Erneut zeigt er auf ein Schild neben einem Vogelhäuschen, unter dessen Vordach er sein Netz anbringt. Geknicktes Origami, vernetzte Vorwelt. Seine geschickten Finger spannen das Netz von dort unter dem Schild weiter, zwischen dem bedruckten Holz und dem Baumstamm dahinter, schnippen prüfend mit dem Mittelfinger dagegen, es federt sacht. Das Holz des Schilds ist noch nass von vergangenem Regen, unter der industriell aufgedruckten Schnörkelschrift „A house is made of walls & beams - A home is made of love & dreams“ klaffen die Risse immer weiter auseinander.

„So viel Fremdsprachen, besonders bei Leuten, die keine beherrschen“, sagt er, in seinen Taschen nach neuen Netzen wühlend. „Weiter weg kann man von der Welt nicht sein. Wer nicht mal die Worte richtig kennt, die sie beschreiben – selbst, wenn es nur Plattitüden sind – an dem treiben die Füllhörner vorbei, ohne ihren Reichtum auszuschütten.“

Mit niedergeschlagenen Lidern fingert er ein weiteres Netz aus der Tasche, macht sich unter einem letzten Schild zu schaffen, hier ist die Leere richtig angebracht. Schlicht „Happiness“ auf einer spiegelglatten Oberfläche.

„Ein Wunsch, eine Bitte, eine Beschwörungsformel? Glauben die Leute, wenn sie sich so ein Wort in den Vorgarten stellen, werden sie glücklich? Und was für eine Art Glück soll das sein?“ Er beäugt das Schild neugierig, bringt seine formbare Falltür an. „Wer zaubern mag, muss Opfer bringen. Wer die Welt aufschließen will, muss die Wünschelrute ins eigene Herz stechen.“

Wir treten zurück, bestaunen das Werk von der Straße aus. Ich staune, der Jäger begutachtet vielmehr. Die taschenbesetzten Lagen seiner Überhänge flattern, als der Nachtwindhund vorbei prescht. Er wirft uns aus dem Gleichgewicht, so wenig Halt ist in den blättrigen Schlaufen der Herbstluft – beide landen wir auf den Hosenböden. Mantel und Überwürfe breiten sich um uns aus, wir überdisteln das Grau des Asphalts.

Durch meine fransigen Knie hindurch setzt sich gleichmütig der Bürgersteig fort, zwischen den Gittern des Gullis verschwinden weitere Netze in der Tiefe. Das ganze Gebiet ein fallengespicktes Revier, zappendustere Lauerbeutel überall. Meine Finger spitzen sich ihnen zu, wollen in den Strudel tauchen, nach dem Nichts greifen. Ich drücke sie gegen den rauen Boden und frage den Jäger, wie viele der Schildbürger ihm ins Netz gehen.

„Nicht viele“, meint er mit halbgesenkten Lidern, unter denen die Pupillen klaffen wie zwei Schlüssellöcher. „Sie sehen nichts. Wer Hände hat, der koste, wer Lippen hat, der taste, habe ich jedes Mal in den Abend geflüstert. Man kann das auf viele Weisen verstehen, und jede davon ist nützlich. Aber sie verstehen gar nichts.“

Mit scheuchenden Bewegungen streift er sich den Staub von den Beinkleidern, macht aber keine Anstalten aufzustehen. Ob es ihm gefällt, am Boden zu sein? Auch ich bleibe sitzen. Welche Leute ihm denn dann in die Blickfalle tappen, will ich wissen. Er erwidert: „Was denkst du?“

Weil ich nicht weiß, wohin die Fallen führen, was dort gefangen und eingesammelt wird, kann ich keine Antwort sagen.

„Übergehende Augen aller Art“, beginnt der Jäger, „fallen dort hinein. In meinem Netz entspinnt sich die Welt, die diesseits davon nicht möglich ist, aber mit allen Fäden fest an der hiesigen hängt. Ein Quallenstoff, ein Schwebeteil mit hundert lockenden, hundert begierigen Armen.“

Seine Beschreibung gibt mir Rätsel auf, und er fragt mich verstohlen: „Willst du einen Blick hineinwerfen?“

Ich biete ihm an, ihn stattdessen beim Wort zu nehmen, beim zottigen Wortpelz, sein flackerndes Fell zu halten und ihm nachzusteigen in den goldenen Mund der Morgenstunde, hinter die Mauer aus sonnigen Zähnen.

Doch er verneint – noch brauche er mich hier – und hängt mir den Mond an, eine fliegende Fußfessel, damit mein Schritt schleppend wird und er mich langsam leuchtend erblickt, sobald ich näherkomme. Ich aber, Gestirnshäftling, entsinne mich meiner Zungenspitze und steche eine Silbenader an. Die Blätter steigen vom Boden wie Nebel, heben sich hundertfach empor, ein fuchsschnäuziger Schwarm nach Norden. Die Luft eine bauchige Laubstaude, Dächer stoßen sich an der Errötung. Wie singende Schnabelschuhe tragen mich die Blätter, von meinen Lippen tropft das Zauberwort. Horchte jemand hin, so könnte er es hören.

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Avy Gdańsk

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13 | Avy Gdańsk

Landflucht

Ich hatte das Schlimmste befürchtet: den Sommer. An Land war es zu trocken, trockener noch als im Vorjahr, die Erde ein schuppiges Reptil. Ich suchte in überfüllten Schwimmbädern, unbeaufsichtigten Badeseen, felsigen Buchten – in meinem Kopf lächelten schon die Krokodile. Die Suche fast wie unsere Kindheitsspiele, nur todernst. Erst am Ende der Woche verriet mir Cepha verschämt, dass sie zuletzt in der Anlage gewesen waren, wo ich Konve endlich fand – nackt, nass und erzählbedürftig. Ich hörte zu.

„Am Tag vor der Schließung feierten wir Erans 19. Geburtstag im Camp Brium, der alten Zeiten zuliebe. Wir waren die letzten Gäste. Für zwei Stunden als Tier eine Schnitzeljagd im Team machen – damals ist das eine Weltneuheit gewesen. Sie haben ihren Standard nie erweitert, du kennst das ja noch: Man kann sich nichts aussuchen. Vermutlich lief das Geschäft darum eher schlecht. Es gibt nur sechs Tiere, jedem wird eins zugewiesen. Du wolltest immer ein Rauhfußhuhn sein, Thyst, und jedes Mal musste ich dir erklären, dass keins dabei war. Kein Haselhuhn, kein Birkhuhn und kein Auerhuhn. Die waren damals schon fast ausgestorben. Doch daran dachten wir nicht. Wir hatten nur unsere eigenen Probleme vor Augen und welche Tiere wir gerne wären. Aus mir machten sie den Trilobiten. Ausgerechnet.

Wir suchten uns in den Regalen unsere Utensilien zusammen – sie führten auch Erwachsenengrößen – und ich fand den Panzer nicht. Fühlte mich wieder wie in der Schule, die wir erst abgeschlossen hatten. Nervöses Fingerkuppenreiben, Herztrommeln, Angstschweiß. Ich fragte mich, wie ich als Trilobit all die Aufgaben lösen konnte. Warum ich nicht ein Flugtier oder eins mit Krallen und Zähnen hätte sein können, so hätte ich mich sicherer gefühlt. Aber mir blieb nur das Exoskelett, dass ich dann auch aus der letzten Reihe hervorzog, schon ganz abgenutzt von zig vorigen Geburtstagen. Stromlinienförmig. Wer das wohl schon getragen hatte. Egal. Ich musste hineinschlüpfen und das Spiel begann.

Für zwei Stunden verloren wir jede Sprache, sodass ich die Ereignisse nur rückblickend aus Menschensicht widergeben kann. Meine Erinnerung besteht aus Sinneseindrücken und Intuition. Im ersten Moment gab es noch Erleichterung. Ich musste die subtilen Gemeinheiten der Gruppe nicht ertragen, in deren Rangordnung ich am niedrigsten war. Ich ließ die Blicke von Sagitt, Cepha, Versal, Eran und Robe an meinem Panzer abprallen, doch ihre Tieraugen hatten den Spott ohnehin verlernt, ihre Lippen das hämische Grinsen. Ein Marder, ein Chamäleon, eine Elster, eine Vogelspinne und ein Gürteltier standen auf einer Urwaldlichtung. Ihre echten Namen hatte ich schon vergessen. Wir stellten uns einer neuen Unfreiheit. Dann hieß es losziehen.

Tapire preschten aus dem Gebüsch. Die Spur der Rüssel unser erster Hinweis. Wir krabbelten, flogen, kletterten hinterher. Ich als Schlusslicht. Kannte das Spiel schon, hatte aber vergessen, was als Nächstes kam. War ja Trilobit. Doch ich sag dir was: Selbst Trilobiten können sich unnütz fühlen. Merken, wenn sie überflüssig sind.

Die Elster schrie, der Marder keifte und die Spinne stridulierte. Sie hatten etwas entdeckt, während wir Übrigen mit unserer Stimmlosigkeit haderten. Damit hatten die anderen zwei mehr zu kämpfen als ich.

Etwas steckte im Boden, gehalten von der Erde, die einfach nichts loslassen mag. Das besitzergreifendste Element. Wir machten uns daran, ihr das Objekt zu entringen: Das Chamäleon hielt es fest, der Marder fing an zu graben und sogar Elster, Vogelspinne und Gürteltier scharrten mit. Nur ich – kein Tunnelgräberexemplar – konnte nicht mithelfen. Niemand warf es mir vor. Sie vergaßen mich einfach.

Die Einsamkeit der Urzeittiere ist schön, weil schnell verflogen. Ehe sie ernst wird, überfällt einen der Überlebenskampf und schenkt einem gnädigen Tod oder gnädige Ablenkung. Ein treuer Begleiter in der Natur, der auch mich nicht im Stich ließ, denn schon fiel mich etwas anderes als Trübsal an.

Ein Maul. Feuchte Atemfluten. Und ich schreiunfähig. Angstapparat. Die fünf grabenden Tiere schauten auf. Eingezwängt zwischen Blicken und Zähnen stellte ich fest, dass niemand mir feind war: Das Primitive kennt keine Boshaftigkeit, nur Hunger. Warf mich voll Futtervorfreude hoch – und verlor. Denn ich landete im Wasser,

In den Zellen dumpfes Ich, kannte das Wasser, war sein Wesen, urvertraut. Plötzlich war ich leicht und beweglich – war ganz in meinem Element. Das Element, das der Erde ständig abrang, was sie besaß, und es ihr als Zerriebenes wieder zuführte. Die Wellen ahnten es an mir. Und ich, Thyst, brauchte kein Wofür, ich schwamm einfach und war bereit, es mit dem Tod aufzunehmen, als Spiel und Ziel zugleich. Du meinst, Zweck kann keinen Sinn ersetzen? Denk an die Spiele im Camp Brium, an den Rausch, wenn man sich gerettet hatte. Der Spaß der Aufgabenlösung. Gefahr oder Vergnügen reichen vollkommen aus, ein Leben zu füllen.

Die Gruppe war verschwunden, als ich auftauchte. Auch das Beutetier hatte sich verzogen. Nach Ablauf der zwei Stunden fühlte ich den Druck des Menschseins und musste ihm nachgeben, schlüpfte aus dem Panzer. Ich ließ mich in den Farn fallen wie angespült.

Erst hing ich noch dem Wassergefühl nach, dann kamen die Worte. Belegten meine Erfahrung, als hätten sie die Plätze reserviert – bestuhlte Wildnis: Zivilisation. Das brachte mich auf den Gedanken, wo die anderen blieben. Ob sie Erans Geburtstag wie früher am Steg ausklingen ließen, am Weiher, lachend wie Krokodile. Ich musste feststellen, dass ich auch ihrem Sinn entglitten war, als sie mich aus den Augen gelassen hatten.

Du kannst dir vorstellen, wie wütend ich war – doch als sie drei Stunden später auftauchten, um nach mir zu suchen, sah ich ein, was mich notwendig machte: Ohne mich geriet die Dynamik durcheinander, ohne mich schwand ihr Zusammenhalt. Konnten sie nicht mich angreifen, taten sie es gegenseitig. Ich hatte es aber satt, zum Zweck ihrer Sättigung zu existieren. Darum beschloss ich, unangenehm zu werden: Ich starb aus. Jedenfalls war meine Unauffindbarkeit für sie damit gleichbedeutend.

Ich wusste, so entstünde bei ihnen keine neue Weltordnung – sie würden sich jemand anderen suchen. Aber ich konnte hier am Gewässer in der verlassenen Anlage etwas Neues werden. Ausschwemmen, was mir nicht bekam. Den Panzer behielt ich, doch eine Rückverwandlung war nicht mehr möglich – die muss am Eingang durch die Betreiber autorisiert werden. Die hatten schon Feierabend gemacht und überließen mich meiner Evolution.

Ich musste viel an dich denken, Thyst. Habe viel Zeit im Wasser verbracht, um mich mit ihm zu verbrüdern. Habe mir gesagt, wenn ich schon nicht die Rauhfußhühner für dich hab retten können, dann rette ich wenigstens uns. Das Meer rückt nah an uns heran, sein Ellenbogen stößt uns in die Seite. Weg von der kokelnden Erde. Ich war in dieser Woche lang im Wasser, und schau, schon werde ich weich, schon werde ich weniger kalt. Meine Hände: Abschiedsflossen. Es führt ein Weg zurück.“

Konve nahm mich mit schwammigen Fingern und zog mich zum Rand. Ich bewegte mich einfach. Folgte dem Wort. Wasser war Gesang, ich war Körper – ein Ballsaal für Schwingung. Angezogen von der Melodie. Spielsüchtig. „Tauch ein. Geh unter.“ Ich verfiel meinen Sinnen.

Badeanzug aus Kaulquappen und weiches Algenhaar. Augen treiben wie Flöße über den Weiher und Haut ist Strand, an den die Wellen schlagen. Die Kussgeräusche der Kois versteckt hinter Barteln. Wasser ist Wollen. Körper bedeckt von Begierde bis über die Ohren. Ein wässriges Röcheln das Rinnsal hinunter zum Rand, schilfskolbdurchstochene Enden. Hier ist das Wasser festgenagelt, mit diesen langen Röhren, hier wandelt es sich in Morast. Tauchgang der Worte zum Grund, ein Mundvoll von schwappender Zunge. Das Wasser trägt den Himmel auf den Flächen, die Luft kippt aus den Zweigen in den Pfuhl.

Die Kuppen der Finger streicheln mal Wind und mal Nässe, am Morgen feuchte Reigen aus Gespenstern, am Abend einen Wattegeisterzug. Landunterlippen lesen Kreise aus dem Wasserläufertanz: sprunghaftes Ballett. Wünsche werden Blasen, die ans Oben denken, wo die Sonne sie mit Nadelstrahl zersticht. Die Steine tragen grünes Fell und Halskrausen aus Froschlaich. Blätter geistern wie Barken zum anderen Ufer.

„Spürst du die Urtümlichkeit, die es braucht? Nur, was es schon gab, bleibt bestehen. Wenn alles gut geht, verstehst du mich bald nicht mehr.“

Fleischbad. Moosleib. Das Grün brennt die Beine hinauf. Gliederkerzen. Arme glühen im Dunkeln. Weite Geste gestern noch. Lösen sich nun aus der Form. Wachsfigur. Quallenmensch. Quellentier. Es geht zurück.

Konve spricht. Ich verstehe.

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freiTEXT | Avy Gdańsk

Nach-t-wuchs

In den Schatten unter deinen Augen lese ich: Der Schlaf war wieder zu dünn, eine Schicht Eis auf dem See, schnell eingebrochen. Immer fräst sich der Lärm durch die Traumwände, rückt von allen Seiten unerträglich nah. Ein Erwachen wie das Einschalten der Maschine, Wiegegriff und drohende Beruhigungslaute einer nicht weit entfernten Böschung. Die Erschöpfung bringt dich an den Rand des Guten.

In den Dachbodentagen waren wir der Lärm, ein springender Laut wie Gebälk, gegen die Nischen anbrüllendes Tiersal, eine Tapete aus Gegröl. Wir waren augsam auch, schaulustige kleine Geschöpfe mit Bast an den Wimpern, die Blicke flochten sich beinahe von selbst, wir griffen ins Sichtfeld hinein und pflückten die Ansicht, aßen die Hügel auf, bis unsere Bäuche sich wieder verdünnten.

Wir waren entsetzlich bedürftiges Faultier, ein Schnappen der Luft waren wir, ein Vergreifen an grünenden Zweigen. Eigentlich gebaut als Hoffnungsträger, zum Schultern von Erwartung. Knickten darunter ein, weil wir aus Fleisch waren und nicht, wie erfordert, aus Marmor.

Jeder Raum von uns: angefüllt bis unter die Gestirne, die unsere rohen Hände verließen, durch die Nagelspitzen leuchteten. Wir, gegen die Decke, Verlängerung der Endlichkeit. Ein Warenhaus, ein Sindhaus, Wirdshaus, zerschlagen von uns, Abrissbirnenteile waren wir, Verwirklichung, Verwirung.

Und das willst du alles zurück? Willst Wanzenwänste, die in Westen stecken, willst auf den Kniepferdchen reiten den saftigen Wolken hernach, willst die gewellten Scheren halten, Meere aus Karton.

Wackersteinschlieren willst du, Blubbern unter gesenkter Hand, und dann so tun, als sei es ein Quell aus dem Erdreich. So lernt jeder auf andere Weise, dass es zum Oben ein Unten gibt. Die Blasen, lustig anzusehen für den Tunkenden, waren die Angstschreie dessen, den er zur Tiefgründigkeit zwang. Danach gab es kein Zurück an die Oberfläche, man hatte die Unterseite der Welt gesehen und erkannte sie überall wieder. So wurden wir verschieden, dadurch, wie lange wir uns einander dem Schatten aussetzten, einander das Licht entzogen. Ich konnte mich immer schon besser an die Dunkelheit anpassen.

Dein Nachwuchs, mein Nachtwuchs. Weil du im Hellen lebtest, trafst du andere Entscheidungen. Die Sonne aber wandert, und der Schatten macht dir Angst. Willst dich absichern gegen die Kühle, die du nicht gewohnt bist. Vermisst das Kirschkernspucken gegen fremde Knie. Was willst du wirklich, die früheren Wunder, die alten Wunden? Suchst nach erneuter Verkleinerung, um wieder Zugang zu finden zu den Wichteltüren, zur Schneckenpost, zum Kürbislächeln. Ich finde ihn noch, jenen Eingang, nicht unentwegt, aber oft, drum lass dir eins gesagt sein:

Was du jetzt nicht mit Herzfingern greifen kannst, die rot sich um Luftburgen schlingen, kommt auch durch Vereinfältigung nicht zurück. Siehst du jetzt nicht die gebräunten Buckel der Trauben, die Käppchen der hageren Butten, was hilft dir ein zweites Paar Augen? Du suchst eine füllende Masse, die dein Lächeln drückt bis an den Lidrand, formbar soll sie sein, ein haltbares Kunstwerk. Dein eigener Hoffnungsträger, da du sie selbst nicht mehr halten kannst in deinen schwachen Händen.

Willst wieder reden mit wirbelndem Mund, möchtest dein Singen erfinden, die Muster unterm Regenteppich sehen, mit der Laterne durch die allererste Nacht, verborgene Botschaften aufspüren.

Zuerst aber musst du dein Leben verlieren.

Die sägende Saite spielt dich, ein Geigenbogen gegen deine Kehle ist der Schlaf, zu dünn, er schneidet ein, er zieht sich zu, der Atem dünne Klingen, die Luft rasiert den Rachen, die Lider dünn, die Nerven dünn, die Lippen. Wann werden die Wangen voller, fragst du dich, horten wie Hamsterbäckchen das Lachen? Auf Stroh – weißt du noch? – schliefen wir einmal und es wurde nicht zu Gold, auch wenn wir daran glaubten, im Schlaf es fest uns wünschten. So mag es nun wieder sein, oder Gold aber macht dich doch nicht froh.

Denkst heimlich daran, es zurückzurollen ins Wasser, die strampelnde Kugel zu tauschen gegen einen zauberhaften Prinzen. Doch alles sind falsche Versprechen, Wasserfall ist keine Möglichkeit, zwischen deinen blonden Strähnen erste Grausamkeiten.

Treffen wir uns, bekomme ich nichts als Fassade. Ist das die Strafe für die Opfer, die ich nicht bringen wollte? Dein Himbeerlächeln, extradick aufgeschmiert: Zucker, der zusetzen soll. Dein ganzer Stolz – hüfthoch – reicht, um dich damit zu schmücken, solange wir uns sehen. Es ist niemals lang. Kann dies, kann das, tut dies, tut jenes, wird aber fremder Tag für Tag, die Entwirung beginnt schon allmählich – das spüre ich, obwohl du es versteckst.

Du wieder oft im Alleingang, arbeitsame Hände, wir ziehen tolle Formen aus der Leere, du und ich, sie folgt unseren Gesten nach Hause. Hat man nichts zu tun, ist man dem Sein so ausgesetzt, nicht wahr, man muss sich dem Ich übergeben, also bewegt man die Finger, um es zu vertreiben.

Ich brauche deine Beweismittel nicht, die verzweifelten Superlative, die Fotos, deren Strahlen etwas überblenden soll. Ich sehe dich hinter den Gardinen auch schimpfen, weinen, müde an die Wand starren. Neide mir nicht die Bewegungsfreiheit, die Zeitlosigkeit und dass ich verfügen kann, wo du verfügbar bist.

Einmal treffen wir uns unterwegs auf der Straße, du siehst aufgegeben aus, und weil es keinen Ausweg gibt, stellst du dich mir. Als wolltest du flüstern: Los, spotte doch schon. Da sage ich es dir: Schluss mit dem Wettkampf. Wir müssen uns nichts vormachen, müssen nicht drum eifern, welcher Lebensentwurf der bessere ist. Entwürfe sind Linien, um das Weiße des Blatts zu bedecken. Und füllst du es bis an den Rand, ist es zu dunkel. Lass das Nichts durch, oder verzichte aufs Licht. In jedem Fall verlieren wir.

Da schlägt deine Lebenslinie dankbar aus, rutscht auf meine Seite der Welt, seit langem überkreuzen sie sich wieder. Geben wir sie zu, die Einsamkeiten, gegen die nichts gewachsen ist, nicht mal das, was wir selbst aufgezogen haben.

Unsere Freuden sind anders geworden, betretbar, die Trauer unverhüllt, beschaulich, wir lassen die Vergleiche sausen, wo es geht.

Manchmal, wenn ich drüben bei dir eingeladen bin, betrachte ich die Abspaltung deines Selbst, rasch heranwachsend, beim Zeichnen auf der Terrasse. Der Stift schlittert hinter der Vorstellung her, die Hände tappen im Dunkeln.

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Avy Gdańsk

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05 | Avy Gdańsk

Alle davon

Rührendes Gemehlde: Teiggesichter in Scheiben, Halbmondgrübchen, Lächeln auf Blechen. Firmament aus Stroh festgesteckt an wohlriechenden Nadeln – Voodootanne. Und Licht von einer Wärme, die den Gehsteig nicht erreicht. Wie auch von den Stimmen – helle Mehlstimmen – nur das gedämpfte Beschlagen bleibt, Staubschicht gegen die Fenster, inhaltsleeres Krakeelen.

Die schwarzen Stiefel eines Backwarenverächters knirschen auf der Straße. Lukas mit dem unwahrscheinlich blonden Haar, strubbelige Geistermähne, unsichtbare Augenbrauen. Ein Mehlwurm in der Vorratskammer der Gesellschaft, getarnt in Schnee und nachtschwarzer Jacke. Vor sich den kreischenden Weg zum Dorfrand, wo der Schnee nie stillgibt und die Festtage ihr hässliches Antlitz in den Christbaumkugeln nicht ertragen können. Die Glocken läuten hier nur zur Mette, um daran zu erinnern, dass es eine Außenwelt gibt.

In Jonnys Kellerwohnung steht kein Baum, und die Glocken gehen unter in den schweren Riffs aus der Anlage. Lukas klopft zweimal gegen das Fenster, es öffnet sich, Qualm entsteigt. Jonnys Stimme, sanft und hell trotz jahrelangen Kettenrauchens. „Warte, ich komm hoch, muss den Aschenbecher ausleeren.“ Sie treffen sich im Hof.

„Weißt du überhaupt noch, wie frische Luft riecht?“ Gehustetes Lachen, Rücken werden geklopft, Lukas am ledernen Arm die Treppe mit herunter gezogen. Neblichtes Zimmer, die Schwaden ziehen durch die gekippten Fenster, die schmal unter der Decke kauern. Rauchzeichen formieren sich in der Winterkälte zum Mittelfinger gegen die Besinnlichkeit. Im Zimmer wird es langsam kühl.

Der kühle Vorraum damals hinter der Haustür, am anderen Ende des Dorfes, wo Lukas sich Stiefel und Mantel auszog und das traurige Lächeln von Jonnys Mutter sich auf seine eigenen Mundwinkel übertrug, als wäre die schale Wohnungsluft zwischen ihnen Pauspapier und er selbst wüsste den Grund der Trauer nicht. Wie froh er ist, nicht mehr an ihr vorbei zu müssen.

Sie hat auch den Namen ausgesucht, diesen braven und biblischen Namen, für den sich Jonny geschämt hat, Jonah, weil er ihn mit einer unerfüllbaren Hoffnung belastete. Den Spitznamen hat er in der Schule bekommen und ist dabei geblieben, obwohl die anderen Kinder sich damit über ihn lustig machen wollten. Jonny, der trottelige Cowboy, der bei einer Kostümfeier über seine eigenen Stiefel stolperte und damit alle zum Wiehern brachte. Der zu still war und zu schüchtern, um den Revolverheld zu mimen, und deshalb so ein lächerliches Bild abgab. Beinahe erleichternd fiel ihm ab da die Rolle der Witzfigur zu, die zu erfüllen ihm keine Mühe bereitete.

„Wenn sie schon über dich lachen, dann gib ihnen wenigstens nen Grund dazu, sonst stehst du noch blöder da“, hat Jonny mal zu Lukas gesagt, in einem der seltenen Momente, wo seine Lippenspitzen nicht wie gewohnt durch Verlegenheit in diese halbe Höhe rutschten, als wäre sein Lächeln von der Klippe gestürzt und verunglückt, als hielte der Ernst sich vor Angst hinterm Herzen zurück und traue sich nicht, ins Gesicht zu steigen.

Jonny fällt aufs Sofa, klopft auf den Platz neben sich, während er mit den Lippen schon eine neue Kippe aus der Schachtel zieht wie für ein einzuübendes Zirkusstück. Hält Lukas die Packung hin, brüderlich geteiltes Gesundheitsrisiko. Grinst, als er Lukas das Ende ansteckt. „Wie früher“, mit gezündeten Augen und hauchdünnen Lippen. Reicht Lukas ohne zu fragen das erste Bier.

„Worauf hast du Bock? Hab noch n paar neue Videos besorgt. Von Nosferatu bis Fright Night.“ Im ewigen Dämmerlicht des Zimmers, im bläulichen Dunst sieht Jonny verschwommen aus, flimmernd. Der Aschenbecher gigantisch, eine Schale aus dickem, rotem Glas, durch das in den Abendstunden die Sonne fällt wie durch ein Kirchenfenster. Dazu die Chöre des Fernsehers, der immer läuft, wenn die Musik aus ist. Lukas betrachtet die grobkörnigen Gardinen, die jedes Mal etwas mehr gilben, als denke er über die Frage nach. Schmeckt irgendwie Süßes durch den Rauch, als hätte Jonny sich eine Zimtstange statt einer Zigarette angezündet.

„Lass uns mit nem Klassiker anfangen“, bringt er schließlich heraus, „vielleicht was mit Bela Lugosi?“ Jonny nickt, mehr im Takt zur Musik denn als Antwort, greift dann aber zur Videokiste, stellt sie auf seinen Oberschenkeln in den abgewetzten Jeans ab und sucht nach dem Band.

Zwischen spitzen Frauenschreien die schwarzweißen Fragen nach Lukas‘ Handelsschule („Ich hasse es“) und Jonnys Job („Ich ertrag die Wichser nur, damit ich die Bude bezahlen kann“). Albträume sind wahr geworden. Lukas Tag für Tag im Anzug und Jonny wöchentlich im Proberaum der Tors, eine „waschechte Scheunenrockband“, als wäre das ein richtiges Genre und ihr Name nicht das dämlichste aller Wortspiele. Eine dieser Lokalbands, die nur anderer Leute Lieder spielt und auf Dorffesten für Stimmung sorgt, wo Pärchen mittleren Alters mit weingeröteten Nasen erst dazu tanzen, später enthemmt mitgrölen und anschließend hysterisch darüber kichern, weil sie sich selbst beim Ausbruch ertappen. Das Erstaunliche dabei ist, dass Die Tors ständig gebucht werden, ob für Hochzeit, Geburtstag, Taufe oder Hauseinweihung und sogar für Beerdigungen. „Das geht nur hier, am Arsch der Welt“, lacht Jonny. „Aber ich bau mir ein zweites Standbein auf. Der Conrad sagt, ich bin gut. Er gibt mir ein, zwei ausrangierte Liegen, für den Rest spar ich, und dann mach ich hier mein eigenes Tattoo-Studio auf.“

Lukas ist skeptisch. „Hier, am Arsch der Welt? Kommt da jemand vorbei?“

Jonny winkt ab. „Con-Man meint, das geht schon. Ich soll mit ein paar Bekannten anfangen und dann spricht sich das rum, sagt er. Die…“, Jonny stockt und kratzt sich im Nacken, Wärme wird auf Wangen sichtbar, wieder liegt ein verunglücktes Lächeln in seinen letzten Zuckungen.

„Ich höre?“ Lukas zieht eine Augenbraue hoch. Jonny druckst herum.

„Also… Die Räuberhauptfrau hat schon gesagt, sie kommt vorbei. Um sich von mir stechen zu lassen. Die Haut, mein ich.“

„Die Räuberhauptfrau? Hat die auch einen Namen?“ Lukas überlegt, ob er seine neue Freundin auch erwähnen oder lieber verschweigen soll. Nur, wenn Jonny bereit für mein Glück ist, hat er sich vorher gesagt.

„Hat sie, aber den sag ich nich. In ein paar Wochen hat sie eh kein Interesse mehr. Hat sich von Conrad nen Violinschlüssel tätowieren lassen, um ihre Eltern zu schocken, bevor sie auf die Uni geht. Die ist aus gutem Hause, sag ich dir. Was will die schon von mir? Sobald die merkt, dass ich keine Ahnung von Beethoven hab und nur ein paar Gedichte von Benn versteh, ist es eh vorbei.“ Jonny setzt die Flasche an und ertränkt den Fortgang des Gesprächs mit einem gewaltigen Schluck.

Plötzlich knurrt Lukas‘ Magen wie Lon Chaney Jr. Er hätte vorher etwas essen sollen – bei Jonny, weiß er, gibt es nur Flüssignahrung. Entsprechend dünn ist sein Freund. Der aber schaut triumphierend hoch und sagt „Ha! Das hätt ich fast vergessen. Ich hab was für uns“, als müsse er selbst nicht essen und tue es nur Lukas zuliebe.

In der Küche – eine alte Küche, früher viel benutzt und heute kaum – das angekündigte Abendmahl: zwei Tiefkühlpizzen und ein Bottich selbstgemachten Glühweins. Zu Feier des Tages. Aus vom Weihnachtsmarkt vor acht Jahren geklauten Bechern. Hier kommt der Zimtgeruch her. Lukas‘ Hände knistern, als Jonny ihm das heiße Gebräu eingießt wie ein manischer Druide. „Zaubertrank. Das einzige, wofür dieses beschissene Fest gut ist. Also dann: Frohe Heilandsgeburt. Wie heißt es bei Benn? Schließlich kommt es, bläulich und klein. Urin und Stuhlgang salben es ein. Prost.“ Sie kennen nicht viele Dichter, die üblichen Handvoll, und Benn nur, weil Lukas Abitur gemacht hat. Es gefällt ihnen, wie verächtlich und angeekelt er über Menschen schreibt. Der wusste Bescheid.

Lukas nimmt einen Schluck, blutwarm und wachsrot, Advent brennt seine Kehle lang wie an einem Docht, er ist die letzte Kerze auf dem Kranz, Lichtgeruch in der Nase, sein Kopf scheint schwer, seine Versprechen werden hochheilig. Der Geist fährt in sie – „Traubengeist“, wie Jonny trocken lacht – befähigt sie, in anderen Zungen zu sprechen, denen des Gefühls, „vielleicht haben die Scheißjünger an Pfingsten bloß gesoffen“, und mit jedem entblößten Eckzahn auf dem Bildschirm spitzt sich diese Sprache zu, die ihnen nicht neu ist, aber zwischendurch immer verschüttet geht und wieder geborgen werden muss – Glück auf!

Und nun geht alles, was unmöglich schien. Jonnys Lächeln kraxelt bis zum Gipfel, bevor es sich hinabstürzt, und dann marschiert der Ernst auf in einer geraden, scharfen Linie vom Nasenflügel bis zum Mundwinkel, schreitet abwärts bis in Jonnys Stimme, die schwer wird und fest, wie auch seine Konturen trotz unablässigem Kippendunst immer schärfer und fester werden. Seine Jugend trägt sich ab, schneller noch als die von Lukas, rasend schnell. Jonny fühlt sich „so runtergekommen, aber dazu muss man erst oben gewesen sein“. Er sieht seinem Vater „viel zu ähnlich“, vielleicht deshalb die ganzen Ringe und Kugeln, um seinem Gesicht eine andere Wendung zu geben, um es gegen die Genetik zu gestalten. Gleich drei Piercings unter dem linken Mundwinkel wie ein Erkennungsmerkmal. Wo andere einen Punkt setzen, lässt Jonny drei davon stehen, jeder Satz ins Leere laufend, ins Nichts… Auf dem Bildschirm blutet jemand aus.

Die Becher nie halbleer, immer randvoll, dafür sorgt Jonny schon mit der Schöpfkelle und der Wein wird nicht weniger, Hochzeit von Kanaan, und das Wort Trunkenheit klingt so viel würdevoller und erhabener als dieses wüste Gelage es ist, dieser erbärmliche Versuch, eingestürzte Minen freizuschaufeln. Was in ihnen wütet, Jonny weiß es zu benennen, „eine Losigkeit“, und weint, weil es wahr ist. „Wie mein alter Herr: hat immer geheult, wenn er blau war“, stößt er voll Abscheu aus, „jeden Abend, bis er einfach umgefallen ist.“ Kommt in Fahrt, kann gar nicht mehr bei sich behalten, was sonst unausgesprochen verkümmert. „Und Toni, die Räuberhauptfrau, was soll ich da tun? Ich weiß jetzt schon, wenn sie mich anschaut und nicht zurückschreckt vor dem, was sie sieht… Wenn sie mich ansieht, mit zärtlichem Lächeln, dann kann ich zwar so zurückgucken, klar, aber ich liebe doch nur die mir zugewandte Seite. Ich kann doch nicht mehr geben, als ich hab.“ Wischt über die roten Augen mit zitternder Hand, die vom Ernst gezogenen Gräben werden tiefer, dort hat sich etwas abgesetzt, drückt die Mundwinkel nach unten. „Ich will das alles nicht, aber ich hab keine Ahnung, was ich stattdessen will. Irgendwas musst du wollen, haben immer alle gesagt. Vielleicht will ich einfach nur ein Ende, vielleicht ist das alles, was ich will.“ Noch ein Schluck, noch ein Schluchzen. „Immer muss es weitergehen und immer muss man das Leben bejahen. Auch wenn jeder weiß, dass es sinnlos ist und beschissen. Aber wenn du es nicht toll findest, sind alle sauer. Dann kommt irgendein Aufbauspruch oder Trost, der keiner ist. Ich will nur in Ruhe aufhören können.“ Krümmung zur Brust, den Hinterkopf in den Händen. „Aufhören zu nehmen, was ich eh nicht halten kann.“ Der Ellenbogen stößt eine leere Bierflasche um, die auf den Fliesen zerbricht. „Für die Unvollständigen gibt es nur Nehmen. Verzehren sich und andere. Nehmet und –“ Lukas, der Scherbenbeseitiger, liest das gläserne Vermächtnis auf und schon fließt Blut über die Handfläche. Der Himmel zieht zu, der Bildschirm wird schwarz, darin Lukas‘ Spiegelbild, die Haare hell wie ein Heiligenschein. Jonnys erstickende Worte hinter seinem Handrücken, er wird rot, während er trinkt, rote Lippen, rote Piercings, rotes Rinnsal übers Kinn. Wo kommen die verdrehten Augen an? Ein Gründonnerstag mitten im Winter, doch Jonny bleibt, obwohl er trinkt, der Ausgezehrte von den beiden. Die Salzreste auf seinen Lippen brennen in der Wunde. Ein Versiegen, ein Versiegeln, der Film läuft weiter, jemand seufzt.

Bei Sonnenaufgang lässt Lukas das Tor ins Schloss fallen. Schiebt sich ein Kaugummi in den Mund und betrachtet seine verbundene Hand. Auf der hellen Seite hält man oft mehr Kummer aus, denkt er.

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Avy Gdańsk

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Augenwischerei

Wieder wird eine Ladung Süßstoff vom Kuchenschiff abgehoben, verschwindet im Sahnehafen. Der Gabelstapler kehrt leer zurück. Das Schiff schon buglos, eine marzipanerne Galionsfigur sitzt noch obenauf. Ihr geht es als nächstes an den Kragen.

Zwischen der Frachtvernichtung, die Ronja vom ganzen Nachmittag am besten gefällt, plaudert ihr Gegenüber. Sie wünschte, er würde nichts anderes tun als essen und dann gehen, gerne würde sie ihm den Mund stopfen mit Kirschteilchenknebeln oder Ball-Gag-Berlinern. Eine Verstummelung, süßes Verschweigen.

Mit Zucker hat sie nichts zu tun, er sieht das anders. Weil er offenbar blind ist. Sie hat augenblicklich eine Zeile aus einem Mötley Crüe-Song im Kopf:

Well it’s no surprise, ‘cause you’ve got one-way eyes!

Einweg-Augen. In vielfacher Hinsicht.

Sie trinkt ihr Schwarzes und sagt, sie möge Bewegung, vor allem Wandern. Er mampft, meint Hättest du das nicht dazu gesagt, wäre es sexy gewesen.

Er wiederum könnte einfach gar nichts sagen, was ihn für sie sexy machen würde. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und Taubstumm ist Platin. Aber selbst das würde bei ihm nicht helfen.

Das Gespräch ist keines, vielmehr ein Monolog. Alles daran ist mono, besonders der Ton. Sein Ton. Tonfiguren, er und all diese Männer, sie unterscheiden sich kaum voneinander. Ronja kennt sie schon, die Muster und Maschen, mit denen die Konversation vorgestrickt wurde. Er bedient sie alle. Schade, denn er ist die letzte Chance, die sie dem Sprechen gibt.

Durch kakaokrümelgeschwärzte Zähne bahnen sich Aussagen, und wo sie zu abgekaut sind, bläst die Stimme sie auf. Sätze, die immer beim Ich beginnen, der Versuch einer Selbstverwirklichung durch Worte. Ich denke nicht in Mustern. Und wenige Sätze später Ich bin keiner von diesen Eyeliner-Sensibelchen. Da ist ja schon der erste Widerspruch. Auch dieser Kerl: trampelfad. Erschafft die Welt nach seinen Maßstäben. Ronja aber hat Mehrweg-Augen, die das Seemannsgarn mit Nadelblicken heraustrennen. Wird gerne zum Überzeugungstöter.

Die Allgemeinwissensdusche lässt sie ins Leere rieseln. Oberflächlichkeiten. Außerdem weiß ich das schon alles. Nur das Darunter zählt. Und ehe er einen schlüpfrigen Witz machen kann, wie sie es von seinesgleichen gewohnt ist: Was du weißt, will ich nicht wissen. Was in deinem Kopf hängt, wenn du nach innen sinkst, das schon. Wie du empfindest, wie du wahrnimmst. Nur das Verletzliche zählt. Schäl, wenn du sprichst, das Gefühl.

Der Kuchenverlader, unfähig zum Entkernen, bläst kurz die Gebäcktaschen auf, holt zur Gegenoffensive aus. Eine billige, die Ronja längst kennt – diese Typen gleichen sich wirklich wie ein Schokonikolaus dem anderen: Sie sind alle hohl und brechen nach der ersten bissigen Bemerkung zusammen.

Während ihm aus dem klaffenden Vollmilchschlund schlechte Vergleiche und Reste seiner Zulänglichkeit bröckeln, mit denen er ein unschmeichelhaftes Dessertportrait von ihr hinschmiert, wird Ronja unfassbar müde.

Müde von den Deutungshoheiten, die sich mit eigenen Worten krönen. Ihr Mundwerkzeug nur dazu da, sich die Umwelt untertan zu machen, konsumierbar – während sie Ronja auf Diät setzen wollen. Immer gleiche Schnittbewegungen und Schnittmuster, aber auf Einzigartigkeit pochend: Du wirst mich nie etwas machen sehen, weil es gerade angesagt ist. Es ist die Artigkeit, die bei all diesen Sätzen übrigbleibt. Sprache bleibt nur Trimmaufsatz, reine Oberflächenbearbeitung.

Vom Verborgenen mag Ronja gar nicht erst anfangen, von dem, was sie hinter den Dingen entdeckt. Mit Geheimlehren kannst du mich jagen. Er sieht sofort Esoterik darin. Dabei geht es gar nicht darum. Aber das kann nur erkennen, wer ein feines Gespür dafür besitzt, was unter dem Sichtbaren liegt. Hier ist alles Tunnelblick. Einwegaugen.

Wo sind die Gesprächspartner hin verschwunden, die packenden Zuhörer, denen es nicht darum ging, sich selbst zu inszenieren? Die mit Ronja suchten und irrten, Zugänge zueinander legten mit vorsichtigen Worten, mit zweifelnder, brechender, bewegter Stimme? Mit denen man Gemeinsames erschuf im Reden, unter die Zungen tauchte, wo die Gedankenströme zusammenflossen? Ronja vermisst sie, verzehrt sich danach, wie sie einander die Augen wuschen, jeder Rausch ließ den Blick aufklaren. Ganz anders als jetzt.

Sie wischt gelangweilt mit den Fingern über die Cremigkeit des Tellers, fährt anschließend damit über die Pupillen ihres überraschten Begegners, dreht sie nach hinten. Zwei liegengebliebene Schattenmorellen drückt sie auf das vollkommene Weiß, fruchtig-erfrischendes Weltbild.

Die Gäste im Café erwachen aus ihrem Nachmittagsdösen, als sie mit dem Löffel die Zunge des Kuchenmanns abschabt, um ihr eine neue Glasur zu geben, einen Belag aus Aprikosenaufstrich für schmackhaftere Gespräche.

Blut und Konfitüre, eine noch unverbrauchte Mischung. Der Nachtischler spuckt kleine Töne nun, kauernde Zwischentöne, während Ronja sich den Kehlkuchen schmecken lässt.

 

Avy Gdańsk

 

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