7 | Jutta Schüttelhöfer

Der Ententeich

Ihre Schritte knirschen auf dem leicht abfallenden Schotterweg. Sie geht langsam, vorsichtig, um nicht erneut zu stürzen. Vor einer Woche gab es ein paar frostige Nächte. Da hat sie in der Dunkelheit früh morgens auf dem gefrorenen Boden den Halt verloren. Ihr rechtes Knie ist noch immer blaugrün verfärbt. Aber zimperlich war sie nie. Sie zwingt sich trotz Schmerzen in Bewegung zu bleiben.
Sie ist jetzt 94. Inzwischen ist sie immer zu früher Stunde auf den Beinen. Ihre schmerzenden Knochen treiben sie zeitig aus dem Bett. Früher liebte sie es auszuschlafen. Manchmal begann ihr Tag erst zur Mittagszeit. Aber das ist lange her. Wenn sie nun morgens noch vor der Dämmerung allein in ihrer Wohnung hockt und neben ihrem eigenen Atem bloß das Ticken der Küchenuhr die Stille durchdringt, verlässt sie zuweilen bereits in der Dunkelheit das Haus, um nicht in tiefer Einsamkeit zu versinken. Die Geräusche des anbrechenden Tages außerhalb ihrer Wohnung verleihen ihr ein Gefühl von Lebendigkeit, das sie drinnen allzu oft vermisst.
Heute hat sie jedoch eine Weile gebraucht, bis sie das Haus verlassen konnte. Ihre Schlüssel lagen nicht am vorgesehenen Platz auf der Flurkommode. Seit über 30 Jahren wohnt sie hier. Seither liegt ihr Schlüsselbund, wenn sie nicht unterwegs ist, immer in der kleinen Keramikschale auf der alten Kommode aus Mahagoniholz. Bloß heute nicht! Über eine halbe Stunde suchte sie vergeblich danach, ohne eine Erinnerung zu haben, wann sie diesen das letzte Mal in der Hand hatte. Mehr zufällig fand sie ihn schließlich auf ihrem Nachttischchen.
In letzter Zeit passiert das öfter. Gegenstände verschwinden und tauchen plötzlich an Orten wieder auf, wo sie sie sicher niemals hingelegt hat. Erklären kann sie sich das nicht. Inzwischen hat sie allerdings aufgehört, über diese Seltsamkeiten nachzudenken. Sie möchte nicht kostbare Lebenszeit mit Grübeleien verschwenden. Zumal ihr alle diese Vorkommnisse bisher ein Rätsel geblieben sind. Ganz egal, wie lange sie darüber auch sinnierte.
Der scharfe Wind weht ihr eisig ins Gesicht. Es sind höchstens ein bis zwei Grad über null, denkt sie und zieht sich die Wollmütze tiefer in die Stirn. Am Ententeich setzt sie sich auf eine Bank. Stehen kann sie nicht mehr lange, denn nach wenigen Minuten protestieren ihre Knie. Auch das Laufen fällt ihr schwer und die Strecke ist mittlerweile, obwohl der Park nicht weit von ihrer Wohnung entfernt ist, eine kleine Herausforderung für sie. Trotzdem kommt sie oft hierher. Sie liebt die Ruhe, besonders am frühen Morgen.
Langsam durchdringt die Feuchtigkeit der zum Teil mit Moos überzogenen Holzbank den dünnen Stoff ihrer Hose. Normalerweise hat sie eine Plastiktüte als Sitzunterlage dabei, doch auch die scheint heute auf mysteriöse Weise verschwunden zu sein.
Die Enten hocken schlafend an der Uferböschung. Ihre Schnäbel tief im dichten Gefieder vor der Kälte geschützt. Die Brötchentüte knistert, als sie sie aus ihrer Handtasche zieht. Ein paar Enten drehen die Köpfe in ihre Richtung. Sie schüttet die Krümel auf den Rasen und sieht zu, wie Leben in die Gruppe kommt. Eine Weile beobachtet sie, wie die Tiere sich auf das Futter stürzen. Dann lässt sie ihren Blick staunend über den See gleiten, als betrachtete sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben.
Sie genießt die Ruhe, lauscht auf das Schnattern zu ihren Füßen und fragt sich, warum sie diesen wundervollen Ort nicht schon früher einmal besucht hat. Als die Sonne hoch über dem Park steht, sitzt sie noch immer auf der Bank. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte, wo sie zuhause ist.

 

Jutta Schüttelhöfer

 

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freiVERS | Jutta Schüttelhöfer

Echo auf der Haut

unter der Buchenrinde warte ich
die Nacht kommt vorbei
leuchtet mit dem Mondlicht
die Erinnerungen aus

ich schaue in vergangene Tage
du nickst mir zu – flüchtig auf Besuch
deine Augen lassen Worte
in den Raum zwischen uns fallen

sie hallen durch die Dunkelheit
werfen ein Echo ins Dickicht
ich folge ihm ziehe es
wie einen Mantel um meine Schultern

trage es dicht auf der Haut
damit es später in der
Lautstärke des Tages
nicht zerbricht

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Jutta Schüttelhöfer

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22 | Jutta Schüttelhöfer

Jetzt

im Schatten der Zeit
steht dieses Haus
wartet auf seinen Anstrich
lass uns die Wände mit Mut streichen
und die Böden mit Erinnerungen auslegen
unsere Verletzungen setzen wir
auf die Bank in der Diele
und daneben am Fenster
ist noch Platz für alles
was hätte sein sollen

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Jutta Schüttelhöfer

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freiVERS | Jutta Schüttelhöfer

Chamäleon

im Dickicht zerreißt das Band an den Dornen
die blauen Schatten tanzen auf der Lichtung
durchbrechen den Blick
ich habe lange nicht mehr in die Ferne gesehen
ein Schwarm Vögel fliegt vorbei

nimmt die Gedanken mit im weichen Gefieder
können sich meine Lieblingsworte an sie schmiegen
zurück bleiben nur die roten Worte
die ins Schwarz tendieren wenn ich sie laut denke
ich hoffe auf die Rückkehr meiner Sprache

stumm stehe ich mit roten und schwarzen Gedanken
die Sonne kehrt mir den Rücken zu versenkt sich
hinterm Horizont in der Finsternis
blinzeln mich grell-gelbe Augen an überall im Wald
versteckt lauern sie auf ihren Moment

ich ducke mich hinter tiefschwarze Schatten
schwärzer noch als die Nacht
ich bin ein Chamäleon

kleide meine Seele in ihr dunkelstes Gewand
und verschwimme mit dem Hintergrund
niemand hat mich je gesehen

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Jutta Schüttelhöfer

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freiVERS | Jutta Schüttelhöfer

Herr Gräber

es riecht muffig, abgestanden
frische Luft – kein Gegner für
diesen Dunst das Zimmer darin
eingehüllt wie in einen alten
Mantel gekleidet ihn stört es nicht

er bemerkt es wohl nicht einmal
um ihn herum passiert der Alltag
Jalousien hoch Fenster geöffnet
Frühstück gebracht die Tür geöffnet
die Tür geschlossen er reagiert nicht

„Herr Gräber…“

wie Regentropfen an einer Scheibe
perlen die Buchstaben an ihm herab
die Augen stumpf zwei Fenster in
sein leeres Inneres sein Körper ein
beinahe verlassenes Gebäude

„Ich soll Sie von Rosalie grüßen!“
Rosalie!

hinter den Fenstern taucht seine Seele
auf der Blick flackert ein feiner
Schimmer darin eine einsame Träne
löst sich, rollt hinab über die runzelige
Pergamenthaut tropft lautlos zu Boden
„Rosalie“, flüstert er mit krächzender Stimme

Nie
habe ich mehr Liebe in einem
einzigen Wort gehört!

 

 

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Jutta Schüttelhöfer

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mosaik37 - bluten

mosaik37 - bluten

Frühjahr/Sommer 2022

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INTRO

Bei der Herausgabe einer Literaturzeitschrift sind diverse Arbeitsschritte und Tätigkeiten zu erledigen. Im besten Fall sollten diese möglichst harmonisch nacheinander bzw. parallel ablaufen, getragen von Personen mit unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten (siehe links bzw. unten). Gerne wird bei solchen Gelegenheiten das Bild eines funktionierenden Uhrwerkes herangezogen. In diesem Bild gesprochen, greifen beim mosaik die Zahnräder meist sehr gut ineinander – fällt eines aus, gibt es üblicherweise einen Bypass, der zwischenzeitlich die weitere Bewegung garantiert.

Jetzt geht unsere Uhr nach. Diese Ausgabe sollte planmäßig zu der Zeit, in der sie jetzt erschienen ist, quasi schon vergriffen sein. Doch zu dem Zeitpunkt, als sie hätte erscheinen sollen, war die Datei mosaik37_Zeitplan.xlsx schon mit unzähligen Zusätzen versehen: Planänderungen, Wiederänderungen, Korrektur der Wiederänderung. Zahlreiche Erkrankungen im Team haben zwischenzeitlich alles durcheinandergebracht. Es ist so, als hätte man die hintere Abdeckung der Uhr entfernt und das gesamte Innenleben auf den Boden geschüttelt.

Auch wenn noch nicht alle Teile der Uhr wieder an ihrem Platz sind, konnten wir – verspätet aber doch – diese Ausgabe zusammenstellen. Und da wir hoffnungslose Optimist*innen sind (die ein gelegentlich eingestreutes Oxymoron schätzen), sehen wir trotz all der Widrigkeiten der aktuellen Umstände auch darin wieder eine neue Erfahrung, aus der wir für die Zukunft lernen. Auf dass wir bessere Pläne machen oder vielleicht ganz auf diese verzichten! Wir werden sehen. Einstweilen wünschen wir euch viel Freude mit der neuen Ausgabe – wir arbeiten derweil an der Genauigkeit unserer Uhr.

euer mosaik

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Inhalt

flusslich

René Markus – Sporen
Jutta Schüttelhöfer – Fische
Leonie Ziem – Verlust / aufhören, sich zu wundern
Olja Alvir und Clemens Braun – sandschaften
Amalie Mbianda Njiki – Zwischenzeitlich
Tara Meister – vergeht nicht

zellwandernd

Cornelia Manikowsky – ein Esel sein
Sophia Klink – Skript für den Wald
Raoul Eisele – EIN JEDER DRITTE : LYMPHKNOTEN UND : FATIGUE
Verena Ullmann – Nachthimme
Roland Grohs – Der Sammler

entfalten

Carla Lorenz – kaatzalé
Linn Schiffmann – Ryujin 3.5; 13 Uma
Yannick F. Piwetz – Patrizia und Uwe regen Leute mit ihren Frisuren auf
Dorothee Krämer – der spion
Helene Slancar – Anna und Du, Polarität
Johann Voigt – enden

Kunststrecke von Anjan Cariappa
BABEL – Übersetzungen

n undurchsichtigen Zeiten wie diesen, in denen manch eine Nachricht uns die Sprache verschlägt, ist es gerade sie, die es uns nicht verschlagen darf. Und zwar jene Sprache, die nicht heruntergebrochen wird auf Floskeln, Phrasen und Parolen. Insbesondere Lyrik verlangt Tiefgang und Zeit, von Schreibenden und Lesenden gleichsam. Sie ist „nichts zum Essen und wieder Herausscheißen”, wie es in der Übersetzung von Dejla Jassim des amerikanischen Gedichts You Know How to Say Arroz con Pollo but Not What You Are von Melissa Lozada-Oliva in dieser BABEL-Ausgabe heißt. Nur die Sprache vermag es, an einer wie auch immer gearteten Wahrheit zu rühren. Ob sie die Welt verändern wird?

[foejәtõ]

Der Literaturbetrieb müsse sich zwingend mit ‚dem Digitalen‘ beschäftigen, findet Katherina Braschel in ihrem Leitartikel – nicht zuletzt aus Gründen der Inklusion und Barrierefreiheit. In den letzten Jahren kam einiges in Bewegung, wir stehen aber nach wie vor am Anfang einer selbstbestimmten, sinnhaften und spannenden Nutzung der digitalen Welt für die Literatur.

Wir haben uns umgesehen und geben eine kleine, sicherlich lückenhafte, Bestandsaufnahme: Das Prosanova-Team berichtet, wie es war, digital zu veranstalten, Katherina J. Ferner hat Literatur-Podcast-Tipps und Malte Grotendorst beschäftigt sich in seinem Essay ganz grundsätzlich mit dem Verhältnis zwischen dem Selbst und dem digitalen Content.

Kreativraum mit Armela Madreiter

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