Kerstin‘s.

Die Eier kommen um sechs, die Brötchen eine halbe Stunde später.
Eier: Sechs mal sechs, Bodenhaltung, direkt vom Hühnerbaron, der eigentlich ein Graf ist und ein Vermögen gemacht haben soll mit seinen Hochleistungshennen. Brötchen: In fünf großen Tüten vier Sorten, dazu Laugenstangen; oft sind sie noch warm: die Backstube ist gleich am Ortseingang.

Die Eier werden von Männern gebracht, die ständig wechseln, aber immer aus Osteuropa sind. Sie springen schnell aus dem Lieferwagen, die Fahrertür lassen sie offen, Kerstin hat das Geld schon bereitgelegt. Die Brötchen bringt Heiner, der seit zwanzig Jahren für Bäckerei Soltau ausfährt; er kauft immer auch den Tagesanzeiger und die BILD und dann stützt er sich auf ihrem Tresen auf und sie reden eine Weile, bevor er sich erst an den Kopf tippt, dann an die Tür klopft und seine Fahrt fortsetzt.

Kerstin schaltet dann das Radio ein und wischt die Krümel von gestern aus der kleinen Brötchenauslage. Sie prüft, ob alle Eierpackungen sechs weiße Eier enthalten, und fährt mit dem Staubwedel über die Ware in den Ladenregalen. In der Morgensendung reden sie über das Wetter und man kann Tickets zu einem Konzert gewinnen, wenn man anruft. Kerstin füllt das Bier im Kühlschrank auf. Er brummt an diesem Morgen besonders laut; sie rammt ihn kräftig mit ihrer Schulter. Manchmal verstummt er dann, heute nicht. Sie kann ihn nicht leiden; er verstopft ihr den Laden und blockiert die schmalen Wege, auf denen sie sich früher durch den Raum bewegt hat. Günstig aber war es, dieses eckige Monster; sie hat es von der Tankstelle Reimers übernommen. Die Leute tanken heute alle an der Autobahn.

Um sieben Uhr dreißig kommen die Grundschulkinder, denen kein Pausenbrot geschmiert worden ist. Sie sind noch still und verschlafen zu dieser Uhrzeit. Die Riesenrucksäcke auf den Rücken geschnallt, taumeln sie durch die Morgenluft wie ausgesetzte Astronauten. Sie kaufen hoffentlich die Mohnbrötchen und die Laugenstangen auf.

Wenn der letzte Nachzügler davongetrottet ist, raucht Kerstin die erste Zigarette. Sie steht dabei in der Ladentür und bläst den Rauch in die Morgenluft, die heute mildsommerlich ist, aber so frisch, wie sie es nur in Meeresnähe sein kann. Der weiß-schwarze Kater, der niemandem gehört, läuft über die Straße, auf der nur manchmal ein Auto fährt.
Kerstin holt sich einen Kaffee von oben und setzt sich auf ihren Stuhl; er hat über die Jahre die Form ihrer Schenkel angenommen. Sie hört noch einmal die Nachrichten, sieht im Laden umher, macht Rechnungen, geht auf Facebook. Sie hat sechs Benachrichtigungen seit gestern; sechsmal ein Like für ihr neues Foto, dreißig Likes sind es jetzt insgesamt für ihre neue Frisur, und außerdem ein Emoji mit Herzchen-Augen.

Kerstin hat kurze, graue Haare. Vor sieben Jahren, da schloss Bei Ute, der Friseur im Dorf, hat sie mit dem Färben aufgehört; davor war burgunderrot. Alle zwei Wochen musste nachgefärbt werden, sonst sah es unordentlich aus, nein, als habe sie lichtes Haar, denn aus der Entfernung scheint der weiß-graue Ansatz weiche Kopfhaut zu sein, die unter dem falschen Burgund hervorschimmert. Das verletzt Kerstins Stolz. Sie hat kräftiges Haar. Es war ihr bestes Pfund. Das ist dein bestes Pfund, hatte ihre Mutter immer gesagt, wenn sie ihr mit festem Strich die Haare bürstete und zu Zöpfen flocht.

Manchmal packt Kerstin die Lust auf Farbe, oft im tiefsten Winter oder im späten Sommer, dann lässt sie sich eine bunte Strähne färben, ein Farbtupfer im Grau. Er macht ihr gute Laune, wenn sie sich morgens im Spiegel ansieht. Seit drei Tagen hat sie eine neue Strähne und die Frisier-Azubine hat ein Foto von ihr gemacht, das Foto, das jetzt auf Facebook Likes sammelt.

Die Schwiegertochter von Frahms, die im letzten Jahr plötzlich sehr dick geworden ist, kommt herein und kauft Eier. Auf Facebook postet der Bestatter ein neues Gedicht. Es steht in weißer Schrift auf einem roten Sonnenuntergang über schwarzen Bergen. Der Bestatter dichtet viel und immer Trauriges, heute geht es um den Spätsommer und den Herbst, der kommen wird.

Die alte Maria von gegenüber holt drei Brötchen und eine Dose Sauerkraut mit Speck. Sie muss kurz verschnaufen und erzählt, dass ihre Tochter am Wochenende zu Besuch kommt. Als Maria weg ist, raucht Kerstin noch eine Zigarette; vom Schulhof her kommt Geschrei, es ist große Pause.

Kerstin spielt ein bisschen Karten am Computer. Dann fährt der Pastor in seinem kleinen roten Dienstwagen vor; er bringt, zusammengerollt, das Plakat für das Sommerfest der Kirche. Sie kleben es zusammen an die gläserne Ladentür, zwischen Tesa-Reste, die bunten Ecken längst abgerissener Aushänge und die Suchanzeige für den Kater von Familie Wolters, für den es wahrscheinlich zu spät ist. Der Pastor hat es eilig, weil er zu einem achtzigsten Geburtstag muss.

Um halb eins ist die Schule aus und der Ansturm kommt. Schnaufend stolpern die Kinderkörper in den Ladenraum; die Riesenrucksäcke stoßen an Türrahmen, Regale, gegeneinander, und branden schließlich gegen ihren Tresen. Dahinter, an der Wand, gestapelt auf drei langen Brettern, da ist das süße Gummizeug in milchigen, runden Plastikdosen.
Kupfermünzen verlassen mühsam Kinderhände; Kerstin pult Deckel ab, greift mit der linken Hand nach den weißen Papiertüten, mit der rechten nach ihrer kleinen silbernen Zange und los geht es: Drei Cola-Kracher, zwei Schlümpfe, eine weiße Maus, eine Schaumerdbeere, nein, doch nicht, kann ich doch lieber die Lakritzschnecke haben?

Manchmal beschweren sich Mütter, die Süßigkeiten würden nach Zigarettenrauch schmecken. Die Kinder beschweren sich nie. Sie verschwinden mit den weißen Tüten in der Hand in Paaren und Horden in den Sommernachmittag. Kerstin fegt den feinen Zucker zusammen, der auf den Tresen gerieselt ist, dann dreht sie das Schild an der Tür von Offen auf Geschlossen, zieht ihren Kittel aus und geht durch den Lagerraum nach oben. Manchmal nimmt sie sich eine der Dosensuppen aus dem Laden mit. Früher ist sie in der Mittagspause oft zum Friedhof gegangen. Jetzt zupft sie ein bisschen Unkraut im Garten. Vielleicht liest sie den Stadtanzeiger.

Vor zwei Jahren wurde der Laden dreißig Jahre alt, da gab es im Anzeiger einen großen Artikel. Der Journalist kam vorbei und stellte ein paar Fragen und machte ein paar Fotos. Zwei Wochen später sah sie sich selbst in schwarz-weiß entgegen: die Fäuste auf dem Tresen aufgestützt lehnt sie den Körper der Kamera entgegen; sie lächelt wohl ein wenig, kampfeslustig mehr als freundlich. Je länger sie das Bild ansah, desto mehr gefiel es ihr. Im Text drumherum ist von ihr als Manemann die Rede; der Nachname wurde ihr im Lesen sehr fremd, sehr gewichtig. Manemann eröffnete den Laden im Frühjahr 1989 nach dem Tod ihres Ehemannes. Er hatte vorher in den Räumlichkeiten Artikel für den Heimwerkerbedarf verkauft. Und: Bei Manemanns „Kerstin’s“ findet jeder, was er braucht: Batterien für die Taschenlampe, ein frisches Brötchen zum Frühstück, Zucker für den Kuchen, Zahnbürsten und Putzmittel. Auch der neue Bürgermeister kommt zu Wort: Er sagt, dass ,Kerstin’s‘ eine Institution ist, dass ihr Laden zur DNA unseres schönen Dorfes gehört und das ist, was Dorf ausmacht: Ein Raum der Begegnung. Kerstin hat den Artikel ausgeschnitten und gerahmt und im Laden aufgehängt.

Um halb vier kommen die Bauarbeiter von der Neubausiedlung, wo Häuser mit glänzenden blauen Dächern und weißem Putz entstehen. Die Bauarbeiter zahlen immer in bar, mit gefalteten Scheinen aus der Hosentasche, genau wie die Freiwillige Feuerwehr. Mit Karte zahlen die Mütter, die eine Stunde später Zucker oder Eier brauchen, weil das Kind gestern vergessen hat zu sagen, dass es morgen einen Kuchen in die Schule mitbringen soll, Jetzt wird es eben nur ein schneller Rührkuchen. Haben Sie Vanillin?

Kerstin hat Vanillin und Backpulver und Tütenhefe und Schokodrops und diese kleinen gläsernen Aromakapseln in der Sorte Bittermandel von Dr. Oetker, und auch geringelte Aufsteckkerzchen und ein paar Röllchen Zuckerperlen, rosa und gold. Backsachen verderben nur langsam und es macht großen Spaß, sie einzukaufen und sie im Laden anzusehen; Kerstin hat sie gegenüber von ihrem Platz aufgestellt, sodass ihr Blick darauf fällt, wenn sie aufschaut.

Manchmal nehmen die Mütter noch passierte Tomaten mit oder eine Buchstabensuppe aus der Tüte. Vor einiger Zeit fragte eine von ihnen: Haben Sie Kuskus?
Beim Frauenfrühstück in der nächsten Woche – einmal im Monat ist Frauenfrühstück im Gemeindehaus –, sagte Kerstin zu Christa, jemand habe bei ihr Kuskus gewollt. Sie erzählte eigentlich nur davon, um die Stille zu füllen, die immer eintritt, wenn man neben Christa sitzt; Christa sagt zu allem Ach, das ist ja interessant mit ihrer weichen Stimme, aber eigentlich scheint sie sich für nichts zu interessieren, nicht für Klatsch, nicht für die Nachrichten, nicht für Urlaub oder Gartenarbeit, nur für Fußball ein bisschen; sie geht mit ihrem Mann ins Stadion. Auch der Kuskus war für sie interessant, aber interessierte sie nicht weiter, doch zu Kerstins Glück hatte Helga alles mitangehört, und sie beugte sich weit über ihren Kaffee und sagte, Kuskus, das esse ihre Tochter manchmal, so als Salat, mit Gurke und Tomaten. Und Pfefferminze ist auch drin. Das soll ganz gesund sein.

Am nächsten Morgen googelt Kerstin Kuskus. Couscous oder Cous Cous, steht da, ist ein Grundnahrungsmittel der nordafrikanischen Küche. Die Grundlage besteht aus befeuchtetem und zu Kügelchen zerriebenem Grieß aus Hartweizen, Gerste oder Hirse.

Grieß also, sagt Kerstin laut in den Laden hinein, zu den rosa Zuckerperlen. Das ist ja bloß Grieß. Grieß sollte sie noch dahaben. Sie kramt im Nudelregal, und wirklich, ganz hinten findet sich eine Packung Grieß, der Karton ist ein wenig verblichen, die darauf abgebildeten Nockerl in klarer Brühe sehen gräulich aus. Kerstin blickt auf das Ablaufdatum; der Grieß läuft im nächsten Monat ab. Sie nimmt ihn mit zu ihrem Tisch und verpasst ihm ein rotes Etikett und stellt ihn in die große Kiste mit der reduzierten Ware. Da liegt er bis zu seinem Ablauftag und Kerstin wirft ihn weg. Am selben Tag fährt sie auf Einkaufstour in den großen Supermarkt in der Stadt. Er ist gerade neu gemacht und vergrößert worden; alles glänzt und die gläsernen Türen der Kühlschränke öffnen sich automatisch, wenn man sie antippt, und schließen sich wieder von selbst. Kerstin denkt, dass die alten Leute sich hier doch kaum noch zurechtfinden können; dasselbe hat sie dem Journalisten gesagt.

Der Kuskus steht in der Ecke für ausländische Lebensmittel. Auf den Verpackungen mancher Marken reiten Männer auf Kamelen unter Palmen in eine Wüstenlandschaft hinein. Kerstin studiert die Zutatenliste, auf der nur Hartweizengrieß steht, und geht weiter. Der richtige Grieß ist wie immer beim Mehl; die fotografierten Nockerl sehen gelb und appetitlich aus und sind mit gehackter Petersilie garniert. Kerstin nimmt zweimal Grieß und schiebt den Wagen an die Kasse. Die Schlange ist sehr lang, an allen Schaltern stehen die Leute weit in den Gang hinein und lange geht es nicht vorwärts. Kerstin sieht auf ihre Grießpackungen und denkt an den Kuskus. An Kasse eins hat die junge Frau hinter der Kasse ein technisches Problem und die Kollegen von Kasse zwei und drei unterbrechen ihre Arbeit, um ihr bei der Lösung zu helfen. In den Schlangen seufzt man. Kerstin seufzt und kaut an ihrem Daumennagel. Verstehen Sie sich als Unternehmerin?, hat der Journalist gefragt. Da hat sie gezögert und dann Ja gesagt. Im Artikel ist davon nicht mehr die Rede gewesen. Unternehmerin-Sein heißt natürlich: mit der Zeit zu gehen. Aber es heißt doch auch: auf Bewährtes setzen.

Grießnockerlsuppe, das gab es zu ihrer Konfirmation, vor dem Braten. Manfred, glaubt sie, hat gerne Grießnockerlsuppe gegessen, aber vielleicht irrt sie sich. Ihr fällt ein, dass sie niemanden fragen kann, ob sie sich richtig oder falsch erinnert, weil da niemand ist, der sich besser daran erinnern könnte als sie oder sich überhaupt noch an Manfred erinnert.

Es ist zu warm in dem Supermarkt und aus den Lautsprechern kommt zum sechsten Mal dieselbe Werbesingle, und weil sie alles in diesem Moment lieber täte, als auf ihren schweren Beinen zu stehen und auf diese Petersiliensprenkel auf den Grießpackungen zu blicken, lässt Kersten ihren Wagen in der Schlange stehen, die sich ja ohnehin nicht vorwärtsbewegt, und geht zum Regal für ausländische Lebensmittel. Wir öffnen Kasse fünf für Sie, heißt es da plötzlich aus den Lautsprechern und also wird nun Bewegung in die Schlangen kommen; Kerstin greift dreimal Kuskus und dann ist sie zurück bei ihrem Wagen, der natürlich schon beiseite geschoben worden ist; sie schwitzt und stößt ihn mit ihrem Körper nach vorne, in das kakophone Kassen-Piepen.

In ihrem Laden ist es still und kühl. Sie räumt ein, den Kuskus als letztes; sie stellt ihn neben die Nudeln. Drei Packungen, sonnengelb, mit buntbemaltem Tontopf darauf. Sehr ordentlich, sehr leuchtend stehen sie da und werden für viele Wochen von niemandem bemerkt.

 

Carlotta Voß

 

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