freiVERS | Maren Streich
25. Juni 2023freiVERS,Maren StreichLiteratur,Lyrik
monologfetzen für J.
wann kommen sie denn wieder?
naja, klar hierher
hm?
ach, freitag
freitag
nagut.
also das ist ja noch lange hin, wenn heute
heute ist dienstag
na dann habe ich ja einige tage
zu schaffen
so tage hintereinander immer
oder können sie nicht öfter kommen?
wäre einfacher
man wacht morgens auf und irgendein gesicht
irgendeins
immer ein anderes
sagt einem guten morgen
da wird man ja verrückt
das kann man sich ja nicht merken
also natürlich
sie schon, sie merke ich
merke ich mir
auf sie freue ich mich doch
//
und auf den jungen
ach, der junge
dieser junge
na wie heißt der schon
max ist das glaub ich
der ist noch so jung
ein ganz toller bursche
so hilfsbereit
hat immer zeit für mich
macht ja wirklich alles
sogar nägel lackieren wollte er machen
ist das nicht toll?
sowas nettes als bursche
aber das kann der nicht
(lacht)
ne das kann der doch nicht so nägel lackieren
ich mein
(wartet auf eine reaktion)
//
wieso kommen sie denn so selten?
naja meine liebe
also ich find sie machen das ja ganz lieb hier
geben sich schön mühe
sind ne ganz liebe
aber öfter könnten sie kommen
und sich mehr zeit nehmen für mich
die anderen die jammern doch nur so rum,
das ist doch nichts
das verstehe ich auch einfach nicht
tun sich die ganze zeit leid
die wollen doch gar nicht mehr
dabei geben sie sich hier so eine mühe
die ganze zeit
sind nur am rumrennen überall
wie sollen sie denn noch mehr zeit haben
was die sich vorstellen
versteh ich nicht
.
.
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freiTEXT | Mario Schemmerl
23. Juni 2023Prosa,Mario SchemmerlLiteratur,freiTEXT
Wo ich hin muss, damit du nicht verschwindest
Im Bett, vor dem Einschlafen meine Hand in ihre zu legen ist beruhigend. M. fühlt sich warm an und meine Einsamkeit verschwindet ein wenig. Vor ihr gab es keine Person, mit der ich das konnte. Jede Nacht verbrachte ich alleine in meinem Bett. Bücher waren meine Gesellschaft. Am Nachtkästchen lagen ein paar und manchmal auch neben mir im Bett. Ich habe Romane über Liebe und Krieg gelesen. Wenn ich nicht imstande war das Brennen in meiner Brust mit Literatur zu besänftigten, oder die Glut zwischen den Seiten beheimaten konnte, hielt ich es nicht mehr in meiner Wohnung aus und stieg zu späten Uhrzeiten in das Auto. Fuhr ohne ein Ziel über Landstraßen in die Dunkelheit der Nacht. Es war mir egal wohin, ich fuhr Schleifen über die Dörfer, bis ich einen Knoten zog und wieder zuhause ankam. In derlei Stimmung verfallen mied ich die Stadt. Dort zogen mich die Lichter zu sehr an. Damals hatte ich schon genug Nächte an Bars oder in Diskotheken hinter mich gebracht, um zu wissen, wie es am nächsten Morgen mit mir aussah und vor allem, wozu ich im Stande war. Am Land gab es nur ab und an einen Baum, einen schönen großen alten Stamm, von dem ich mir ausmalte, wie es wäre in ihn zu krachen. Diese Ausfahrten liegen eine Zeit zurück und M. jede Nacht neben mir.
Zwillinge kennen keine Grenzen, der Tod ist nur ein weiterer Verbindungsstrang. Und alles hängt an deinem Verlust, und die Angst, immer weniger damit zu tun zu haben, gefühlt nicht mehr an dich gekettet zu sein. Versuche ich gerade dir ein Denkmal zu erschreiben? Ein normales Leben wäre schön, aber das existiert nur mit dir, und jetzt, Jahre nach deinem Ableben, ohne dich, fühlt sich nach wie vor wenig normal an. Wir waren 15. Der Aufbruch des Lebens startete und plötzlich stirbst du einfach. In diesem Augenblick ließ ich von der Jugend ab und rutschte wie ein fetter Erwachsener, die Badehose in die Arschritze geklemmt, an der Kindheit vorbei.
Ich habe wieder neue Kollegen. Ein paar von ihnen habe ich von dir erzählt. Du liegst mir eben auf der Zunge und dein Name auf meinem linken Unterarm ist auch noch da. Meistens geht es um die Zeit ohne dich und nicht um das, was du erlebt hast. Meist schauen mich die Menschen, denen ich von meinem toten Zwillingsbruder erzähle, betroffen an, werden still oder sagen sowas wie: jeder hat sein Packerl zu tragen. Ja das stimmt, jeder hat seine Geschichte, sag ich dann. Ich werde schweigsamer, was dich betrifft. Gebe weniger von dir preis, dadurch weniger von mir. In der alten Firma war ich irgendwann sehr offen zu einigen Menschen. Hatte aber bald das Gefühl, dass sie nichts verstanden von dem, was ich sagte. Ich setze mich lieber hin und schreibe ein verdammtes Buch, auf das jeder Zugriff hat. Über alles zu schreiben ist mir während des Schreibens nicht peinlich. Aber danach, wenn ich es lese, frage ich mich, ob ich dir gerecht geworden bin. Meine Gedanken sind schwer, bis jemand wie H., mein Sitznachbar in der Literatur-Akademie sagt: „Wie geil ist es jung zu sein.“ Er gehört zu den ältesten in der Runde, ist introvertiert und überraschte mich mit einem Instagram-Video, in dem Jugendliche wie aufgedreht zu Techno-Musik tanzen. H. wiederholt den Satz und ich sage, ja, du hast recht. Ich denke an all die jungen Menschen, die so missverstanden werden von Leuten wie mir, die vergessen haben, wie es ist, einfach nur jung zu sein, geil zu sein auf Spaß und das Leben.
Fortgehen ist für mich ein Graus geworden. Nach der ersten Weihnachtsfeier mit meinen neuen Kollegen war wieder so ein Abend. Anscheinend bin ich einer von den Typen, die man nach dem Essen fix mit einrechnet. Ab dem zweiten Bier geht’s, obwohl ich kaum noch Bier trinke, weil es mich aufbläht und mir am nächsten Tag davon übel wird. Die Zeiten, in denen ich stolz mit den besten Trinkern mitgehalten habe, sind vorüber. Ich muss mich zwingen nicht um 20 Uhr einen lautlosen Abgang anzutreten und rutsche mit den Leuten mit. Zugegeben, es war ganz lustig, bis dann wieder dieses Lied einsetzt. Mit dieser Melodie endet etwas von dem, was ich gerade bin. Sofort bin ich in der Jugend. In der Zeit, die ich großteils ohne dich verbracht habe. Mit 15 wuchs in uns eine Hoffnung, die uns verhieß, dass es nun endlich losgehen wird, dass sich endlich etwas anbahnt. Und dann bist du weg, einfach so. Verdammt nochmal, wo befindet sich meine Seele, während mein Körper übertrieben und tollpatschig auf der Tanzfläche dazu tanzt. Bei deinem Begräbnis hat G. den CD-Player bedient, die Techno-Musik abgespielt, und genau dieses Lied war eines davon. Bei Gigi D’Agostino hat er so viel geweint, und alle meinten später, dass er das großartig gemacht hat. Ich habe keine Träne vergossen bis wir, die Familie, dein Begräbnis als erster verlassen haben. Dieses Lied wird heute noch todsicher immer gespielt, wenn ich in einer Disko wie dieser lande.
Unsere Erwartungshaltung an die bescheuerten Tage waren niedrig, aber mit dem Einbruch der Nacht und den Techno-Sounds, die wir in unserem Zimmer abspielten, wummerte die Fassade der Ödnis von uns ab. Obwohl du wegen deiner Erkrankung keinen Alkohol trinken sollst, hast du das Fortgehen geliebt. Unsere Eltern meinten, ich muss auf dich aufpassen, das hat unsere Mutter auch zu G. gesagt, weil ihr beiden bald nur noch zu zweit unterwegs wart. Ich bin mir sicher, dass er das gut gemacht hat, weil er dasselbe wollte wie du, jung sein. Tanzen und trinken ohne Rücksicht auf Verluste. Unsere ersten Erfahrungen haben wir im Wohnzimmer gemacht. Gerade einmal 14 Jahre waren wir, als wir gemeinsam mit Leuten von unserer Klasse herausfinden wollten, ob das auch stimmt, was man sich erzählt. Der Kellner hat wirklich nicht nach unseren Ausweisen gefragt und uns unsere ersten Getränke in einem Lokal serviert. Wir tranken Flügerl, die einfach nur süß waren und dachten, das ist es also. Immer öfter schafften wir es an Alkopops wie Eristoff Ice zu kommen. Bald auch zu den stärkeren Eristoff Black oder Red. Wir haben uns gestylt um gemeinsam im Hof oder im Park mit unseren Schulkollegen zu trinken. Gel in die Haare geschmiert, die Spitzen aufgestellt. Du hast sogar deine Vordersträhnen blondiert und G. hat einen draufgesetzt, indem er sich einen Kranz machte und spitz aufstellte. Wenn er sie nicht hochgelte, sah er wie ein Streifenhörnchen aus. Bald erfuhren wir vom Eastside in der Stadt. Du hast zu mir gesagt, sag einfach, dass du 1985 geboren bist, dann geht das schon. Ich hatte irrsinnige Angst, dass ich der einzige bin, der nicht reinkommt, weil ich so jung aussah und keine Strähnen hatte. Aber alles war, wie du prophezeit hast. Eigentlich waren wir ziemliche Proleten, eben Jugendliche unserer Gegend, wir trugen, was angesagt war. Smog- und Fishbone-Kleidung, eine Eastpak-Gürteltasche. Ziemlich heftig aus heutiger Sicht, aber wir hatten Spaß. Man wird dem, was man gut findet, ähnlich, es ist eine aufregende Zeit, man strebt nach vorne, aber nicht zu sehr, weil man im Augenblick leben möchte. Ich habe mich unwohl gefühlt, und du hast dein Element gefunden. Ein paar Mal hattest du noch die Gelegenheit, Party zu machen, meist mit G., weniger mit mir. Ich war dir irgendwie hinterher, obwohl ich vier Minuten älter bin als du. Im Bett, in unserem Zimmer, hast du mir erzählt, wie es ist ein Mädchen zu küssen, es zwischen den Beinen zu berühren und ich konnte nicht fassen, dass du das alles weißt. Ich war so weit weg davon und du schon so mittendrin.
Jetzt kann ich von meinem ersten Zungenkuss erzählen. Er war mit Alice. Sie zog mich aus einer Dorfdiskothek raus. Ich glaube, G. und J. waren dabei und sie hatte noch eine Freundin bei sich. Alice war die Schüchterne und die andere, ich habe ihren Namen vergessen, die Wilde, auf die es J. abgesehen hatte und nichts daraus wurde. Alice hatte ein Piercing zwischen Unterlippe und Kinn, obwohl sie erst 16 war, genauso alt wie ich. Ich weiß noch, wie süß ich sie fand. Sie hatte blonde Haare und lebte in Neuseeland. Sie verbrachte ihre Ferien in Österreich bei ihrer Oma, die sie an diesem Abend auch bald abholen würde, was wohl auch der Grund war, warum sie reagierte und mich aus der Disko zog. Sie reagierte, weil sie spürte, dass ich die Chance nicht erkannte, absolut nicht mit der Gunst des Augenblicks umgehen konnte. Wiedermal spielten sie diesen Gigi D’Agostino und da bin ich einfach nur traurig und böse auf die Welt. Im Freien, in einem dunklen Winkel, waren meine Hände in ihrer Hose, auf ihren Pobacken gelandet und dort vereist. Ihre Haut zu spüren, ihre Zunge in meinem Mund und meine in ihrem, zu fühlen, wie sehr sie es wollte, hat Gigi gekillt. Wir verabredeten uns ein paar Mal zum Kinogehen. Wir waren immer schüchtern, und immer war ich nervös, ob sie auch so schön aussehe, wie ich sie in Erinnerung habe, und ich fragte mich immer, ob wir uns wieder küssen und ob ich sie wieder halten darf. Wenn uns keine Zeit mehr blieb, ihre Oma sie bald abholte, dann fanden wir einen Platz, an dem wir uns küssen und streicheln konnten. Einmal hatte sie eine Freundin mit und ich G. Sie hat überhaupt nicht zu ihm gepasst, wenigstens konnte ich ihm Alice noch einmal zeigen – dass es jemanden gibt, den ich küssen kann. Bald musste sie nach Hause fliegen. Ich habe mich nicht mal ordentlich von ihr verabschiedet. Wir haben uns E-Mails geschrieben, sie hat mir Fotos gesendet. Einmal hat mich sogar ihre große Schwester angerufen, mit der ich mich auf Englisch unterhalten musste. Ich malte mir aus, wie es mit Alice sein kann, dort in Neuseeland, das ist ein gutes Land, das sagen alle. Ein paar Mails später erschien immer öfter ein Junge neben ihr. Er war sportlicher und reifer als ich. Bald ein schwarzweißes Bild mit einem Böhnchen, schlafend in einer Wolke. Ich sagte, ich freue mich für sie, und unser Kontakt endete damit. Wohin hätte es mich im Leben getragen, wäre ich nicht so kaputt gewesen und du da um mir Ratschläge zu geben.
Es gab keine Mädchen mehr, die mich rauszogen, mich auswählten. Die Leichtigkeit wich wie die Aufbruchstimmung. Mein erstes Mal war eine Peinlichkeit, nicht weil ich versagte, sondern weil es sich wie Selbstmissbrauch anfühlte und ich ein paar Scheine auf ein Nachtkästchen legte. Ich sehe sie vor mir, und möchte kein weiteres Wort darüber verlieren. Ich habe an dieser Tür geläutet. Und alles war anders, als ich mir es vorstellte. Ich war 17, und zu jung dafür, hatte aber das Geld parat. Ich wusste nicht, was geschieht, ich zog mit und war schlussendlich froh erfahren zu haben, wie das läuft. Ich hatte keinerlei Anziehung verspürt, es war völlig automatisiert und ich konnte jahrelang nicht den Weg zu einem gesunden körperlichen Austausch finden. Meine Einsamkeit war ab einem gewissen Zeitpunkt von mir gewählt. Ich wollte nichts Schönes erleben, nichts was du nicht auch konntest. Niemand kann verstehen, was Gigi D’Agostino mit mir anrichtet. Wenn man das Lied hört, alle tanzen, alle sind jung, und ich denke an dein Begräbnis und G. Vater hat uns eine schwarze CD gebrannt. Am Cover ist dein Gesicht in blauen Farben. Ich weiß nicht, was er dabei empfand, aber ich habe von Joan Didion Blaue Stunden gelesen, und erkenne die Symbole der Traurigkeit darin. Vielleicht hat er auf ein Gefühl gehört, das du ihm gegeben hast. Ließ sich davon leiten und damit etwas von Bedeutung entstehen. Ich spüre dich auch, und ich glaube, dass es ok ist von dir zu schreiben und auf diese Weise über unser Leben zu berichten. Es ist gut zu wissen, was einen kaputtmacht, welcher Schicksalsschlag einem das Leben erschwert, denke ich.
An einem Tiefpunkt angekommen, habe ich mir fest vorgenommen kein Tastenwichser zu bleiben. Nicht so eine Person, die nur ein fiktives Sexualleben hat, keine echte leidenschaftliche Beziehung kennt. Als ich so einsam war, mich nicht berühren lassen konnte, chattete ich viel und fand unter anderem eine Frau in meinem Alter, die ähnlich veranlagt war wie ich. Wir unterhielten uns nicht über unsere Seelenzustände, wir hatten Cybersex und Telefonsex. Sie hat damit angefangen und wir hatten an freien Tagen mehrmals am Tag etwas gemacht. Wir schickten uns auch obszöne Bilder und Videos. Sie meinte, sie stehe auf Körperflüssigkeiten und vor allem auf Sperma in ihrem Mund, sie wäre ein Succubus, ein weiblicher lüsterner Dämon, der sich einen Mann sucht um alles aus ihm rauszusaugen, ich werde schon sehen. Auf ihren Fotos war ihre Neigung zum Dunklen gut erkennbar, sie gefiel mir sehr gut. Ihre Worte waren bald meine Gedanken. Sie schockierte mich damit, und ich dachte nur, hurra, jetzt gehöre ich endgültig zu den Perversen. Irgendwann werde ich sie besuchen, habe ich gesagt, sie richtig rannehmen. Wir hatten schon einen Tag ausgemacht, sie meinte nur, endlich, sie rasiere sich gleich überall und hat auch schon ihrem homosexuellen Bruder von mir erzählt, der sich für sie freut endlich einen gescheiten Typen kennengelernt zu haben. Ich fühlte mich geschmeichelt, hatte aber bis zur Abfahrt eindeutig zu viel gewichst, so dass ich absolut keine Lust mehr dazu hatte und die Verbindung abbrach. Außerdem wären es mindestens zwei Stunden Fahrt gewesen. Ich wollte kein Tastenwichser sein, aber am schlimmsten war für mich die Realität der Berührung, der ich mich auf keinen Fall aussetzen wollte. Ich habe ihre Nummer blockiert und gelöscht, damit ich nicht auf blöde Gedanke komme. Ich denke heute an sie und finde es schade, dass wir uns nie im echten Leben begegnet sind.
Gestern habe ich am Abend M. einiges erzählt, was sie nicht von mir wusste, weil ich es ihr nicht zumuten wollte, weil ich es mir nicht zumuten wollte. Sie meinte, wir sollten über unser Sexualleben sprechen, da es zurzeit sehr stockt. Schweigsam hörte sie zu, wie ich ihr erzählte, dass ich oft dafür bezahlt habe mit einer Frau zu schlafen, und wenn nicht, ich es nur im Rausch konnte und dann sehr exzessiv. Dass mir alles, was mit Berührung zu tun hat sehr schwer fällt, ich keinen normalen Werdegang, wenn man es so nennen will, durchlaufen bin. Manchmal hatte ich monatelang keine Berührung, frönte einzig der Selbstbefriedigung, bis der Penis zu sehr schmerzte und ich die Abgründe des Internets satt hatte. Jetzt zögere ich weiter zu denken, den alten Tagen und was darin liegt zu folgen. So schlimm es erscheinen mag – oder vielleicht ist es für manche gar nicht so schlimm – ich muss dorthin, sonst verschwindet etwas von mir, was auch dich beheimatet, denn es wäre nie geschehen. Vielleicht verforme ich sogar mein Leben, würde ich alles dem Vergessen hingeben. Auf eine Weise, die dich ungeboren macht. Wenn ich es nicht tue, nicht darüber schreibe, dann bin ich nichts mehr und selbst nicht auf die Welt gekommen. An manchen Tagen ist das eine verlockende Vorstellung, aber was wäre die Konsequenz einer solchen Auslöschung? Dein Tod und deine Erlebnisse wären sinnlos, wie auch meine Scham und ihre urheberische Kraft der Schande. Ich muss weiter vordringen in die Erinnerungen, sonst gäbe es Alice und M. nicht. Das ist meine Identitätsfrage. Wer bin ich? Ein Zwilling? Noch immer? Darf ich leben? Oder bin ich sogar verpflichtet dazu, es so intensiv wie möglich zu gestalten? Aber, ich fühle mich doch am wohlsten, wenn nichts oder wenig geschieht. Dabei kann ich mich auch am besten hinwenden und schreiben. Habe ich ein Loch gestopft, reißt auch schon das nächste auf. Das ist wie mit den Unterhosen und Socken, die werden alle kaputt, ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber die haben früher länger gehalten.
M. und ich finden es beide schön auf der Couch einzuschlafen, während die Sonne durch die halbaufgedrehten Jalousien in die Wohnung strahlt. Meist brauchen wir einen zweiten Versuch um richtig zu liegen. Ihr schmerzt entweder eine Schulter oder das Genick, und ich bin ungelenk und mag es nicht, wenn mir was auf der Hüfte liegt, besonders auf dem rechten Hüftknochen. Wir fühlen uns manchmal alt, obwohl wir erst über 30 sind. Ein Singer-Songwriter-Lied baut eine gefühlvolle Stimmung auf, in der wir halb einschlafen, halb wachen, uns mit den Klängen in einen Frieden fallen lassen können. Meine Hand ist auf ihrem Gesäß oder auf ihrem Bauch, oder unter ihrem Leibchen auf einer Brust. Ich kann sie von der Seite ansehen, wenn ich die Augen aufmache, sehen, wie schön sie ist, oder an ihrem Hals riechen, wie ich es am liebsten tue. Oder einfach in ihre dichten schwarzen Haare sehen, die einem die Luft rauben können, wenn sie über einen baumeln. Ich habe eine halbe Erektion, spüre die Begierde, die mich durchdringt. Denke an unsere Zeit, in der wir jeden Tag nackt aneinander geschmiegt waren, es wie wild trieben, andauernd die schweißgetränkte Bettdecke wechseln mussten. Denke an die Waschmaschine, die Dusche, die Küchenzeile, den Esstisch, den Boden, ihren Ellbogen, ihre Achseln, ihr Geschlecht vor meinem Gesicht und ihren Gesichtsausdruck, wenn ich in ihr war. In diesen Augenblicken habe ich kein Verlangen nach Sex, noch bin ich bedürftig, ich fühle mich ihr ganz hingegeben und ich fühle sie mir hingegeben, aus freien Stücken, auf liebevolle und zärtliche Weise.
Das wollte ich dir erzählen.
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freiVERS | Annouk Hombach
18. Juni 2023freiVERS,Annouk HombachLiteratur,Lyrik
im westen, jeden morgen
jeden morgen
gucke ich auf twitter
t.c. boyle zu
wie er aufwacht
jeden morgen macht t.c. boyle
ein bild von seiner straßenecke
immer leicht nach links schwenkt sie
ein bild von seinem dauergewellten hund
der vorne wie hinten gleich aussieht
einem ei, geschlossen, als rührei und als spiegelei
der los angeles times
und manchmal einer ratte, hinter gittern
immer eine neue, er zählt sie
t.c. boyle
ist aufgewacht
die ratten sitzen im käfig
schreibt die los angeles times
der hund spielt mit dem ei
ein kurzer blick noch zur straßenecke
dabei will ich twitter
längst verlassen haben
.
.
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freiTEXT | Adrian Brauneis
16. Juni 2023Prosa,Adrian BrauneisLiteratur,freiTEXT
Der Gott der Ameisen
“I come here to discuss a piece of business with you, and whadda you gonna do? You gonna tell me fairy tales?”
Thief (1981)
Es war einmal vor langer Zeit, und vor langer Zeit war eine vorwitzige Ameise, eine Ameise, die hat nicht glauben wollen, dass es Gott im Himmel gibt.
„Immer soll ich nur arbeiten!“, hat diese vorwitzige Ameise gesagt und hat dann gesagt: „Nie darf ich faul auf meinem Rücken liegen!“ Da hat die vorwitzige Ameise gesagt: „Erklärt mir das!“
„Wir Ameisen, wir arbeiten, tagein, tagaus, den lieben langen Tag, weil Gott im Himmel es so gefällt“, haben alle gläubigen Ameisen der vorwitzigen Ameise da gesagt, die nicht hat glauben wollen.
„Erklärt mir das!“, sagte da diese vorwitzige Ameise. „Nie kriege ich meinen Willen.“ hat die vorwitzige Ameise dann gesagt. „Immer soll ich nur machen, was Gott im Himmel gefällt!“
„Wir Ameisen, wir arbeiten, tagein, tagaus, den lieben langen Tag, weil Gott im Himmel es gefällt, dass es die Natur der Ameise ist, zu arbeiten, tagein, tagaus, den lieben langen Tag“, haben alle gläubigen Ameisen der vorwitzigen Ameise da gesagt, die nicht hat glauben wollen.
„Erklärt mir das!“, sagte da diese vorwitzige Ameise. „Wie soll es denn meine Natur sein?“, hat die vorwitzige Ameise jetzt gesagt, „wenn ich es ja nicht will!“ Und hat dann gesagt: „Ich will nicht mehr arbeiten!“
„Hüte dich!“, haben alle gläubigen Ameisen zu dieser vorwitzigen Ameise da gesagt, die nicht hat glauben wollen. „Hüte dich… vor Gottes Zorn!“
Doch da erwiderte die vorwitzige Ameise: „An euren Gott glaube ich nicht!“ Und sie arbeitete nicht mehr, dass alle sehen sollten, dass sie wirklich einen ganz eigenen Willen hatte.
Als die vorwitzige Ameise nicht mehr arbeitete, da war wohl ein großes Ach und Weh unter allen gläubigen Ameisen in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt. „Gott wird die vorwitzige Ameise bestrafen!“, sagten sich alle gläubigen Ameisen. Aber Gott bestrafte sie nicht. Nichts tuend lag die vorwitzige Ameise bloß auf ihrem Rücken in der immer gleichen Luft und unter der immer gleichen Sonne unserer kleinen Ameisenwelt.
Was geschah? Alle Ameisen sagten sich nun: „Auch ich habe einen ganz eigenen Willen und will nicht mehr arbeiten!“ Da lagen bald alle Ameisen faul auf ihrem Rücken in der immer gleichen Luft und unter der immer gleichen Sonne unserer kleinen Ameisenwelt.
Jede Ameise ging jetzt nur noch ganz allein für sich zu dem Platz, wo wir in unserer kleinen Ameisenwelt von jeher immer etwas Süßes finden. Da holte sich jede Ameise jetzt nur noch ganz allein für sich eine süße Leckerei. Und dann lag jede Ameise wieder ganz allein für sich auf ihrem Rücken und jede Ameise freute sich, nun einen ganz eigenen Willen zu haben.
So ging es zu, dass alle Ameisen allmählich alt wurden, solange geschah da nichts mehr in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt.
Das wäre wohl das Ende gewesen, was glaubt ihr? Da donnerte es plötzlich, und donnerte ein zweites Mal und donnerte ein drittes Mal. Und dann bebte die Erde und in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt geriet alles durcheinander, so wild flog da die Erde durch die immer gleiche Luft unserer kleinen Ameisenwelt. Und unsere immer gleiche Sonne hob sich hinfort, hoch in den Himmel hinweg, und alle Ameisen zitterten, so dunkel und so kalt war es nie gewesen in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt.
Da hatten alle Ameisen Angst und sagten: „Das ist Gottes Zorn! Ameisen sollten arbeiten, wie es ihre Natur ist und Gott im Himmel gefällt!“ Und sie zeigten auf die vorwitzige Ameise, die nicht hatte glauben wollen, und sagten: „Die vorwitzige Ameise! Mit einem freien Willen hat sie uns verführt!“
Die Ameisen hatten also ihren Glauben wieder. Und so schnappten sie sich die vorwitzige Ameise, die nicht hatte glauben wollen, und alle zusammen rissen sie sie in viele kleine Stücke.
Da kam die Sonne wieder herab und da bebte die Erde nicht mehr und da donnerte es auch nicht mehr. Und seither herrscht wieder lieber Friede in allen vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt. Denn seither arbeiteten ja alle Ameisen wieder. Fleißig arbeiteten sie alle wieder, so, wie es die Natur der Ameise ist, dass ihr Anblick Gott im Himmel ein Wohlgefallen war.
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freiVERS | Philipp Létranger
11. Juni 2023freiVERS,Philipp LétrangerLiteratur,Lyrik
brache
mit den jahren
wächst das gewicht der worte
die du versäumt hast
auszusprechen kein gras grünt
dort wo sie liegen
streckt sich der raum ins dürre
die lippen
kennen die wege nicht mehr
die einmal verbanden
und du findest nicht halt
an den schroffen brüchen
der erinnerung
nur selten erinnerst du dich
an die tage
als das netz der worte
dicht geknüpft die träume fing
.
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freiTEXT | Sophie Kremslehner-Czerny
9. Juni 2023Prosa,Sophie Kremslehner-CzernyLiteratur,freiTEXT
Dominanz eines Beins
Jetzt ist sie schon wieder offen. Nicht umsonst hat sie für eine Schiebetür plädiert. Noch besser wäre so eine Tür, bei der man im Kreis gehen kann. Die wäre nämlich beheizt. Aber ein Vorhang täte es auch schon. Dann würde nicht andauernd kalte Luft hereinziehen. Völlig verrücktes Wetter, sagt sie. Gestern warm. Heute kalt. Was für ein Frühling!
Sie richtet den Aufsteller vor der Tür. Ein sonnenförmiger Brotlaib ist heute verbilligt. Sie nickt zwei Damen mit Nordic-Walking-Stöcken zu, die die Bäckerei bereits zum zweiten Mal umkreisen. Heute gibt es eine Frühlingsaktion, lässt sie sie wissen. Kaffee und Kipferl um drei Euro. Die Damen verneinen. Sie wollen es bis zur Wallfahrtskirche schaffen, die weiter geradeaus liegt. Ein anderes Mal vielleicht, sagt die Verkäuferin und zieht die Tür zu.
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik fanden heraus, dass Menschen ohne Orientierungshilfe im Kreis gehen würden, selbst wenn sie versuchten, eine bestimmte Richtung einzuhalten. Dahinter stecke nicht wie lange vermutet die Dominanz eines Beins. Die Kreisform ergebe sich automatisch aus den zufälligen Abweichungen von der angepeilten geraden Linie.
Ein Mann tritt so nahe ans Fenster heran, dass seine Nasespitze die Scheibe berührt und sich dadurch plattdrückt. Er stellt den Kragen seines Mantels hoch und dreht der Auslage den Rücken zu. Hinter ihm treibt der Wind Blätter im Kreis. Zeitgleich betritt eine Frau die Bäckerei. Sie hält einen Packen Zettel in Händen. Die Tür kann sie nicht zuziehen. Sie legt auf jedem der runden Stehtische ein Flugblatt ab. Mit Kreistänzen den Frühling erspüren. Als Symbol der Unendlichkeit vermittelt der Kreis weniger Spannung als etwa ein Dreieck, sagt sie. Es gibt keine Ecken, die in eine bestimmte Richtung weisen. Keinen Anfang und auch kein Ende.
Die Huber Mitzi ist gestorben, sagt die Verkäuferin. Das Begräbnis ist am kommenden Sonntag um elf. Da kann ich leider nicht, sagt die Frau. Muss zur Tauffeier meiner Nichte. Ja, ja, der eine kommt, der andere geht, sagt die Verkäuferin und blickt der Frau durch die offene Tür hinterher. Gerade als sie sie zuziehen möchte, biegen die zwei Nordic-Walkerinnen um die Ecke und beschließen ihre Runde in der Bäckerei.
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freiVERS | Sophie Heck
4. Juni 2023freiVERS,Sophie HeckLiteratur,Lyrik
Hauptnetzspiegel
an der Wandkante
lugt er hervor
dünn glänzend
ein Fliegenauge
lackiert wie ein Haar.
mein Hauptnetzspiegel
zeigt sich
riecht manchmal
nach Schweiß
dem meiner Mutter,
dem von mir
schmeißt nach mir,
schreit
nach mir,
der Zug entgleist
und
mein Hauptnetzspiegel
ein Fliegenauge
sitzt
vielfach geteilt an der Wand
sitzt
seit meiner Geburt
sah ich
jahrelang
nur diesen
zeugte meine Augen
schwarze Bürsten in einem Draht
wenn ich mich sehen wollte oder etwas tat
mein Hauptnetzspiegel
jetzt kann ich ihn sehen
betrachte ihn
immer wieder
stumm
ein Gefäß
aus Gelatine,
gehalten
von schwarzen Drähten
von dem aus
ich mich immer wieder grüße
durch das ich den Arm stecke
ein schwabbeliger Milchkarton
verklebte Farbe auf Metall
über Generationen
in dicken Perlen
getrockneter Lack.
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freiTEXT | Jörn Birkholz
2. Juni 2023Prosa,Jörn BirkholzLiteratur,freiTEXT
Zug um Zug
„Immer derselbe Mist!“, fluchte die stämmige Frau neben Glogowski.
Er lächelte zustimmend, und beide schauten fast gleichzeitig zur Anzeigetafel hinauf. Der ICE nach München hatte jetzt bereits zweiundzwanzig Minuten Verspätung. Ursprünglich sollten es zehn Minuten sein, dann erhöhte man auf zwanzig, und gerade kam die Durchsage, dass sich die Ankunft in Bremen um satte fünfundvierzig Minuten verschieben sollte.
Der Bahnsteig füllte sich immer mehr. Glogowski blickte in unzählige missmutige und ungeduldige Gesichter. Dazu wehte ein eisiger Wind, da sie auf Gleis zehn, also im Außenbereich des Bahnhofs warten mussten.
Zwei ältere Männer zu seiner Rechten unterhielten sich lautstark und lachten dabei des Öfteren – nahmen es anscheinend mit Humor. Erneut eine Durchsage: ICE 1139 NACH MÜNCHEN; ANKUNFT SIEBZEHN UHR EINUNDZWANZIG, VERZÖGERT SICH AUFGRUND EINES PERSONENUNFALLS UM CA. FÜNFZIG MINUTEN, VORAUSSICHTLICHE ANKUNFT IN BREMEN ACHTZEHN UHR ELF, umgehend korrigierte sich die Anzeigetafel.
PERSONENUNFALL – Glogowski wusste, dass dies nur die Umschreibung für Schienensuizid war. Geschah in letzter Zeit immer häufiger. Naja, ist ja wohl auch eine sichere Sache um abzutreten, dachte er.
Lässig behielt Glogowski seine leichte Aktentasche in der Hand. Die meisten übrigen Reisenden hatten ihr Gepäck schon lange auf den Bahnsteig gestellt und standen dämlich daneben, aßen etwas, streichelten ihre Tablets und iPhones und blickten sauertöpfisch – was für ein Wort, dachte er – drein. Glogowski trug wieder einmal seine besten Sachen, einen schwarzen Anzug, seine schwarzen Lederschuhe und seinen Wintermantel. Die Haare hatte er diesmal linksgescheitelt. Die Frau neben ihm sprach jetzt in ihr Handy: „Ja, schon wieder Verspätung, das dritte Mal diesen Monat, aber wir treffen uns trotzdem bei Maja, ich stoß dann zu euch …“ Glogowski wollte nicht länger zuhören und ging den Bahnsteig ein wenig auf und ab. Die Sonne kam heraus, er blieb stehen, hielt sein Gesicht hinein, schloss die Augen und lauschte den Geräuschen des Bahnhofs. Ein Kind kreischte und heulte darauf. Glogowski öffnete die Augen. Die Mutter ermahnte es, doch das Kind schrie noch lauter. Darauf drückte ihm die Mutter etwas in die Hand, einen Keks oder ein iPhone; Glogowski konnte es aus der Entfernung nicht richtig erkennen.
Ein Mann neben ihm schnaubte geräuschvoll in sein Taschentuch.
„Schon das dritte Mal dieses Monat“, bemerkte Glogowski sich ihm zuwendend.
„Bitte?“, fragte dieser.
„Das dritte Mal dieses Monat… vorgestern in Frankfurt musste ich fast zwei Stunden warten wegen einer defekten Oberleitung.“
„Ja, schlimm sowas.“
„Ja, ist man von der Bahn ja nicht anders gewöhnt.“
„Ja, ja“, grummelte der Mann und schwieg darauf. Glogowski verstummte auch, blieb noch eine Weile schweigend neben dem Mann stehen und schlenderte dann wieder den Bahnsteig entlang. Er stellte sich neben eine hübsche Frau um die Dreißig.
„Müssen Sie auch nach München?“, fragte Glogowski.
Die Frau betrachtete ihn skeptisch, nickte aber knapp.
„Hoffentlich wird’s nicht noch später“, sagte Glogowski lächelnd.
Die Frau lächelte falsch zurück, nickte noch knapper und nahm dann dezent Abstand von ihm.
AN GLEIS ZEHN: ICE 1139 NACH MÜNCHEN; VORSICHT BEI DER EINFAHRT.
Der Zug fuhr ein. Ungeduldig warteten die Insassen darauf, die automatisch verriegelten Türen zu öffnen, um herauszukommen, während draußen die Reisenden ungeduldig darauf warteten hineinzukommen. Unzufriedene, zerknautschte Gesichter auf beiden Seiten. Glogowski hielt sich jetzt abseits und beobachtete das Treiben. Die Frau, die ihm eben noch knapp zugenickt hatte, zwängte sich mit ihrem sperrigen Koffer als eine der ersten in den ICE. Glogowski verließ das Gleis und kurz darauf den Bahnhof. Vorm Gebäude nahm er die gerade eintreffende Straßenbahn und fuhr schwarz die fünf Stationen nach Hause.
Seine Einzimmerwohnung war schlecht gelüftet, er hatte vorhin vergessen, das Fenster zu öffnen. Ihm war, als rieche es in der Wohnung nach altem Mann – dabei war Glogowski erst siebenundfünfzig. Er öffnete das Fenster und schaute nach unten. Kinder stritten um etwas. Nach einer Weile schloss er das Fenster wieder, zog sich aus, verstaute seinen Anzug, die Schuhe und die leere Aktentasche sorgsam im Schrank, schlüpfte darauf in seinen Trainingsanzug und legte sich aufs Bett. Er blickte auf das Bild seiner Frau auf dem Nachttisch – ihm wurde schwermütig, wie jedes Mal, wenn er das Bild betrachtete. Er schloss die Augen. Draußen schrien die Kinder in einer Sprache, die er nicht verstand.
Heute war er etwas später dran als sonst. Er war wieder unter Menschen. Hatte er zuhause noch das Fenster geöffnet, bevor er gegangen war? Hoffentlich. Er sah auf die Anzeigetafel in der Bahnhofshalle. Der IC 2032 nach Leipzig auf Gleis vier hatte etwa dreißig Minuten Verspätung. Er begab sich mit der Aktentasche in der Hand auf Gleis vier.
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freiVERS | Otto Dvoracek
28. Mai 2023freiVERS,Otto DvoracekLiteratur,Lyrik
Peripheres
Alles zieht sich in die Länge, von der Erde
Bis in den Menschen hinein, in das Periphere
Hinausverirrt, hinausgetrieben, ein kurzes Aus-
Schlafen, am Rande der Hochgeschwindigkeits-
Strecke, in den Insektenwohnungen
Übereinanderlagerungen, die Dächer glänzen
Golden, der Schlaf legt alles klar, mit Sirenen-
Klängen den Tag beginnen, im schiefen Licht
Mit verstellter Stimme, die Stimme ist nur
Gedämpft hörbar, das Gras steht hier höher
Alles zieht sich in die Länge, von einer Peripherie
Zur anderen, die Stunden füllen sich mit dem
Gleichen Programm, röhrenförmig, peripher
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freiTEXT | Mona Gnan
26. Mai 2023Prosa,Mona GnanLiteratur,freiTEXT
falsch korrigieren
Das Problem hat mich gelöst. Ich starre auf den Tippfehler, der sich so hartnäckig unter meinem Handydisplay festgebissen hat wie eine Zecke. Das Problem hat sich gelöst, will ich korrigieren. Aber je länger ich darauf starre, desto mehr wird mir bewusst, dass es kein Fehler ist. Dass der Schreibfehler mich korrigiert hat. Ätsch, hält er mir vor. Du denkst immer, dass du alles besser weißt. Der Schreibfehler hat Recht. Würde ich ihn jetzt verbessern, würde ich ihn falsch korrigieren. So wie ich in der Schule meine richtigen Antworten in den Klassenarbeiten immer falsch korrigiert habe, wenn ich mich selbst zu sehr hinterfragt habe. Und dann mit mindestens einer halben Note schlechter nach Hause gegangen bin. Orthographisch korrekt muss da stehen Das Problem hat sich gelöst. Aber realitätsgetreu muss da stehen Das Problem hat mich gelöst, denn, ungelogen, I. Lost. My. Shit.
So genau will ich dir das allerdings nicht sagen, denn natürlich bin ich immer ausnahmslos entspannt und gelassen und cool und umgänglich und locker und gechillt und was noch alles synonymisch in diese Wortwolke passt, deren Ursprung Kein Problem lautet. Alles gar kein Ding. So unkompliziert, wie ich denke, dass die Welt mich haben will. Und so unkompliziert, wie ich denke, dass du mich haben willst. Aber wenn ich ehrlich bin, will ich mich so gar nicht haben. Selbstunterdrückung, Selbstentrückung, Selbstkleinmachung und jetzt spucken mir dafür dreiundzwanzig Buchstaben ins Gesicht. Zu Recht. Das ist das Ergebnis von jahrelangem Zu-viel-bitte-und-danke-Sagen. Die Antwort auf tausende unnötige Entschuldigungen. Die Retourkutsche für unverhältnismäßig viel Ich-möchte-keine-Umstände-machen. Die Strafe für den exzessiven Gebrauch des Konjunktivs. Die Karmaschelle für Ich-mache-jetzt-lieber-nicht-den-Mund-auf. Die Auswirkungen von Ich-darf-nicht-zu-viel-Raum-einnehmen. Ich will ja keine bitch sein. Ich will ja niemandem auf den Schlips treten. Warum tragen Frauen eigentlich keinen Schlips? Das muss ein Fehler sein, warum hat den niemand korrigiert? Es kann ja nicht sein, dass man nur Männer nicht vor den Kopf stoßen darf. Ich denke, ich sollte anfangen, einen Schlips zu tragen. Vielleicht werde ich dann auch nicht mehr vor den Kopf gestoßen. Vielleicht wirke ich dann männlicher und härter. Aber hoffentlich wirke ich dann nicht wie eine bitch. Vielleicht finde ich dann aber den Respekt vor mir selbst wieder, denn den habe ich auf meinem Weg aus Versehen verloren und ich denke, das kann man mir auch ansehen, weil ich eben keinen Schlips trage. Und ich will gar nicht erst wissen, wann du den Respekt vor mir verloren hast oder ob du ihn überhaupt jemals hattest. Vielleicht sollte ich auch einfach männlicher und härter sein, aber das fühlt sich dann eigentlich gar nicht nach mir an. Bin ich gerade dabei, mich falsch zu korrigieren? Auf jeden Fall verspotten mich inzwischen sogar meine eigenen Buchstaben.
Weißt du, was mich wütender macht als das eigentliche Problem? Dass ich nicht weiß, ob du dir jemals solche Gedanken machen musstest. Dass du meine Nachricht einen Tag lang unbeantwortet lässt, obwohl ich dir die Dringlichkeit mitgeteilt habe und du jetzt ankommst mit Kann man dir noch helfen? Nicht mal die erste Person Singular hast du benutzt, denn emotional involviert bist du schon lange nicht mehr, wenn du es jemals aufrichtig warst. Und du gehst sowieso davon aus, dass das Problem bereits gelöst ist, weil ich schon lange gelernt habe, meine Probleme ohne deine Hilfe zu lösen. Gestern hätte ich in deiner Antwort vielleicht noch ein freundliches Angebot gelesen, aber heute lese ich ein Ist dir noch zu helfen? zwischen unseren zwei Sprechblasen im Chat und das frage ich mich ganz ehrlich auch. Das letzte Mal, als wir etwas zusammen unternehmen wollten, hast du darauf bestanden, dass ich dir, wie immer, eine Idee pitche, über die du entscheiden kannst. Ich bin fleißig am Überlegen, wollte ich schreiben. Vertippt habe ich mich: Ich bin fleißig am Überleben. Und vielleicht wollte mir dieser Tippfehler schon einen ersten Hinweis geben. Die angestaute Enttäuschung in meinem Bauch wandelt sich langsam von passiv-aggressiv zu aktiv-aggressiv. Gut, dass gerade niemand meine Gefühle sehen kann, denn dann würden mich alle für eine bitch halten. Und das will ich ja nun wirklich nicht. Es soll niemand merken, dass ich wütend bin, dass ich Emotionen habe. Ist das hier gerade emotionales Verkopftsein oder verkopftes Emotionalsein?
Heute Morgen war ich sehr früh wach, weil ich die ganze Nacht über das Problem und über dich und mich und keine Nachricht nachgedacht habe. Ich bin immer sehr früh wach, wenn ich auf wichtige Nachrichten warte, denn ich muss immer sehr früh wach sein, damit ich schneller bin als die Nachrichten. Falls sie schlecht sind, will ich nicht aus der Kalten erwischt werden. Ich muss ja gefasst bleiben. Das will geübt sein. Wenn man vom Schlimmsten ausgeht, kann man nicht enttäuscht werden. Vielleicht hatte ich deshalb so viel Geduld mit dir.
Ich will nicht immer auf meine Gefühle aufpassen müssen, weil sich das so gehört. Ich will nicht, dass mein Bruder in meinem Hinterkopf sagt Sie hat gerade wieder ihre fünf Minuten, wie früher. Ich will nicht, dass meine Mama für immer sagt Das ist aber nicht ladylike, wenn ich fluche. Ich will nicht, dass mein Papa mir als Kind jedes Mal gesagt hat Gerade warst du noch normal, wenn ich wütend war und ihm widersprochen habe. Du bist normal, will ich mir selbst sagen. Denn jetzt sitze ich allein in meinem Zimmer, wenn ich traurig bin, und kann nicht einmal vor mir selbst weinen. Glaube mir selbst nicht, wenn ich wütend bin. Ekle mich vor meinen eigenen Emotionen. Jetzt muss ich neu lernen zu widersprechen und Leuten auf den Schlips zu treten. Oder korrigiere ich mich gerade falsch?
Um dich herum gehe ich schon immer auf Zehenspitzen, damit ich bloß nicht anecke. Bloß keinen Ton machen, bloß nicht stören. Vorsichtig, vorsichtig, vorsichtig. Das ist anstrengend und macht nicht glücklich, aber nur so kann ich immer ausnahmslos entspannt und gelassen und cool und umgänglich und locker und gechillt und was noch alles synonymisch in diese Wortwolke passt, deren Ursprung Kein Problem lautet, sein. Und je länger ich auf den Tippfehler starre, desto mehr frage ich mich, wer Recht hat. Der Tippfehler oder ich. Es ist schon frech, wie er sich da einfach so eingeschlichen hat. Auf Zehenspitzen hat man keinen festen Stand. Ich bin mir gerade nicht mehr sicher, was richtig und was falsch ist. Und dann sitzt er da einfach, der Tippfehler, auf zwei blauen Häkchen. Ob ich richtig oder falsch liege? Vorlaut lacht er mir ins Gesicht, der Tippfehler, wie er da sitzt. Verschlimmbesserung. In der Schule habe ich immer nachträglich Fehler ins Diktat eingebaut, weil mir selbst die schweren, langen Fremdwörter verdächtig einfach vorkamen. Falschkorrektur. Oder sprechen da nur meine Gefühle aus mir? Einmal bin ich deshalb mit zwei ganzen Noten schlechter nach Hause gegangen. Emotionales Verkopftsein oder verkopftes Emotionalsein? Das kannst du doch eigentlich besser, meinte meine Deutschlehrerin kopfschüttelnd bei der Rückgabe. Bin ich dabei mich falsch zu korrigieren?
Das Problem hat sich nicht gelöst, es hat mich gelöst. Und die Lösung ist, dass ich mich von dir löse.
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