Augenwischerei

Wieder wird eine Ladung Süßstoff vom Kuchenschiff abgehoben, verschwindet im Sahnehafen. Der Gabelstapler kehrt leer zurück. Das Schiff schon buglos, eine marzipanerne Galionsfigur sitzt noch obenauf. Ihr geht es als nächstes an den Kragen.

Zwischen der Frachtvernichtung, die Ronja vom ganzen Nachmittag am besten gefällt, plaudert ihr Gegenüber. Sie wünschte, er würde nichts anderes tun als essen und dann gehen, gerne würde sie ihm den Mund stopfen mit Kirschteilchenknebeln oder Ball-Gag-Berlinern. Eine Verstummelung, süßes Verschweigen.

Mit Zucker hat sie nichts zu tun, er sieht das anders. Weil er offenbar blind ist. Sie hat augenblicklich eine Zeile aus einem Mötley Crüe-Song im Kopf:

Well it’s no surprise, ‘cause you’ve got one-way eyes!

Einweg-Augen. In vielfacher Hinsicht.

Sie trinkt ihr Schwarzes und sagt, sie möge Bewegung, vor allem Wandern. Er mampft, meint Hättest du das nicht dazu gesagt, wäre es sexy gewesen.

Er wiederum könnte einfach gar nichts sagen, was ihn für sie sexy machen würde. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und Taubstumm ist Platin. Aber selbst das würde bei ihm nicht helfen.

Das Gespräch ist keines, vielmehr ein Monolog. Alles daran ist mono, besonders der Ton. Sein Ton. Tonfiguren, er und all diese Männer, sie unterscheiden sich kaum voneinander. Ronja kennt sie schon, die Muster und Maschen, mit denen die Konversation vorgestrickt wurde. Er bedient sie alle. Schade, denn er ist die letzte Chance, die sie dem Sprechen gibt.

Durch kakaokrümelgeschwärzte Zähne bahnen sich Aussagen, und wo sie zu abgekaut sind, bläst die Stimme sie auf. Sätze, die immer beim Ich beginnen, der Versuch einer Selbstverwirklichung durch Worte. Ich denke nicht in Mustern. Und wenige Sätze später Ich bin keiner von diesen Eyeliner-Sensibelchen. Da ist ja schon der erste Widerspruch. Auch dieser Kerl: trampelfad. Erschafft die Welt nach seinen Maßstäben. Ronja aber hat Mehrweg-Augen, die das Seemannsgarn mit Nadelblicken heraustrennen. Wird gerne zum Überzeugungstöter.

Die Allgemeinwissensdusche lässt sie ins Leere rieseln. Oberflächlichkeiten. Außerdem weiß ich das schon alles. Nur das Darunter zählt. Und ehe er einen schlüpfrigen Witz machen kann, wie sie es von seinesgleichen gewohnt ist: Was du weißt, will ich nicht wissen. Was in deinem Kopf hängt, wenn du nach innen sinkst, das schon. Wie du empfindest, wie du wahrnimmst. Nur das Verletzliche zählt. Schäl, wenn du sprichst, das Gefühl.

Der Kuchenverlader, unfähig zum Entkernen, bläst kurz die Gebäcktaschen auf, holt zur Gegenoffensive aus. Eine billige, die Ronja längst kennt – diese Typen gleichen sich wirklich wie ein Schokonikolaus dem anderen: Sie sind alle hohl und brechen nach der ersten bissigen Bemerkung zusammen.

Während ihm aus dem klaffenden Vollmilchschlund schlechte Vergleiche und Reste seiner Zulänglichkeit bröckeln, mit denen er ein unschmeichelhaftes Dessertportrait von ihr hinschmiert, wird Ronja unfassbar müde.

Müde von den Deutungshoheiten, die sich mit eigenen Worten krönen. Ihr Mundwerkzeug nur dazu da, sich die Umwelt untertan zu machen, konsumierbar – während sie Ronja auf Diät setzen wollen. Immer gleiche Schnittbewegungen und Schnittmuster, aber auf Einzigartigkeit pochend: Du wirst mich nie etwas machen sehen, weil es gerade angesagt ist. Es ist die Artigkeit, die bei all diesen Sätzen übrigbleibt. Sprache bleibt nur Trimmaufsatz, reine Oberflächenbearbeitung.

Vom Verborgenen mag Ronja gar nicht erst anfangen, von dem, was sie hinter den Dingen entdeckt. Mit Geheimlehren kannst du mich jagen. Er sieht sofort Esoterik darin. Dabei geht es gar nicht darum. Aber das kann nur erkennen, wer ein feines Gespür dafür besitzt, was unter dem Sichtbaren liegt. Hier ist alles Tunnelblick. Einwegaugen.

Wo sind die Gesprächspartner hin verschwunden, die packenden Zuhörer, denen es nicht darum ging, sich selbst zu inszenieren? Die mit Ronja suchten und irrten, Zugänge zueinander legten mit vorsichtigen Worten, mit zweifelnder, brechender, bewegter Stimme? Mit denen man Gemeinsames erschuf im Reden, unter die Zungen tauchte, wo die Gedankenströme zusammenflossen? Ronja vermisst sie, verzehrt sich danach, wie sie einander die Augen wuschen, jeder Rausch ließ den Blick aufklaren. Ganz anders als jetzt.

Sie wischt gelangweilt mit den Fingern über die Cremigkeit des Tellers, fährt anschließend damit über die Pupillen ihres überraschten Begegners, dreht sie nach hinten. Zwei liegengebliebene Schattenmorellen drückt sie auf das vollkommene Weiß, fruchtig-erfrischendes Weltbild.

Die Gäste im Café erwachen aus ihrem Nachmittagsdösen, als sie mit dem Löffel die Zunge des Kuchenmanns abschabt, um ihr eine neue Glasur zu geben, einen Belag aus Aprikosenaufstrich für schmackhaftere Gespräche.

Blut und Konfitüre, eine noch unverbrauchte Mischung. Der Nachtischler spuckt kleine Töne nun, kauernde Zwischentöne, während Ronja sich den Kehlkuchen schmecken lässt.

 

Avy Gdańsk

 

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