freiTEXT | Xaver Rohracher
Discovery Revolution
Blackout und wir stehen auf der Kippe. Die Haare hängen dir lotrecht vom Kopf. Windstill, kein Luftzug, der sie bewegen könnte.
Es sind Nächte zwischen Materialermüdung und Schlaflosigkeit, in denen heisere Träume die offenen Augen rot durchädern. Nächte in feuchten Laken, wenn die eigene Haut schon Dämmung zu viel ist, wenn selbst im Stromsparmodus alle Windungen heißlaufen und die Abwärme deines flüchtigsten Gedankens die Isolierschicht zwischen den Sinnen zum Schmelzen bringt. Raus, in Bewegung bleiben, zwischen den Häuserschluchten, am Ufer des Donaukanals, auf den Praterwiesen, unter freiem Himmel, mit den Massen an anderen, die hier keine Erfrischung suchen, aber nicht wissen wohin sonst mit ihren wundgewendeten Körpern.
Am ersten Abend verschaffen wir uns Zutritt zu den ausrangierten Schiffsschaukeln hinter dem Feuerdorf. Wir tauchen an, doch nichts geschieht. Unverrückbar ruht der Rumpf in den Fluten, die ihm aufgemalt sind, sonnengebleicht. Nicht einmal ein metallisches Seufzen sind unsere Bemühungen ihm wert. Wir können uns dieser Arche nicht sicher sein.
Das Bier, das wir trinken, ist warm und die Dinge, die wir einander gestehen, ein Flüstern. Am Ende liegen wir im steifen Gras, deine Finger berühren meinen Handrücken und ich bilde mir ein, sie seien kühl.
Vor einigen Jahren war man vom Stromausfall noch überrascht. Die Lichter gingen aus, die Fahrgeschäfte hielten an, die Bässe wurden stumm, nur das Kreischen legte kurzzeitig an Lautstärke zu. Die Feuerwehr rückte an, um die Leute zu befreien, die kopfüber in ihren Sitzen hingen. Später waren die Schlagzeilen voll und die Netzbetreiber um Beschwichtigung bemüht. Mittlerweile hat man sich daran gewöhnt. Niemand verliert mehr die Nerven, nur weil er ein paar Minuten zwanzig Meter über dem Boden in einer Achterbahn festsitzt.
Nur in der Geisterbahn möchtest du jetzt nicht sein. Eine verkehrte Welt, damit könntest du leben, aber nicht mit einer finsteren.
Als du dich neben dem Tagada ins Gebüsch übergibst, halte ich dir die Haare aus dem Gesicht. Untertags ist es hier trocken und nass zugleich, wir waten durch Wogen aus Asphalt und Pfützen aus Luft. Ich erzähle dir, wie wir hier im Physikunterricht Winkelgeschwindigkeiten, Bahnradien und Zentrifugalbeschleunigungen gemessen haben. Du mir, wie die Revolution letzten Endes doch noch gelingen könne. Die Hitze zeichnet Luftschlösser in den Himmel, Glasfassaden und Metallverkleidungen blinzeln uns verschwörerisch zu. Verwelken oder Feuer fangen, sagst du, das seien die einzigen Optionen in dieser Welt.
Unser erster Kuss schmeckt nach Bosna und Magensaft.
Die Erde ist durchzogen von maroden Nervensträngen. Gebettet in brüchige Trockenheit, seit Wochen keine Kühlung, keine Linderung. Die Reizung in den unterirdischen Fasern, ein Jucken, das den Nachtwandlern in den Ohren surrt, eine Entzündung, die ihre Zunge pelzig werden lässt, eine Ermüdung, die ihnen die Nebenhöhlen verschlägt, bis ein unbedachtes Gähnen oder ein Kratzen im Augenwinkel zum Kollaps führt.
Das gewaltige Pendel sei deine Lieblingsattraktion. Sitzen würde man in einer Art Kreisel. Und nach und nach schaukle es sich auf, während man sich zeitgleich drehe. Mit jedem Durchlauf gewinne man an Tempo und an Höhe, verschiebe sich der Umkehrpunkt ein Stück nach oben, bis es weiter nicht mehr ginge. Das, sagst du, sei der Moment, auf den es ankomme. Einen Augenblick lang stehe nicht fest, ob man sich überschlage oder am selben Weg zurückschwinge. Alles sei in der Schwebe, der Erdboden sei einem fern und man selbst sich ganz leicht.
Statt zu schweben stehen wir am Kopf. Der Funkenflug der Stadtbeleuchtung erstarrt. Vom Praterstern her hupt der stockende Verkehr, und ihm nach Donnergrollen aus einiger Ferne.
Nicht lange, dann laufen die Notstromaggregate an und wir stürzen zurück zu Boden. Ich weiß nicht, ob in die eine oder andere Richtung.
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freiTEXT | Xaver Rohracher
Sauerstoffzufuhr
Atme, Monika, atme.
Atme ein.
Inhaliere den Tabakrauch, inhaliere Feinstaub, Nikotin. Die Röstaromen des Sommers: Tannennadel, Fichtenkonus, Buchenblatt, Rasenhalm, Kastanienschale. Mondhölzer. Inhaliere Personen, Verkehr unten auf der Straße. Die Eile der Passanten, die Hitze des Asphalts, Abrieb, hartgummischwarze Nachricht auf der Fahrbahn. Das Geschwätz des Verkehrs: Hupen, Bremsen, Drohen, Dröhnen. Dräuen dunkler Wolken über dir am Himmel. Vor der Ruhe kommt der Sturm, Winde ziehen fliehende Gardinen aus dem Fenster.
Atme, atme ein, Monika.
Inhaliere Stickstoff, Wasserstoff, Kohlendiox-, -monoxid, Kohlenwasserstoffe, N-H, C-H, C-O, zwei Kinder im Zimmer, eine Mutter im Nacken, ziehen ihre Kreise.
Ohne Mond gäbe es kein höherentwickeltes Leben auf der Erde. Erst die Entstehung ihres natürlichen Satelliten verlieh der Erde ausreichend Masse, um eine Atmosphäre an sich zu halten. Ohne Atmosphäre kein Sauerstoff, ohne Sauerstoff kein Energiestoffwechsel, ohne Energiestoffwechsel kein Leben.
Monika weiß nichts davon.
Aber sie hat gesehen, wie der Mond in diesem Weltraumfilm alle Luft abgesaugt hat, als er der Erde zu nahe kam.
Die Mutter kreist in ständiger Begleitung. Die Mutter ist natürlicher Satellit. Zetert, kreißt, liefert zündelnd Ideen. Sei eine gute Gattin, sagt sie. Sei eine gute Mutter, sagt sie. Sei eine gute Hausfrau, sagt sie. Sei eine gute Schwester, sagt sie. Sei eine gute Tochter, sagt sie. Lieb, verwöhn ihn, hilf, besorg’s ihm – lehr, versorg, erzieh sie, prügle – koche, putze, wasche, bügle – bück, verzichte, erb, ein bisschen – hege, pflege, hör auf mich!
Hör auf –
Klaus. Das ist ein Kerl, der raubt dir den Atem. In der Bank hochangesehen. Der wird’s noch zu was bringen. Brauchst du einen Kredit? Er besorgt ihn dir. Günstige Konditionen, keine Frage, mein Freund. Wieso nicht gleich noch leasen, er hat das beste Angebot. Und vergiss nicht, vorzusorgen! Unfall, Pension, Leben – es gibt nichts, was er dir nicht versichert.
Ja-ja, versichert er Monika, heut’ ist er nicht so spät daheim.
Nein-nein, versichert er Monika, ein Bier, höchstens zwei, mehr trinkt er heute nicht.
Doch-doch, versichert ihm Monika, sie kommt derweil schon ohne ihn zurecht.
Nina, die Jüngere, ist ein unkompliziertes Kind. Nur die Ältere, Leonie, braucht ständig Hilfe. Das kleine p kann sie immer noch nicht gleichmäßig schreiben, ständig rutscht sie unter die Zeile, und wenn man sie darauf hinweist, schweben die nächsten drei Buchstaben wie kleine Heißluftballons darüber. Nicht einmal Monikas Schläge auf die Finger wollen helfen.
Mütterliche Tadel hängen in töchterlichen Ohren, während Monika das Abendessen macht. Für Klaus, wenn er heimkommt.
Er kommt, polternd und stinkend in die dunkle Wohnung. Dreiviertel eins. An Essen kein Gedanke. Die Mädchen schlafen, die Schwiegermama schläft, die Gattin wird notgedrungen geweckt, wohin sonst mit seiner angetrunkenen Geilheit. Ihr wird wohl nicht lieber sein, wenn er den Schlaffen in der Not einer anderen zwischen die Beine drängt. Es röchelt an ihrem Ohr, irgendwann Schnarchen. Seine Ausdünstungen hängen im Raum. Ein atemberaubender Kerl, der Klaus.
Atme, Monika.
Atme am Fenster die Nacht ein, die Stille der Töchter, die Milde der Mutter, die Ohnmacht des Gatten. Die Glut der Zigaretten glüht. Glüht und frisst. Es frisst den Sauerstoff, es frisst ihn dir weg, Monika, zerfrisst dir die Lunge, zerfrisst dir das Herz.
Monika atmet. Flach.
Jeder Atemzug begleitet von einem pfeifenden Keuchen in der Kehle. Kürzeste Züge ziehen den Rauch ein, kühl auf ihrem Rachen. Luft kitzelt im Hals, sie hüstelt, sie versucht, tief durch die Nase Luft zu holen, ihre Kehle schnürt sich zu. Sie will atmen. Atme! Aber wie? Weiß nicht wie. Wie steuern, was immer von selbst funktionierte. Öffnen und Schließen der schlaffen Lippen. Nutzlos. Japsend vornübergebeugt, lehnt sich aus dem Fenster, nach draußen, wo die Luft sein muss, wo ist die Luft?
Sie hat noch immer die Zigarette in der Hand. Und eine chronische Obstruktion in der Lunge.
Das Klimpern der Flaschen echot durchs Stiegenhaus. Klaus der Vorsorgeberater hat vorgesorgt: ein Tragerl Bockbier, zwei Flaschen Roten, ein Flascherl Wodka und Jägermeister im 9er-Pack. Zigaretten sind auf Lager. Auf ins Kellerabteil.
Das Klimpern der Flasche echot durchs Stiegenhaus. Sauerstofflieferung für Monika. Ein neuer Satellit, Luft spendend statt Luft raubend.
Atme, Monika, atme.
Die Tage verbringt Monika am Fenster, wie früher. Nimmt einen Zug aus dem Sauerstoffbehälter, einen Zug von der Zigarette. Die Nächte verbringt Monika unter einer Maske. Überdruck hält Atemwege offen, die sich im Schlaf ohne Unterstützung verschließen.
Im Schlaf, unter der Maske, kann Monika frei atmen.
Klaus, wenn er aus dem Keller kommt, Rauch in den Kleidern, Rausch im Blut, schnüffelt sich indes an Monikas Sauerstofftank ins Delirium.
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