freiTEXT | Leon Zechmann

Wir drei

Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass du auf die gleiche Schule gehst wie ich früher und schon vor dir deine Schwester. Ich kenne die Räume und Flure zu gut und kann darin verloren gehen. Mondlicht ändert sich nicht in dreißig Jahren, auf den Tafeln lag der Staub nur dichter. Am Fenster deines Klassenzimmers hört man die Geräusche aus der Sporthalle am anderen Ende des Pausenhofs. Davor steht das neue Auto, direkt neben der Plane auf dem Roller deiner Schwester. Ich weiß nicht, wie ich fragen soll, ob wir danach noch in den Drive-in fahren und unter dickem Schnee auf dem Autodach, mit den Fingern in den Nikolaus-Häusern an den beschlagenen Fensterscheiben, nachts uns noch satt essen. Du hast seit gestern Abend nicht mit mir geredet und ich weiß nicht, ob es etwas ändern würde, wäre ich jetzt bei euch. Stattdessen verstecke ich mich im vierten Stock. Der Wind trägt dumpfe Musik nach oben und sie perlt an der dicken Jacke ab. Wenn du dran bist, werde ich es hören können, aber nicht zuordnen.

Ich stand bei allem immer draußen zum Rauchen, um deine Oma sauer zu machen. Du traust dich, heute aufzutreten, ohne Musikstunden. Mich nervt die Asche am Fensterbrett, ich puste sie fünfzehn Meter zu Boden. Ich hätte mich nicht getraut. Deswegen stehe ich, obwohl ich früher aus der Arbeit rausgekommen und hergefahren bin, hier oben. Zwischen jedem Act kommt kurzes Geplänkel, eine moderierende Person mit extrem hoher Stimme duelliert sich mit den Ausschreitungsklängen der nie ausgetauschten Lautsprecher. Ich heule hauptsächlich und wische mir mit langen Bewegungen immer wieder die heißen Tränen nach außen und oben. Ich habe Angst, dich zu verpassen und ich habe Angst, dich zu sehen.

Ich nehme Angst in Kauf, Schuhe zwischen den Fingern über den Boden schlittern, rennend. Das Treppenhaus hinunter, in dem ich mir beim Fangenspielen den Fuß verstaucht hatte, durch den Keller mit dem Werkraum, in dem ich mir mit der Nadel durch den Finger gestochen hatte. Der Korkboden vor dem Turnhalleninnenleben reibt über meine fallende Sockenferse und mein Knie kracht in die Heizung. Die Tür lässt sich schwer öffnen und dahinter stehen die anderen Eltern. Ich ziehe den Kopf ein, unterdrücke Scham und Schmerz mit jedem Atem und lehne mich neben sie an die Wand. Erst nach ein paar Minuten bin ich da, davor war alles schwarz. Regungslos suche ich den Raum nach deiner Schwester ab. Sie sitzt in der dritten Reihe auf einem Schulstuhl und hält das Handy in der Hand. Sie hält es hoch. Auf der Bühne stehst du, wie das kleinste Ei der Welt im Scheinwerfer und die Welt schaut dir zu. Ehe ich nachdenken kann, stehe ich an der hintersten Stuhlreihe, beinahe in jemandes Nacken. Ich spüre, wie wir uns drehen. Ich will, dass du mich siehst. Du singst, wie Siebtklässlerinnen singen, nur besser. „Ich will später mal Tickets für deine Konzerte haben“, würde ich sagen, wäre es nicht albern. Albern war es nicht, als wir in dem einen Campingurlaub unseres Lebens auf den alten Klappstühlen in der frisch feuchten Erde saßen und du die Karten zum Spielen auf deine Schwester geworfen und die Lieder aus dem Kindergarten über den Platz geträllert hast.

Du hörst auf und ich klatsche, bis die Wunden an meinen Fingern unter dem angestauten Schweiß der Sporthalle brennen. Endlich siehst du auf und dein Blick fällt zuallererst in die dritte Reihe. Bitte guck mich an. Ich bin doch hier. Und dann guckst du. Dein stolzer Blick schweift in winzigen Rucken durch den Raum. Und bleibt hängen. An mir. Bitte, sei nicht sauer auf mich. Es tut mir leid. Du reißt Kopf und Daumen in die Höhe wie die Königin der Welt, hebst das eine Bein an und setzt es dumpf und doll neben dich auf und ich glaube, du zwinkerst wie ein Dussel. Wie ein winziger Frosch stolzierst du über die Bühne und irgendetwas in meinen Lungen fängt beim dir „Zugabe“ Rufen an, sich zu lockern. Du stehst da wie beim allerersten Fahrradfahren, Laufenlernen, Schwimmen, auf weiter Flur in freier Welt, während ich ganz abseits im Licht deiner Augenwinkel hänge, die ganz genauso aussehen wie meine.

Ihr fahrt nach Hause, weil ihr keine Lust habt auf Drive-in und nachts im stickigen Auto auf dem Parkplatz stehen. Ich fahre hin und hole alles. Ich sehe euch durchs Fenster, als ich heimkomme, und die Lichter auf dem Brett funkeln euch wie wild durch die vom Wind zerzausten und von Mützen verschwitzten Haare. Mitten im Schnee, die Essenstüten mich wärmend am Bein, nehme ich den Moment auf ewig in mich auf. In meinen Blutbahnen bauen kabellose Wärmedecken Schutz vor dem eisigen Geschmackston der Winternacht. Der Tisch ist gedeckt, als ich schlüsselklimpernd hereinkomme, und so funktioniert das in einer Familie. Man geht zur Schule und zur Arbeit und abends isst man am Tisch und vergibt sich gegenseitig. Du hast, die Beine auf der Küchenbank verknotet, noch immer dein fasriges Kleid vom Auftritt an, und deine Schwester isst sofort, halb in der dicken Mopedjacke, die das Futter verliert, aus zerrissenem Papier wie ein Schwein.

 

Leon Zechmann

 

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freiTEXT | Leon Zechmann

Mach's gut (Das Ende der Welt)

Am letzten Tag der Erde wache ich auf und schneide mir die Nägel. Ich habe dutzende Nachrichten bekommen, von allen Menschen, die ich je gekannt habe. Es hat sich angefühlt, wie alle Feiertage zusammen. Und zusätzlich vermissen dich, plötzlich, all deine Ex-Partner gleichzeitig. Entfernte Familie will Geld von dir und deine spielsüchtigen Freunde wollen in ihrem Kinderzimmer auf dem alten, brüchigen Nintendo DS mit dir spielen. Nur schreiben sie alle nicht das, was sie dann eigentlich schreiben würden. Sie schreiben alle dasselbe: „Mach's gut“. Jeder schreibt das, überall. Irgendjemand hat sich das als Motto des Weltendes ausgedacht.
Nachdem ich mir die Nägel geschnitten habe, laufe ich barfuß durch die Wohnung. Das ist mein Mindestanzeichen von Weltuntergangsstimmung. Ich hatte mir eimerweise Wasser aus dem um die Stadt fließenden Fluss geholt. Mitten in einem umliegenden Dorf war, weiß Gott wieso, noch ein Café geöffnet, die Dame dort wollte Wucherpreise für Gebäck. Also habe ich mir eine Kugel Eis geben lassen, und im Eis waren Marshmallow-Stücke. Es war relativ grässlich. Aber es hat den Trip über die Bahnschienen verfeinert, später mit den Eimern unterm Arm.
Ich wasche mir den Becher von gestern nicht mehr ab. Das passt doch auch in die Weltuntergangsstimmung, oder? Und den letzten Rest Wasser kippe ich in die Badewanne. Es ergibt sich kaum mehr als eine Pfütze. Es ergibt sich gar nichts. Ich hatte vergessen, den Abfluss zu verschließen. Ich schlage mir die Hände über den Kopf zusammen. Das kann doch nicht wahr sein. Mehr wollte ich doch gar nicht vom Ende der Welt, außer in einer modrigen Pfütze zu sitzen. Ich war bei meiner letzten Powerbank angekommen, ich hatte meine letzten Akkuprozente perfekt vorausgeplant. Ich hätte heute Musik gehört, die ich vor einem Jahrzehnt heruntergeladen habe, gesungen, mich abgeschrubbt. Vielleicht finde ich noch irgendwo zeit- und ortsnah Wasser.

Ich kann nicht genau erklären, wieso ich genau vor ihrer Wohnungstür stehe. Ich weiß gar nicht genau, ob sie da ist. Aber ich klopfe ziemlich sicher laut genug. Dann knarzt die Tür auf. Als sie vor mir steht, fällt mir auf, dass sie mir gar nicht geschrieben hatte, heute. Obwohl wir uns nie besonders geliebt oder gehasst haben. Es war eben einfach nichts zwischen uns. Am Ende bin ich vermutlich nur hier, weil wir nah beieinander wohnen.
„Wieso hast du mir nicht geschrieben?“, frage ich sie.
Sie fängt an zu prusten, so richtig, mit Spucke, so lacht man, wenn die Welt untergeht. Wir begrüßen uns trotzdem, während ich mindestens mitgrinsen muss.
„Ich hab keinen Akku mehr, seit zwei Tagen, und zu mir nach Hause fährt buchstäblich gar nichts mehr. Selbst wenn ich mit einem dieser provisorischen Nachtzüge fahren würde, würde ich nirgendwo ankommen.“
„Wieso fragst du dann nicht mich?“
„Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, aber wann haben wir bitte das letzte Mal miteinander geredet?“
„Fair, aber ist es nicht irgendwie so ein bisschen das Ende der Welt? Leute machen krassere Sachen, als sich gegenseitig nach Strom zu fragen.“
Ich bringe ihr meine allerletzte Powerbank, auch wenn ihr das kaum mehr bringen sollte als 50%. Sie hat noch überschüssige Wasserflaschen gebunkert, die nehme ich zu mir mit rüber. Das Mobilfunknetz scheint bis zum Ende nicht abzubrechen, während aus den Buchsen in der Wand seit ein paar Tagen keine Meldung mehr kommen will. Wer auch immer die Kommunikation im Land aufrechterhält, muss ein wirklicher Gutmensch sein. Das Ende der Welt passiert planmäßig gegen 22 Uhr, was mir noch etwa eine halbe Stunde gibt, um mich mit zwei Wasserflaschen abzuwaschen. Ich kaure mickrig am Badewannenrand. Es ist einfach nur kalt.
Dann fangen die Anrufe an. Und als es am anderen Ende weint, weine ich mit. Ein Großteil meiner Familie hat es zum Schluss noch geschafft, zusammen zu sein. Aber genauso wie meine großzügige Wasserspenderin bin ich viel zu weit weg. Außer Apokalypsen-Reichweite. Wäre ich direkt mit der Ankündigung nach Hause gelaufen, hätte ich es auch nicht geschafft. Wer noch angefangen hat zu reisen, hatte genauso verloren wie die, die alleine geblieben sind.
Und dann weint meine Mutter. Ich hatte mir nie vorstellen können, dass ich am Ende allen Seins in mehrere Decken eingewickelt auf meinem Schreibtischstuhl sitzen würde, dutzend Meter in der Wohnung über dem Boden, auf die kahle Stadt starrend, die mir vereitelt, mit meiner Familie zu sein, und dann weint sie, und sagt mir mit ihren beinahe letzten Atemzügen, dass sie immer stolz auf mich war, aber damals Recht damit hatte, dass ich nicht so weit hätte wegziehen sollen, und ich bin gar nicht sauer auf sie wegen des Seitenhiebes. Ich muss einfach nur weinen. Ist das eine Scheiße. Das ist der größte, der größte, gottverdammte Blödsinn, den ich je gehört habe. Wer so etwas schreiben würde, will nur, dass Leute leiden.
Es klopft an der Tür, beinahe zeitgleich mit dem 22-Uhr-Schlag. Wir verabschieden uns. Ich höre zum letzten Mal, wie meine Familie, geteilt, in ihrem komischen Dialekt ins Mikrofon brüllt, und das Tränenfließen hört nicht mehr auf. Mein Magen verkrampft sich, ich muss mir an die Brust fassen, weil mein Atmen stückig wird. So stolpere ich zur Tür, vor der sie steht, mit der Powerbank in der Hand, die, die ich ihr gerade erst gegeben hatte.

Ich glaube, es ist eine Eigenschaft des Menschen, zu weinen, mit Schnodder und Grunzen, wenn die Erde untergeht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir beide uns vorher nicht im Entferntesten je umarmt hatten. Aber man hält sich eben gegenseitig fest, wenn es zu Ende geht.
„Bei dir ist die bessere Aussicht“, stellt sie fest, „und ich wollte dir die Powerbank wiedergeben.“
„Also, ich wollte einfach nicht alleine sein.“
Am Ende ist nur Feuerwerk.
Es ist ziemlich sicher kein Feuerwerk, es ist viel zu viel zu laut. Meine Ohren klirren. Es kommt grell durch die Fenster ins dunkle Zimmer. Wir zerfließen in die Schatten, die es wirft. Auch wenn ich die Worte hasse, die alle sagen, und sie glaube ich auch, tragen sie uns davon.
Sie ziehen sich durchs schemenhafte Sterben hindurch.
„Mach's gut.“

 

Leon Zechmann

 

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