24 | Anna Magdalena Mähr

Gemeinsam essen

Mama sagt am Telefon, dass sie nicht mehr konnte und entschuldigt sich. Rücken und Nerven am Ende, Haus und Garten vernachlässigt. Da sagte sie ihm: Aus. Dorthin jetzt, die waschen dich, die geben dir was gegen die Schmerzen. Er hat sich von mir überreden lassen, aber dafür trinkt er jetzt nicht mehr, sagt sie und macht eine beklemmende Pause, damit ich Zeit habe, mir vorzustellen, was das bedeutet, komm lieber heute noch! Zuhause könnte ich etwas Legeres anziehen, aber auf dem Nachttisch liegen die Tabletten. Ich würde mir eine rausdrücken oder zwei und schlafen gehen. Also lieber direkt ins Hospiz.

Eine Pflegerin begrüßt mich und weiß schon, wer ich bin. Auf ihrem Schild steht nur der Vorname. Sie trägt eine Goldengel-Dauerwelle und pudriges Make-up. Statt dem erwartbaren Krankenhausgeruch tauchen wir ab in einen heimeligen Hauch von frisch gewaschener Wäsche. Da sind Linoleumböden, Hygienespender und satinglänzende Vorhänge im Farbton der unberührten Sitzgarnitur. Wir gehen an einigen offenen Zimmern vorbei und der Goldengel sagt: Aufenthaltsraum, Transzendenz- und Ruheraum, Gemeinschaftsküche. Fühlen Sie sich wie zuhause. Aber das werde ich sicher nicht. Vor einem der geschlossenen Zimmer bleiben wir stehen. Möchten Sie Kaffee oder Tee?, fragt sie. Ein Wasser bitte, sage ich mechanisch. Mein Durstgefühl funktioniert noch. Bringe ich Ihnen gleich. Sie kneift freundlich ihre Augen zusammen, als würde sie mich damit umarmen. Und wenn Sie sonst einen Wunsch haben, einfach klingeln, sagt sie und drückt mit dem Daumen auf ein Gerät aus Luft, das nicht größer ist als eine Fernbedienung. Ich nicke, als hätte ich sie verstanden. Daraufhin öffnet sie mit professioneller Zurückhaltung die Tür. Mama eilt zu uns, auf Zehenspitzen, damit die Stöckel ihrer Pumps nicht lärmen. Auf diese merkwürdige Weise huschte sie schon öfters durch unsere Familie: Bei Hochzeiten, um schnell ein aufgetrenntes Fädchen der Schleppe abzuschneiden. Bei Taufen, um dem spuckenden Säugling ein Tüchlein unterzulegen. Schön, dass du endlich da bist, sagt sie. So schnell ich konnte, sage ich, wie geht es ihm?, und linse zum Bett. Der weiße Vorhang bläht sich auf. Mama ergreift meine Hände und versperrt mir die Sicht. Sie lässt mich nicht hereinkommen. Lauwarmer Luftzug. Eine Gratwanderung, tuschelt sie, du weißt ja, wie er das alles findet. Sie macht einen Jammerschade-Seufzer. Der Vorhang galoppiert lautlos ins Zimmer hinein. Er hat keine Schmerzen und wehrt sich nicht, haucht sie fast unhörbar und hält meine Handgelenke fester. Gut, dann lass mich rein, sage ich in normaler Gesprächslautstärke, was sie mit unfreundlich zugekniffenen Augen quittiert. Ich winde mich aus ihrem Griff und betrete den Raum. Er bemerkt mein Kommen und wendet den Kopf zu mir. In seinem Gesicht breitet sich eine müde Erleichterung aus, die mich ansteckt. Was?, sagt er. Schau, wer da ist, flötet Mama und schließt die Tür. Der Vorhang fällt entkräftet an seinen Platz zurück. Hallo Papa, sage ich und streiche über seine gelbstichige Hand. Die Haut ist kühl und papieren. Wie geht es dir? Wie soll es mir gehen, sagt er mit der Schwerfälligkeit von hochdosiertem Morphium. Siehst du ja, sagt er und klopft sperrig auf die Bettdecke, um mir das fremde Bett zu zeigen, in dem er liegen muss. Ich setze mich. Mama holt den anderen Stuhl, der einsam beim Tisch stand. Und wie geht es dir?, sagt er. Ich ertrage kaum die Langsamkeit seiner Worte und versuche vergeblich zu lächeln. Mit viel Gewalt presse ich ein gelogenes Gut durch meinen angespannten Kiefer. Warum bist du gekommen?, fragt er mich.

Hinter dem halbtransparenten Vorhang liegt eine begrünte Hauswand und davor stehen Tische mit Stühlen, bunte Sonnenschirme und hohe Blumenkisten. Ich stelle mir vor, meine Finger in die Blumenerde zu stecken oder wenigstens über die Halme und Blätter zu gleiten. Ich hole tief Luft und sage: Ich komme, um mit euch Mittag zu essen. Ich habe keinen Hunger, sagt er wie ein stures Kind und starrt in die Weite zwischen uns. Ich sehe rüber zu Mama. In ihren Gesichtszügen liegt ein kampflustiges: Habe ich doch gesagt! Ein beiläufiges Streichen ertönt an der Tür. Der Goldengel kommt herein und stellt ein Tablett mit einem Krug Wasser und drei Gläsern auf den Tisch. Danke, sagen Mama und ich im Gleichklang.

Die Pflegerin schenkt ein Glas zur Hälfte ein und umfasst die knochigen Schultern meines Vaters, führt mit viel Fürsorge das Glas zu seinem Mund, aber er dreht sich weg. Möchten Sie das vegetarische Menü oder den Fisch?, fragt sie. Ich weiß nicht, ob sie mich meint und sehe rüber zu Mama, die sofort übernimmt. Ich schenke mir Wasser ein und gehe im Raum auf und ab. Goldengels Stimme bleibt weich und einladend, während sie mit Mama über das Menü spricht. Ich trinke in kleinen Schlucken und beständig. Papa schaut durch das Fenster in den grünen Innenhof. Ich denke, er wäre gern draußen bei den Blumen. Schön, sagt die Pflegerin, dann richte ich zwei Portionen für euch. Sie geht und hinterlässt eine duftende Spur Zuversicht. Mama drückt mich an ihre Seite und sagt: Wirklich schön, dass du da bist. Ja, sage ich und löse mich aus ihrer Umarmung. Mein geleertes Glas stelle ich auf den Tisch, ich komme gleich, sage ich.

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Anna Magdalena Mähr

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